Montag, 3. Dezember 2007

Ist das normal?

Fänden Sie es normal, an einem Tisch mit einem überführten Massenmörder zu sitzen, anstatt ihn aus dem Haus zu werfen und ihn der Polizei auszuliefern? Natürlich nicht.

Fänden Sie es empörend, wenn die Nachfahren der Opfer immer wieder auf die nichtbestraften Täter zeigen und Bestrafung und Restitution verlangen, anstatt endlich Ruhe zu geben und die Hand zur Versöhnung auszustrecken? Natürlich nicht.

Beides ist in unserem Land jedoch normal. Hier nur ein aktuelles Beispiel, stellvertretend für viele:

Anlässlich einer Demonstration von „Antifaschistischen Gruppen“, die am Samstag vor die Haustüren zweier in Italien des Massenmords überführten deutschen Männer gezogen waren, titelt die taz heute: Die netten Opas bekommen Besuch.

„Gerhard S. war Untersturmführer der 16. SS-Division „Reichsführer SS“. Er wurde 2005 zusammen mit neun weiteren Angeklagten von dem italienischen Militärgericht La Spezia des „fortgesetzten Mordes mit besonderer Grausamkeit“ schuldig gesprochen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass S. an der Tötung von 560 Einwohnern des Bergdorfes Sant’Anna di Stazzema am 12 August 1944 beteiligt war. Ein Revisionsantrag wurde abgelehnt. Der 86-Jährige lebt heute in einer Seniorenresidenz in Hamburg. Er behauptet bis heute, bei dem Massaker nicht dabei gewesen zu sein.“

Italienisches Fehlurteil? „Siegerjustiz?“ Wahrscheinlich bloß, um wieder Geld aus Deutschland rauszuleiern???? Hm.

Weiter in der taz: „Knapp zwei Monate nach dem Massaker in Civitella fiel die 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“, deren 4. Kompanie S. anführte in Sant’Anna di Stazzema ein. Binnen vier Stunden hatte die SS 440 Männer und Frauen sowie 120 Kinder erschlagen, erschossen oder verbrannt...“
„S. selbst beteuert bis heute seine Unschuld, sagt, er habe ein ‚absolut reines Gewissen‘... Auch die juristischen Ermittlungen gegen S. treten auf der Stelle. ‚Kein neuer Stand‘, sagt eine Sprecherin der für den ‚Komplex St’Anna‘ zuständigen Staatsanwaltschaft Stuttgart. Seit 2002 ermittelt sie gegen 15 Personen. ‚Wir müssen dem einzelnen die Tatmerkmale Mord nachweisen – objektiv und subjektiv‘“

Aha, jedem einzelnen einer Mordtruppe. Nur dabeigewesen, sogar Kommandeur einer Untereinheit gewesen zu sein, reicht nicht.

Die deutsche Regierung hatte sich gleich nach Gründung der Bundesrepublik sehr darum bemüht, eine schnelle Generalamnestie der Täter zu erreichen. Ganz so einfach ging es zwar nicht. Trotzdem war es überhaupt nicht selbstverständlich, daß 1965 endlich nach jahrelangem Kampf der Befürworter der Täterbestrafung mit einer bedeutenden Anzahl von Gegenstimmen (vorwiegend aus der CDU) im Bundestag das Gesetz zur Nichtverjährbarkeit von NS-Verbrechen verabschiedet werden konnte, das die lebenslange Strafverfolgung von NS-Tätern ermöglichte. Gebunden ist die Strafverfolgung jedoch an die „Tatmerkmale Mord“ – und das meint vor allem: „aus niederen Beweggründen“. Selbst wenn die direkte Beteiligung nachgewiesen ist, so sind häufig bei den Nazitätern eben keine „niederen Beweggründe“ nachzuweisen – oder jedenfalls fällt es der deutschen Justiz immens schwer. Mord liegt nämlich nur vor, wenn aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder anderen niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, getötet wurde. Tja, aber weisen Sie mal eines dieser Motive nach in einer Truppe von Kriegern!

Weiter in der taz: „Enio Mancini vom ‚Verein der Opfer von St’Anna‘ weist die Behauptung, eine konkrete Tatbeteiligung von S. sei nicht nachweisbar, zurück. Das habe sich während des italienischen Gerichtsverfahrens herausgestellt. Gegenüber den Alliierten hatten Angehörige seiner Kompanie bezeugt, S. habe den Schießbefehl erteilt ...“
Alles das reicht für die deutsche Justiz nicht.

Die VVN/BdA NRW fragte in Stuttgart an. Sie bekam folgende Antwort:

Für eine Anklageerhebung reicht die Beweislage bislang vorbehaltlich möglicher weiterer Erkenntnisse bei keinem der Beschuldigten [15 noch lebende Angehörige der Einheit] aus. Ein Verbrechen des Totschlags wäre nach deutschem Recht seit langem verjährt. Deshalb kann die Staatsanwaltschaft die Täter ausschließlich wegen Mordes oder wegen Beihilfe zum Mord verfolgen. Eine entsprechende Verurteilung setzt aber nach den Regelungen des deutschen Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung voraus, dass jedem Beschuldigten über seine konkrete Beteiligung an der Tat hinaus auch ein Mordmerkmal nachgewiesen werden kann. Allein die Zugehörigkeit einer Person zu den in Sant'Anna di Stazzema eingesetzten Einheiten der Waffen SS kann den individuellen Schuldnachweis nicht ersetzen. Nach deutschem Recht muss in Bezug auf jeden einzelnen Beschuldigten festgestellt und belegt werden, dass und in welcher Form er bei dem Massaker beteiligt war und dass er persönlich, sowohl objektiv wie subjektiv, entweder grausam oder mit niedrigen Beweggründen gehandelt hat.“

Was bedeutet denn dabei "subjektiv" im Gegensatz zu "objektiv"? Daß er sich selbst als grausam oder niedrigbeweggründet erlebt haben muß?

Also war es wohl wieder keiner gewesen – es war bloß wieder das Kollektiv insgesamt. Keine Einzeltäter, keine Schuld, keine Verurteilung, keine Bestrafung.

Und dann mal ganz abgesehen von der hochoffiziellen Verweigerung von Restitution an den Opfern des Massakers ... in Distomo etwa, um wieder nur ein Beispiel von vielen zu nennen.

Sehen Sie, und daß da irgendetwas faul daran ist, daß da mit so überaus rechtstaatlichen Mitteln immer noch eine alte Kumpanei spürbar wird, die Kumpanei mit den Massenmördern als Individuen, während andererseits eben jenes Morden allgemein immerfort öffentlich laut verurteilt, und dessen Opfer insgesamt und als Kollektiv ständig ritualisiert von den Repräsentanten der Täternachfahrengesellschaft „betrauert“ werden, das finde ich einfach nicht normal. Und neben unbestraften Tätern einherlebend werden wir hier auch nicht normal. Und wenn der letzte unbestraft unter uns lebende Täter in hohem Alter beim Heckenschneiden im Garten seines Reihenhauses - sagen wir beispielsweise in Bielefeld -, bezahlt mit seiner Kriegerpension, oder wenn er bei der Waffen-SS gewesen, mit Spendenmitteln der HIAG, endlich von der Leiter gefallen ist, dann haben wir auch gar keine Chance mehr, wenigstens am letzten lebenden Fall noch etwas in Ordnung zu bringen. Dann haben wir die letzte Chance vertan, normal zu werden.
Solche bösen Gedanken kommen mir immer, wenn ich durch den momumentalen most exciting tourist sightseeing point of the Hauptstadt gehe.
Bild: Ivan Montero / fotolia

shift.

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