Montag, 21. Januar 2008

Bewertung in der Schule – zweierlei Empfindlichkeit

Ich beziehe einen Newsletter für alles, was mit Bildungspolitik und Schulentwicklung zu tun hat, der mir – manchmal sogar mehrmals – täglich interessante Nachrichten, Artikel und Kommentare aus den Medien und anderen Informationsquellen auswählt und z.T. kommentiert zumailt. Herausgeber dieses "Bildungs-Infos" ist Prof. Georg Lind, der v.a. mit seinem Buch Moral ist lehrbar bekannt geworden ist. Diesen Newsletter kann ich allen Bildungsarbeitern wärmstens empfehlen – er ist zu beziehen unter
georg.lind(at)uni-konstanz(punkt)de
Heute erreichten mich mit diesem Bildungsinfo unter anderem zwei Artikel, die beide mit dem Thema "Bewertung in der Schule" zu tun haben – jedoch aus entgegensetzten Perspektiven.

Beim ersten Artikel geht es um spickmich.de, wo Lehrer von ihren Schülern bewertet werden können. Einhellig sind sich offenbar fast alle Erwachsenen in der Ablehnung dieser Art von Feedback an die Lehrer. Auch Georg Lind findet in seinem Kommentar, dass hier die Lehrer "an den Pranger gestellt" werden, obwohl im Artikel der fr-online ja gerade herausgestellt wurde, dass 65 % der bewerteten Lehrer auf die Note 1 oder 2 kommen und die Durchschnittsbewertung bei 2,7 liegt – was kaum dafür spricht, dass es sich hier um einen Pranger handelt. Natürlich ist die Bewertung bei spickmich.de nicht das ausgeklügeltste Feedbacksystem zur Verbesserung der Unterrichtsqualität, das man sich wünschen kann. Es gibt bessere, z.B. das von Lind vorgeschlagene ITSE-Selbstevaluationsprogramm oder das von der Berliner Schülerfirma ONO-Systems entwickelte digitale Feedbacksystem, ganz zu schweigen von der bisher einmaligen differenziertesten Rückmeldekultur des finnischen Schulwesens, in dem Schüler hunderte von Feedbackfragen beantworten und an ein eigenes Evaluationsministerium melden, bspw. auch die wiederkehrende, höchst interessante Frage: "Hat sich nach Deiner Kritik aus dem letzten Schuljahr etwas verbessert ?", eine Frage, von der unsere nichtvorhandene Feedbackkultur selbstredend noch Lichtjahre entfernt ist. Einerseits setzt sie nämlich ein etabliertes System der Rückmeldung voraus. Andererseits ist ein Rückmeldesystem erst dann wirklich in der Lage, Verbesserungen zu generieren, wenn es bei dieser Frage angekommen ist, weil erst dann die Nachhaltigkeit der Wirkung gesichert ist. Das finnische Feedbacksystem hat sich als so effizient erwiesen, dass man in Finnland vor ein paar Jahren die Schulinspektion als überflüssig und kontraproduktiv abschaffen konnte.

"Marianne Demmer von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft urteilt: "Spickmich halte ich als Rückmeldungskanal zur Verbesserung des Unterrichts für nicht geeignet." Zwar sei es schade, dass viele Lehrer sich die Chancen der Bewertung entgehen ließen. Schließlich sei die Möglichkeit, auf Lob und Kritik gemeinsam mit der Klasse einzugehen, für den Erfolg des Unterrichts ganz elementar. Bloß im Internet sei dieses Instrument schlecht aufgehoben," zitiert der Artikel der FR.

"Das Internet bietet tatsächlich heute eine gute und kostengünstige Möglichkeit, feedbacks zur Verbesserung des Unterrichts einzusetzen. Das spektakuläre, jedoch ziemlich nutzlose "spickmich" muss es aber nicht sein", befindet Georg Lind in seinem Kommentar.

Im Gegenteil! Spektakulär muss es sein. Und im Internet muss es sein. Und es ist alles andere als nutzlos! spickmich.de ist ein weiteres Beispiel dafür, dass notwendige Demokratisierungs-Entwicklungen in den gesellschaftlichen Institutionen durch das Internet angestoßen werden. Denn nur durch die Erkenntnis, dass auch Lehrer dank Internet einer veröffentlichten Bewertung ihrer Arbeit gar nicht entgehen können, ist die deutsche Schule zukünftig gezwungen, Schülerfeedback-Systeme zur Kontrolle von Lehrerqualität einzuführen. spickmich.de hat also eine wichtige Funktion für die Schulentwicklung. Und dass es funktioniert, wird ja gerade an der aufgeregten Diskussion über spickmich.de sichtbar.

Der zweite Artikel, den ich über Georg Linds Bildungsinfo heute zu lesen bekam, betrifft die neu eingeführten Kopfnoten in NRW zum Arbeits- und Sozialverhalten der Schüler. Er passt wie die Faust aufs Auge: 6 zusätzliche Zensuren zwischen "sehr gut" und "ausreichend" erhalten die Schüler ab dem aktuellen Halbjahreszeugnis über Verantwortungsbereitschaft, Konfliktverhalten, Kooperationsfähigkeit, Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Sorgfalt sowie Selbstständigkeit. Und auch hier ist die Ablehnungsfront der Erwachsenen (Lehrer, Eltern, Bildungsexperten) groß. Worüber ist man aber empört? Nicht darüber, dass bewertet wird, sondern darüber, dass die Bewertung in Form von Zensuren vorgenommen wird. Denn schriftliche Bemerkungen zum Arbeits- und Sozialverhalten als Bestandteil der Zeugnisse neben den Leistungsnoten ist schon bisher immer üblich gewesen, seit die Fleiß- und Betragensnoten in den 70er Jahren abgeschafft wurden. Da konnte man – häufig getarnt als fürsorgliche Beratung - solche Beurteilungen lesen wie z.B. "Lieber A., dieses Halbjahr hast du dir zwar mehr Mühe gegeben, deine Mitschüler nicht dauernd zu piesacken und beim Lernen zu stören, es gelingt dir aber immer noch nicht, dich zurückzunehmen, besonders, wenn du dich ungerecht behandelt fühlst." Oder: "Liebe B., du machst deine Hausaufgaben nicht regelmäßig und nicht sorgfältig genug." Oder: "Du musst lernen, dich besser an die schulischen Anforderungen anzupassen und mehr Rücksicht auf deine Mitschüler zu nehmen."

Ist das etwa kein Pranger?

Ich habe selbst viele Jahre lang solche Zeugnisbemerkungen geschrieben oder abgenickt, und ich weiß sehr gut, wie situationsabhängig solche Zuschreibungen sind, wie zufällig und subjektiv die Wahrnehmung des Lehrers ist, die solche Beurteilungen unter Zeitdruck in formelhafte Sätze gießt.

Wir wissen, was es heißt, solche Sätze in einem Zeugnis stehen zu haben, mit dem man sich um einen Ausbildungsplatz bewerben muss. Ein Schülerzeugnis ist nicht in erster Linie ein Lernberatungsinstrument – wenn überhaupt. Es ist vor allem ein Disziplinierungsinstrument, weil schulisches Lernen bei uns statt auf Lernbedürfnisse und Eigenmotivation der Lernenden auf Forderungen, Bestrafung und Belohnung durch die Lehrenden setzt. Und Zeugnisse sind gleichzeitig Zertifikate, Zulassungsberechtigungen für die Fortsetzung der Bildungskarriere.

Demgegenüber scheint mir die (auch noch juristische) Klage von Lehrern, die vielleicht ein paar kritische Bewertungen bei spickmich.de hinnehmen müssen, die für sie außer dem Peinlichkeitsgefühl keine weiteren Folgen haben, lächerlich. Wahrscheinlich kommt der Lehrer durch eine schlechte Bewertung bei spickmich.de nicht gerade dazu, seinen Unterricht zu verbessern. Es ist auch nicht zu erwarten, dass er anlässlich der eigenen Beschämung mehr Empathie für seine Schüler aufbrächte, die er täglich kritisiert, bewertet, beurteilt und beschämt. Aber dass bei der Bewertung von Leistungen und Persönlichkeiten in der Schule mit zweierlei Maß gemessen, und dieses Mißverhältnis zur öffentlichen Diskussion geworden ist, das ist auch ein Verdienst von spickmich.de.
Bild: Ivan Montero / fotolia

shift.

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