Lars Becker (Gast) - 17. Jul, 05:52

Man muss keine Begabungsdebatten führen um die Reform zu rechtfertigen.

Diese Darstellung ist mir zu einseitig und ist m.E. nicht zielführend. Natürlich kann heute niemand, der sich ein wenig auskennt, ernsthaft für ein rein biologistisches Begabungsmodell argumentieren. Aber umgekehrt nahezulegen, die Nature vs Nurture-Debatte wäre rein zu Gunsten der Umwelteinflüsse entschieden, ist fast ebenso naiv. Die Nature vs Nurture-Debatte im Kontext der Schulsystemdebatte bringt kein bißchen Klärung.

Denn sie ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass in unserem System in hohem Maße fehlselektiert wird, da Schüler mit *gleichen* *Kompetenzen* (unabhängig von der Frage. ob diese angeboren oder erworben sind) je nach Herkunft unterschiedlich selektiert werden. Dies schafft ein massives Gerechtigkeitsproblem, da höhere Abschlüsse bessere Zukunftschancen bedeuten. Dieses Gerechtigkeitsproblem bestünde auch dann wenn "Begabung" rein biologisch determiniert wäre.

Insofern muss man auch nicht Deiner Meinung sein, dass die Gymnasien "agonieröchelnd" am Leben gehalten werden müssten (ich meine, das ist nicht der Fall) um in zum gleichen Schluss zu gelangen. Denn die primäre Rechtfertigung für die Reform ist mithin nicht der Zustand "des Gymnasiums" oder die Antwort auf Frage woher "Begabung" kommt, sondern ungerechte Verhältnisse, die zu beseitigen originäre Aufgabe der Politik ist.

In diesem Punkt und in der Konsequenz bin ich dann wieder ganz bei Dir.

Lisa Rosa - 17. Jul, 10:22

Hallo Lars, Du hast Recht, die Anlage-Umwelt-Frage ist völlig überholt, so sehe ich das auch. Sie spielt jedoch trotzdem eine Rolle, wenn es um das Lernen des Lernens geht, das im Vollzug des Lernens als Fähigkeit überhaupt erst erworben wird. Was meinst Du denn mit "rein biologistisch"? Plädierst Du dann für "ein bisschen biologistisch"?
Ich stimme nicht mit Dir überein, dass es nur um die Beseitigung von "Fehlselektierung" ginge. Denn damit bestätigt man doch, dass Selektierung erforderlich sei, sie nur anders oder "zielführender" durchgeführt werden müsse. Das bestreite ich ganz entschieden. Ich denke, dass das geoutete "Positivbeispiel" von Ole und anderen ja gerade zeigt, dass, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas nicht kann, es immer noch lernen kann - und zwar, wie wir wissen, bis zum Ende des Lebens. Dies spricht ja gegen Selektion überhaupt! Natürlich zeigt es zunächst, dass die Herkunft und nicht die Leistung Selektionskriterium ist. Es zeigt jedoch noch mehr: Wenn Lernen und Leistungsfähigkeit ein Prozess ist und der jeweilige Leistungsstand quasi ein Stillbild der Realisierung der Potenzialitäten zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellt, dann gibt es überhaupt keinen Grund für Selektion als Mittel der Eintütung in bestimmte allgemeinbildende Lerninstitutionen. Auf der Ebene der Erwachsenenbildung im dritten Bildungssektor hat das z.B. zur Einrichtung der HWP in HH geführt.
Ein "Negativbeispiel" - also ein biografisches Beispiel dafür, dass trotz höchster Leistungen nach Herkunft (sozial und ethnisch) aussortiert wird, zeigt mein Interview mit Manuel http://lisarosa.twoday.net/stories/5455956/ , mit einem Schüler, der in der Sonderschule landete, obwohl er später zeigen konnte, dass er zu "Höchstleistungen" (Bestenabitur, Einser-Diplom) fähig ist. Dieses Beispiel ist nicht nur ein Beispiel für "Fehlselektion", sondern dafür, dass Selektion überhaupt die Entwicklungs-, Lern- und Leistungs-Potenzialitäten eines großen Teils unserer Menschen völlig brach liegen lässt. Selektion statt bestmöglicher Förderung aller ist in erster Linie der Grund dafür, dass wir im Gegensatz zu Finnland (76%) bloß 37% Studierende eines Jahrgangs kriegen.
Meine wichtigsten Argumente gegen das selektierende Bildungswesen liegen nicht auf der Ebene der Gerechtigkeit - obwohl ich natürlich auch die krasse Ungerechtigkeit beklage - sondern vielmehr auf der Ebene des Verlusts von menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten überhaupt. Unsere Gesellschaft mit den Problemen, die sie zu wuppen hat, ist - nicht anders als die finnische Gesellschaft! - darauf angewiesen, jeden Einzelnen als potenziellen "Leistungsträger" zu sehen und den Schatz dieser Potenzialitäten zu heben. Das kann sie jedoch mit Selektion - unabhängig davon, wie früh, und unabhängig davon, nach welchen Kriterien - generell nicht.
Lars Becker (Gast) - 17. Jul, 19:06

Liebe Lisa,

das Wörtchen "rein" war zu viel. Ich plädiere ebenso wenig für ein biologistisches Model, wie für irgendwelche anderen Ismen. Viel mehr ging es mir darum, darauf hinzuweisen, dass der menschliche Geist, weder "unbeschrieben auf die Welt kommt" noch grenzenlos lernfähig ist. Über potentielle Lernerfolge, Kompetenzen und kognitive Fähigkeiten entscheiden durchaus auch Parameter, die man als biologische bezeichnen könnte und die durchaus limitierend sind. Ich halte deshalb überhaupt nichts davon, wenn man an dualistischen Weltbildern und dem Dogma, dass jeder Mensch, adequate Förderung vorausgesetzt, "beliebig" qualifizierbar sei, festhält.

Zur Frage der Selektion: ich schließe mich Dir an. Sie ist, zumindest im Rahmen allgemeinbildender Schulen, nicht notwendig. Das ich meinen Fokus dennoch so stark auf sie richte, liegt einzig daran, dass ich der Auffassung bin, dass dieses eklatante Gerechtigkeitsproblem von jedem ernst genommen werden müsste, selbst dann wenn er die Annahme, dass eine Selektion nicht nötig sei, nicht teilt.

Last but not least sei angemerkt, dass mein Hauptproblem mit der Selektion nicht der erschwerte Zugang zu weiteren Schuljahren ist (die nicht der alleine Raum für "menschliche Entwicklungsmöglichkeiten" sind), sondern vor allem, dass die verwehrten Zertifikate, hierzulande den Hochschulzugang sehr erschweren.

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