Mittwoch, 13. September 2006

Wissensgesellschaft

Aus dem OECD-Bildungsbericht (herunterzuladen von der GEW-Seite) geht noch etwas hervor:
In Deutschland ist der Computer noch nicht wirklich in der Schule angekommen. Demgegenüber zeigt die Studie jedoch, dass Schüler, die mit dem Computer umgehen können, deutlich bessere Schulleistungen erbringen als solche ohne Computerkenntnisse.

Aus dem Wortlaut der Kurzfassung des Berichts:

Nutzung neuer Medien
· 15-jährige Schülerinnen und Schüler in Deutschland sind im Umgang mit Computern generell erfahren und trauen sich hier viel zu, der Zugang zu Computern und ihre Nutzung sind im Gegensatz zu vielen anderen Staaten in der Schule jedoch deutlich begrenzter als zu Hause (Tabelle D5.3). Indessen sehen die Schulleitungen in Deutschland darin in der Regel kein Problem für den Unterricht, was bedeuten könnte, dass Computer an deutschen Schulen zwar effektiv eingesetzt werden, nicht aber als zentraler Bestandteil des Unterrichts gelten, oder sich die Schulleitungen des Potenzials der Computer für Lehren und Lernen nicht so bewusst sind, wie dies in anderen Ländern der Fall ist (Tabelle D5.2).
· In Deutschland schneiden 15-Jährige, die im Umgang mit Computern versiert sind, in wichtigen Schulfächern im Allgemeinen besser ab als ihre Mitschüler, die diesbezüglich wenig Erfahrung bzw. mangelndes Selbstvertrauen in ihre Fertigkeiten im Umgang mit grundlegenden Computerfunktionen haben. Dieser Vorteil scheint in Deutschland ausgeprägter zu sein als im OECD-Durchschnitt und hat auch dann noch Bestand, wenn sozioökonomische Hintergrundfaktoren berücksichtigt werden (Box D5.1).

Je später die Umkehr,

desto schwieriger wird der Weg und desto höher der Preis, der dann zu zahlen ist. Das weiß jeder, der aus Angst vor dem Bohrer den Zahnarzt meidet und dann, wenn Schnaps, Beten und Ignorieren wieder mal nicht geholfen haben, von den unerträglichen Schmerzen am Ende doch dorthin getrieben wird, wo er erfahren muß, daß der Zahn nur noch gezogen werden kann.

Global verfährt man nach diesem Muster mit der Klimakatastrophe.
Deutschland verfährt so mit seinem Bildungssystem.

Andreas Schleicher - Koordinator der OECD-PISA-Studie - hatte schon 2002 tiefgreifende Reformen gefordert, um die 15-Jahre-Rückständigkeit des deutschen Bildungswesens aufzuholen. Die Ergebnisse der PISA-Studie liegen seit dem Jahr 2000 vor. "Schnaps, Gebet und Ignoranz" hat es seither reichlich gegeben, aber keinen echten Schritt in die Erneuerung. Die nichtdeutsche Welt hat inzwischen vorgemacht, wie der Weg zum "Zahnarzt", sprich zur Rekonstruktion des Bildungswesens geht, nur in Deutschland ist die Bildungspolitik hartnäckig beratungsresistent gewesen und hat seit dem erschreckenden Befund der Rückständigkeit viele wertvolle Jahre verloren mit Schildbürgerstreichen und Handwerkelei in Sachen Schulentwicklung.

Der OECD-Bildungsbericht 2006 offenbart: Beim Anteil der Hoch- und Fachhochschulabsolventen pro Jahrgang hat Deutschland nur 20,6 % Absolventen eines Jahrgangs, der OECD-Durchschnitt liegt bei 34,8%. In Island haben 50%, in Finnland 47%, in Polen 44,8% eines Jahrgangs einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss. Niedrigere Werte als Deutschland findet man nur noch in Tschechien (19,7%), Österreich (19,6%) und der Türkei (10,6%). Deutschland liegt damit so gut wie am Ende einer Liste von 25 der 30 OECD-Staaten, in denen diese Werte erhoben wurden. Trotzdem scheint das Bundesministerium für Bildung mit der Entwicklung zufrieden zu sein: "Die Absolventenquote der Hochschulen in Deutschland hat sich kontinuierlich verbessert." (Die Auswertung in der Kurzfassung durch die OECD und die Interpretation des Bundesministeriums unterscheiden sich erheblich.)

Andreas Schleicher bringt laut Taz-Bericht "Letzte Reserve an die Unis" vom 13. 9. den Befund ungeschönt auf den Punkt:

"Es reiche nicht, an Details eines Bildungssystems herumzuschrauben, das aus dem 19. Jahrhundert stammt. 'Man muss sich fragen, ob man auf die grundlegend neuen Herausforderungen der Wissensgesellschaft reagieren möchte - oder nicht.'"

Offenbar hat man sich längst gefragt - und möchte nicht. Die Schmerzen sind wohl noch nicht stark genug, um schon den Arzt aufzusuchen - zumindest nicht bei denen, die die Entscheidungen treffen.
Laut Schleicher hilft jetzt nur noch die Radikalkur: Öffnung der Hochschulen für alle - auch ohne Abitur.
Daß man "kostenneutral" keine tiefgreifenden Reformen bewerkstelligen kann, um in Jahrzehnten Versäumtes in Ordnung zu bringen, war den Akteuren vor Ort in den Schulen immer klar. Dass man bei volleren Klassen und Arbeitszeiterhöhung für die Lehrer weder den Unterricht verbessern noch die individuelle Förderung steigern kann, liegt auf der Hand und wird doch bis heute offiziell immer wieder bestritten.
Nun stellt der neue Bildungsbericht der OECD aber auch fest, dass seit 1998 die OECD-Staaten ihre Bildungsausgaben im Schnitt um 46% gesteigert haben - Deutschland aber nur um 14%. Toll gespart! Hamburg ist stolz darauf, daß es kürzlich ein Benchmarking unter den "Nordländern" in Punkto Kosten der Lehrerausbildung gewonnen hat: Hamburg hat die billigste Lehrerausbildung! Bravo! Wir sind Pokal! Zwar hat Hamburg schon gut 20% funktionale Analphabeten unter den 15-Jährigen - macht nichts, dafür war die Schule billig.

Alle am Bildungssystem Beteiligten wissen: "Der Zahn" ist schon durch und durch faul. Aber den Politikern zu unterstellen, dass sie die Bildung absichtlich vor die Wand fahren würden, wäre absurd. Woran also liegt es, dass Deutschland die längst überfällige Umsteuerung zur Neustrukturierung nicht zustande kriegt?
Eine mögliche Antwort findet man mit den Mitteln der Systemtheorie, die der Theorie des "Rationalen Handelns" zu Recht widerspricht:

Es sind die Selbstreferenz und die operative Geschlossenheit von Systemen, "die bewirken, dass sie sich erstaunlich häufig zugrunde richten, obwohl dies nicht im Interesse ihrer Mitglieder liegt (... ), obwohl Warnsignale in der Umwelt in Hülle und Fülle vorliegen, obwohl andere [Systeme] in ähnlichen Situationen anders handeln, obwohl einzelne Personen oder Gruppen innerhalb [des Systems] das Verhängnis kommen sehen und dagegen angehen. (...) Was hier wirkt, ist die Operationslogik des Systems, eingefroren in seine anonymisierten Regelsysteme und seine institutionalisierte kollektive Identität, die häufig genug selbst bei Strafe hoher Verluste oder gar des Untergangs des Systems verhindern, dass sich in den Handlungsmöglichkeiten der Mitglieder etwas ändert."
Helmut Willke

Die Systemtheorie nennt das "pathologisches Lernen".
Irgendwie, scheint mir, hat man hierzulande einen Hang dazu.
Bild: Ivan Montero / fotolia

shift.

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