Die Gegenwart der Vergangenheit

Dienstag, 3. Februar 2009

Täterforschung und Geschichtsunterricht

Perpetrator Research in a Global Context/(Täterforschung im globalen Kontext) hieß die zweite internationale Tagung zur Holocaustforschung vom 27. – 29. Januar 09 in Berlin. Gemeinsam ausgerichtet vom Holocaust Research Centre der University of London, der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, bot die Tagung für über 400 Teilnehmer die "Crème" der deutschen und angelsächsischen Akteure in der Täterforschung. Obwohl die Tagung sich gleichermaßen an Wissenschaftler, Journalisten und Pädagogen gerichtet hatte, waren leider nur wenige Lehrer der Einladung gefolgt. Dass der gesamte zweite Tag der Konferenz den Fragen padägogischer Vermittlung gewidmet war, hatte man jedoch schon dem Programm vorab in der Einladung entnehmen können.

In den 12 Vorträgen des ersten Konferenztages wurde eine Vielzahl von Aspekten der vergleichenden Täterforschung erörtert. Gemeinsam stand hinter jedem Ansatz und jedem empirischen Material jedoch die Frage: "Wie konnten aus "ganz normalen" Menschen Mörder und Massenmörder werden?" Insgesamt erhielt man aus der Zusammenschau der immer reichlich mit Empirie unterfütterten Erklärungsansätze einen guten Überblick über den Stand der Forschung. Dabei zeigte sich, dass die historische und sozialwissenschaftliche Forschung diese Frage schon erstaunlich differenziert und multikausal beantworten kann. Die Forschungsergebnisse standen damit dem Diktum des Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble, der in seiner Einführungsrede erklärt hatte, diese Taten seien desto unbegreiflicher, je mehr man sich mit ihnen beschäftige, diametral entgegen.

Im Panel "The Path Leading from Research to Citizenship Education: Transfer of Knowledge and General Aspects" standen Fragen der Erziehung und Bildung zur Debatte, vorwiegend fokussiert auf die Einbeziehung der neuen Ergebnisse der Täterforschung. Wiederholt wurde – auch in den Workshops – deutlich, dass die Frage nach den Faktoren, die Menschen zu Tätern werden ließen, eine für Schüler (und für alle Menschen) zentrale Frage ist, die jedoch im Geschichtsunterricht aus verschiedenen Gründen bisher meist unbeantwortet bleibt – wenn ihr denn überhaupt Gelegenheit gegeben wird, sich zu artikulieren. Der Schulunterricht über den Holocaust bewegt sich immer noch meist in Überwältigungsstrategien unterschiedlichster Art – sei es emotionale, moralische oder kognitive Überwältigung. Dies wurde insbesondere in der Studie von Simone A. Schweber (University of Wisconsin) sichtbar, die die unterschiedlichsten Unterrichtszenarien in den Vereinigten Staaten untersucht hatte. "The students are treated with Holocaust", lautete Schwebers Befund, der ebenso für den Unterricht in Deutschland gilt: Nirgendwo wird der Beutelsbacher Konsens so systematisch und immer noch weitgehend unhinterfragt verletzt wie im Unterricht über das Thema Holocaust. Die Täter und die Frage, "wie sie es geworden sind", als Untersuchungsgegenstand im Unterricht zu etablieren – und zwar ohne sich dabei einer Überwältigungsstrategie zu bedienen, wie es etwa in Rollenspielen geschieht! – ist ganz sicher ein notwendiger und wichtiger Schritt, um die Ergebnisse des Geschichtslernens zu verbessern.

Leider blieb es jedoch auch in den Workshops in der Regel dabei, neues Unterrichtsmaterial vorzustellen. Es stellte sich dabei erneut heraus, dass es weniger an Material fehlt (Quellenmaterial ist in großen Mengen u.a. im Netz zu finden, Material zur "zweiten Geschichte" des Holocaust gibt es praktisch jeden Tag im Kino, in der Zeitung, auf dem Schulhof ...). Die eigentliche Frage besteht darin: "Wie damit unterrichten?" Wo überhaupt thematisiert wurde, wie mit diesem Material im Unterricht umgegangen werden müsste, zeigte sich, dass man hinsichtlich der sogenannten "didaktisch-methodischen Umsetzung" immer noch in der nicht bewährten Vermittlungsstrategie denkt, die den Schülern die Aufgaben und Fragen vorgibt, mit denen sie den historischen Gegenstand erschließen sollen, und in der außerdem Ziele und Ergebnisse des Lernens im Voraus festgelegt werden. Nur sehr vereinzelt wurde von Teilnehmern geäußert, dass Lernen die gegenwärtige Beziehung des Lernenden zum Gegenstand einschließen müsse und Geschichtsunterricht weder vermeintlich objektive Rekonstruktion von Vergangenheit, noch der Stofflieferant von worst cases zur Moralerziehung sein könne.

Bei der Präsentation der Graphic novel "Die Suche" – ein extra für Unterrichtszwecke hergestelltes Comic-Artefakt mit dazugehörigen Schülerarbeitsbögen, herausgegeben vom Anne-Frank-House Amsterdam – stellte sich die Frage, wozu ein solches pädagogisches Konstrukt im Tim & Struppi-Stil extra entwickelt werden müsse, wo es doch gerade zu diesem Thema schon ein echtes, einmalig schönes Kunstwerk gibt: den Pulitzer-preisgekrönten zweiteiligen Holocaust-Comic von Art Spiegelman "Maus" . Er eignet sich meiner Erfahrung nach hervorragend für Jugendliche und Erwachsene, um dekonstruierend eine Fülle von Fragen an den Gegenstand und an das eigene Verhältnis zum Gegenstand zu generieren, im Gespräch zu kommunizieren und anschließend eigene Forschungsfragen zur Rekonstruktion in Geschichtsnarrativen zu bilden. Im Übrigen halte ich ihn für eines der Kunstwerke, die in einen Kanon der Allgemeinbildung gehörten, wenn ich mich entscheiden könnte, solche für sinnvoll zu halten. Auf die Gegenwartsperspektive eines Sohnes von Holocaust-Überlebenden ("Mein Vater kotzt Geschichte aus") im ersten Band von "MAUS" folgt eine Rekonstruktion der Verfolgungsgeschichte der Eltern im zweiten Band ("Und hier begann mein Unglück"). Die Bundeszentrale hatte 2008 die Arbeit von Art Spiegelman aus ihrem Sortiment wieder zurückgezogen, nachdem sie sie zunächst für den Unterricht empfohlen hatte. In diesem Vorgehen zeigt sich ein Merkmal der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschichtsdeutung. Im Fall Holocaust-(Erziehung) ist man noch immer eher bereit, pädagogisch reduzierte schlechte Kunst einzusetzen als verstörende und beunruhigende wirkliche Kunstwerke. Aber das Verstörende wäre ja überhaupt der Ausgangspunkt des Lernens. Offensichtlich hat man jedoch immer noch Angst vor unkontrollierbaren Lernergebnissen, die in der Begegnung mit echtem Material aus der Realität der Gegenwart entstehen können. Man bemüht sich verzweifelt, die Schüler zu motivieren, aber diejenigen Motive, die aus der Begegnung mit Realität von den Schülern selbst entwickelt werden, scheinen – zumindest im Fall Holocaust – die meisten Pädagogen zu sehr zu beunruhigen, als dass sie sie zulassen können. (Dies zeigte sich z.B. auch in der Diskussion mit dem Schöpfer des Audioweg Gusen, Christoph Mayer, in der Schlussrunde. Seine Beiträge verstörten den Moderator gleichermaßen wie sie einige Teilnehmer erfreuten.) Diesen Umstand zumindest teilweise sichtbar gemacht zu haben, ist eines der Verdienste dieser Tagung.

update: Inzwischen ist die Rede Schäubles auf der BMI-Seite veröffentlicht. Sie wurde um einiges bereinigt, nämlich um die Teile, in denen der Innenminister offenbar "ins Unreine" gesprochen hatte. Ich vermisse in der offiziellen Verschriftlichung, dass Herr Schäuble erstens davon sprach, wie schwierig er es findet, an einem solchen Termin als Deutscher zu einem solchen Thema zu sprechen. Und ich vermisse seinen Satz, in dem er bekannte, dass je mehr er über dieses Thema erfahre, desto unfassbarer es ihm würde.
(Auf diese Aussage wurde ja sogar in der Diskussion zuweilen Bezug genommen.) Ich vermisse auch etwas in seinem Schlussteil, was einige der Zuhörer ziemlich irritierte: Er sprach davon, dass wir immer ein Korrektiv bräuchten, damit wir maßhalten können. Mit dem Maßhalten schien er sich auf die Anwendung von Gewalt zu beziehen. (Das öffnete einen großen Raum für verschiedene Fantasien.)
Was man an einem solchen völlig normalen und alltäglichen Vorfall in Sachen Geschichtspolitik und Erinnerungskultur - nämlich die genaueste Überarbeitung des Gesagten - sehen kann: Geschichtsdeutungen werden ausgehandelt und anschließend offizialisiert. Sie gehören dann zu Konventionen, deren Aushandlungscharakter man sich klar machen muss. Ein wichtiges Thema für den Erwerb von Geschichtskompetenz! Es gehört in die Schule! - Wer jetzt gerade seinen Geschichtsunterricht dazu vorbereitet, findet in der aktuellen Realität dazu bilderbuchreifen Stoff in der Papst-Ratzinger-Piusbruderschaft-Williamson-Holocaustleugner-Geschichte. Hier bereitet die Aushandlung momentan Mühe und wird noch ein paar Tage anhalten.

Freitag, 28. November 2008

Persönlicher Sinn und historisch-politisches Lernen. Ein Schulbeispiel zum Thema Holocaust

Zunehmender Rechtsextremismus - Anwachsen von Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft - fast keine Woche vergeht, in der wir nicht auf verschiedenen Ebenen der Politik, wissenschaftlicher Studien oder im Zusammenhang mit der Diskussion um Schule und Bildung und den mageren Ergebnissen des Geschichtsunterrichts mit diesen Befunden konfrontiert werden. Ist Holocaust Education als neues Unterrichtsfach oder Unterricht über Auschwitz in allen Fächern nötig? Oder muss die Gestalt des Geschichts- und Politikunterrichts auf den Prüfstand? Wie kann der Geschichtslehrer mit diesem Problem umgehen? Hat er einen besonderen Beitrag für die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Antisemitismus für die Gesellschaft zu leisten? Gibt es neue Ansätze zur Vermittlung der "Lehren aus dem Holocaust", die ihn dabei unterstützen können?

Weil mich das Thema Holocaust umtreibt, seit ich denken kann, und die Vermittlung des Themas und die Frage der "Erziehung nach Auschwitz" beschäftigen, seit ich Geschichtslehrerin bin, habe ich mich im letzten Jahr daran gemacht, den Problemzusammenhang "Schulunterricht zu den Themen Nationalsozialismus und Holocaust - Lernen und Wissen der Schüler - Einstellungen und Verhalten der Schüler" gründlicher unter die Lupe zu nehmen. Ich habe Lerntheorie, allgemeine und Fachdidaktik sowie die Projektdidaktik geprüft, neue Unterrichtskonzepte untersucht, schließlich selbst ein Unterrichtsmodell entworfen und es anschließend mit Schülern in einem Pilotprojekt und danach mit Studenten, Referendaren und Lehrern ausprobiert. Das Projekt hieß:

"'Richtiges' Erinnern? Wie können wir angemessen mit der Gegenwart unserer Vergangenheit umgehen? Ein (Selbst-)Erkundungsprojekt am Beispiel des Holocaust-Mahnmals in Berlin."

Was dabei herausgekommen ist, ist nun ausführlich in meinem Aufsatz zu lesen:

"Was hat das mit mir zu tun"? Persönlicher Sinn und historisch-politisches Lernen

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Montag, 10. März 2008

NS-Täter

Auch wenn ich noch nicht weiß, was ich von Jonathan Littells Wohlgesinnten halten werde, weil das Buch noch ungelesen auf meinem Schreibtisch liegt - eines ist jetzt schon ein Pluspunkt: Der Rummel um das Fiction-Täter-Buch hat den Spiegel immerhin dazu veranlasst, einen Artikel zur Täterfrage (Wie werden aus ganz normalen Menschen Massenmörder) zu schreiben, der ausnahmsweise state of the art ist: Der neue Spiegeltitel Die Täter. Warum so viele Deutsche zu Mördern wurden, nimmt die wichtigsten Befunde und Theorien des derzeitigen Forschungsstandes auf (Harald Welzer, Dieter Pohl, Michael Wildt) und ist auf jeden Fall jedem angeraten, der sich aus welchen Gründen auch immer, nicht durch Harald Welzers Täterbuch Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden kämpfen mag.

Dienstag, 4. März 2008

Shoah. Die Begriffsverwirrung

Ein israelischer Minister benutzt den Begriff Shoah in einem unerwarteten Zusammenhang, genauer gesagt, in einem Zusammenhang, in dem man ihn zu allerletzt erwartet hätte. Ich versuche, mir Klarheit über den Vorgang, seine Bedeutung und seine Folgen zu verschaffen.

Laut SZ sagte der Vizeverteidigungsminister Matan Vilnai im Militärrundfunk:

"Wenn die Palästinenser noch mehr Raketen abschießen und deren Reichweite vergrößern, bringen sie sich in die Gefahr einer größeren Schoah, weil wir alles in unserer Macht stehende tun, uns zu verteidigen".

Was hat das zu bedeuten? Ich bin schockiert. Shoah ist der hebräische Begriff für den NS-Völkermord an den Juden. Es ist der Begriff, den die Juden selbst ausschließlich für dieses historische Menschheitsverbrechen verwenden. Nichtjuden verwenden ihn eher nicht, damit sie keine falsche Opferidentität suggerieren. Nichtjuden verwenden daher seit der amerikanischen Fernsehserie den Begriff Holocaust. Was also hat Vilnai mit seinem Satz gesagt? Es gibt keine andere Möglichkeit, als diese: Der Minister hat sinngemäß mitgeteilt: 'Wir werden die Palästinenser vernichten, so wie wir einst von den Deutschen vernichtet wurden, weil wir die Kassamraketen-Angriffe als erneut drohenden Völkermord an uns verstehen.'

Susanne Knaul, taz-Korrespondentin in Israel, hatte auf Vilnais Äußerungen hin also zunächst völlig zu Recht in der Taz vom Wochenende ihr portrait von Vilnai unter der Überschrift verfasst: "Der Israeli, der mit 'Holocaust' droht".
Nach der Lektüre am Sonntag war ich felsenfest davon überzeugt, dass die israelische Regierung und Öffentlichkeit sich einhellig und scharf von der Äußerung ihres Ministers distanzieren und den Minister sofort seines Amtes entheben würde, und daß die Arbeitspartei, der er angehört, ein Ausschlußverfahren gegen ihn einleiten würde. Denn wenn er meinte, was er sagte, dann würde hier ein Verbrechen an der Menschheit (Crime against humanity) angekündigt. Das aber kann nicht die Politik Israels sein. Und wenn er nicht meinte, was er sagte, dann wäre größter Schaden an der weltweit und allgemein verbindlichen Bedeutung des Begriffs Shoah und dem Verständnis seines bezeichneten Gegenstands gestiftet.

Aber nichts dergleichen. Es passiert stattdessen etwas ganz anderes. Der Sprecher des Außenministeriums, Arie Mekel, relativiert die Äußerung Vilnais und nimmt ihn in Schutz: Vilnai habe nur "Desaster oder Katastrophe" gemeint. Und Vilnais Sprecher am Montag: "Herr Vilnai meinte Katastrophe. Er wollte keine Anspielung auf den Völkermord machen". Ach ja? Wozu bemühe ich mich in meiner Arbeit darum, aufzuklären, daß der Propagandabegriff der NPD "Bombenholocaust" untragbar ist, weil er Opfer-Täter-Konversion betreibt? Und daß es eine unerträgliche Verharmlosung ist, wenn extremistische Tierschützer vom Tierholocaust sprechen? Ich tue es deswegen, weil Begriffe wie Holocaust und Shoah historisch-politische Termini sind, in denen ausgehandelte Geschichtsdeutung aufgehoben ist, mit denen Politik gemacht wird und die man nicht auf eine Ebene mit Alltagsbegriffen stellt, weil sie dann eben diesen Charakter historisch-politischer Begrifflichkeit verlören. In Wikipedia findet man wichtige Hinweise zum Begriff der Shoah sowie der damit verknüpften Geschichtsdeutung der Singularität des Genozids an den Juden.

"Wenn man in Israel von einer "Katastrophe" redet, wird oft das Wort Schoah benutzt, aber damit ist nicht der "Holocaust" in Europa gemeint. Und wenn Vilnai davon redet, dass die Pal. "ein Unglück, Katastrophe über sich bringen werden", dann ist damit ganz gewiss nicht gemeint, dass die Israelis an den Palästinensern einen Genozid verüben werden",

schreibt jedoch im Gegensatz dazu Christoph Grubitz in seinem wunderblock am 1 März.
Auch der österreichische Standard ist eilig dabei, die relativierende Interpretation zu übernehmen, indem er die Äußerung des Ministers in der Übersetzung gleich mit "Katastrophe" zitiert. Damit ist das "schwierige" Wort vom Tisch, das Problem aber überhaupt nicht erledigt. Es ist nur vom Tisch unter den Teppich gefegt. Aber leider kann man das nicht mit diesem Gegenstand und dieser weltweit festgelegten historischen Bedeutung des Begriffes Shoah, deren Opfern am Yom ha sho'A, dem Gedenktag am 27. Januar, jedes Jahr in ganz Israel mit einer Schweigeminute gedacht wird, und der spätestens mit Claude Lanzmanns Film "Shoah" eine, wenn nicht DIE Chiffre für den Genozid an den europäischen Juden geworden ist.

Es ist für das Funktionieren der Alltagskommunikation unmöglich, daß ein Begriff, der als Chiffre für den worst case des Zusammenbruchs der Zivilisation dient und der außerdem ein Ereignis bezeichnet, aus dem der Staat seine wichtigste historische Legitimation bezieht, gleichzeitig ein Alltagsbegriff sein soll, der jedwede kleinere oder größere Katastrophe im Alltag bezeichnet. Es muß also noch andere Begriffe für Unglück und Katastrophe geben, nämlich die für den Alltag. Also schauen wir erstens im hebräischen Wörterbuch nach, was Shoah heißt, und schauen wir zweitens nach, ob es andere Begriffe für 'Unglück' und 'Desaster' und 'Katastrophe' im Hebräischen gibt, bevor wir solchen Unsinn glauben.

Viele online-Wörterbücher für Ivrith – das ist das Gegenwartshebräisch – gibt es leider nicht.
In My Hebrew Dictionary gebe ich nacheinander ein 'disaster', 'catastrophe' and 'calamity'. Alles Begriffe, die angeblich den Alltagsbegriff sho'A als Treffer bringen müssten. Dem ist jedoch nicht so. Gebe ich aber den Begriff 'holocaust' ein, dann habe ich einen Treffer: sho'A.
Und im Wörterbuch hebräisch-deutsch; deutsch-hebräisch finde ich für Unglück, Missgeschick, Not: 'assOn oder 'Ed; und für Unglück, Katastrophe: puranUt. Sho'A aber bedeutet laut Wörterbuch: Untergang, Katastrophe, Massenvernichtung der Juden. Es gibt also durchaus andere Wörter für Katastrophe, Unglück, Kalamität. Kann Vilnai nicht gut Hebräisch? Oder kann er nur nicht gut Politik?

Im Allgemeinen wird da in der Politik zurückgerudert, wo jemand politisch undiszipliniert, also unprofessionell, gehandelt hat, wo ES gesprochen hat statt ICH, wo etwas ausgeplaudert wurde, was taktisch ungünstige Folgen hat. Man nennt das ganze dann einen Ausrutscher - wie in der taz - oder eine Entgleisung. Es ist etwas herausgekommen, was hätte drin bleiben sollen. Aber es ist etwas. Und über dieses etwas muß gesprochen werden. Es muß geklärt statt vertuscht werden. Und weil die Klärung und Distanzierung, wie sie nötig gewesen wäre, nicht stattgefunden hat, ist leider anzunehmen, daß da etwas ist, was nicht nur bei Minister Vilnai ist, sondern nur zufällig bei ihm herauskam.

Warum also diese unglaubliche Begriffsverwirrung, die hier in Gang gesetzt und bereitwillig hingenommen wird? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, nämlich, daß wir durch diesen Lapsus linguae etwa explizit erführen, daß die extremen Falken in der israelischen Regierung wider alle universale Ethik und wider alle politische Vernunft tatsächlich bereit sind, die Bevölkerung im Gazastreifen zu vernichten. Eine andere Interpretation dieser Geschichte scheint mir nicht plausibel. Gerne würde ich mich vom Gegenteil überzeugen lassen. Also?

Mittwoch, 9. Januar 2008

Kunstwerke über den Holocaust

Nirgendwo bin ich so empfindlich gegen schlechte Kunst wie bei der, die den Holocaust als Gegenstand hat.
Hier ein Beispiel der schlechtesten Art: Miami Memorial. Ein erlebnispädagogisches Grauen im Palmenhain.
Ich sammle Beispiele gelungener Kunst. Dazu gehören neben Arnold Schönberg, A Survivor from Warsaw, Imre Kertesz, Roman eines Schicksallosen, Peter Weiss, Die Ermittlung, und Art Spiegelman, Maus, auch der Film von Alain Resnais und Hanns Eisler, Nacht und Nebel. Den gibt es jetzt auch im Netz zu sehen: hier.
Danke, Christian, für den wertvollen Hinweis!

Montag, 3. Dezember 2007

Ist das normal?

Fänden Sie es normal, an einem Tisch mit einem überführten Massenmörder zu sitzen, anstatt ihn aus dem Haus zu werfen und ihn der Polizei auszuliefern? Natürlich nicht.

Fänden Sie es empörend, wenn die Nachfahren der Opfer immer wieder auf die nichtbestraften Täter zeigen und Bestrafung und Restitution verlangen, anstatt endlich Ruhe zu geben und die Hand zur Versöhnung auszustrecken? Natürlich nicht.

Beides ist in unserem Land jedoch normal. Hier nur ein aktuelles Beispiel, stellvertretend für viele:

Anlässlich einer Demonstration von „Antifaschistischen Gruppen“, die am Samstag vor die Haustüren zweier in Italien des Massenmords überführten deutschen Männer gezogen waren, titelt die taz heute: Die netten Opas bekommen Besuch.

„Gerhard S. war Untersturmführer der 16. SS-Division „Reichsführer SS“. Er wurde 2005 zusammen mit neun weiteren Angeklagten von dem italienischen Militärgericht La Spezia des „fortgesetzten Mordes mit besonderer Grausamkeit“ schuldig gesprochen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass S. an der Tötung von 560 Einwohnern des Bergdorfes Sant’Anna di Stazzema am 12 August 1944 beteiligt war. Ein Revisionsantrag wurde abgelehnt. Der 86-Jährige lebt heute in einer Seniorenresidenz in Hamburg. Er behauptet bis heute, bei dem Massaker nicht dabei gewesen zu sein.“

Italienisches Fehlurteil? „Siegerjustiz?“ Wahrscheinlich bloß, um wieder Geld aus Deutschland rauszuleiern???? Hm.

Weiter in der taz: „Knapp zwei Monate nach dem Massaker in Civitella fiel die 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“, deren 4. Kompanie S. anführte in Sant’Anna di Stazzema ein. Binnen vier Stunden hatte die SS 440 Männer und Frauen sowie 120 Kinder erschlagen, erschossen oder verbrannt...“
„S. selbst beteuert bis heute seine Unschuld, sagt, er habe ein ‚absolut reines Gewissen‘... Auch die juristischen Ermittlungen gegen S. treten auf der Stelle. ‚Kein neuer Stand‘, sagt eine Sprecherin der für den ‚Komplex St’Anna‘ zuständigen Staatsanwaltschaft Stuttgart. Seit 2002 ermittelt sie gegen 15 Personen. ‚Wir müssen dem einzelnen die Tatmerkmale Mord nachweisen – objektiv und subjektiv‘“

Aha, jedem einzelnen einer Mordtruppe. Nur dabeigewesen, sogar Kommandeur einer Untereinheit gewesen zu sein, reicht nicht.

Die deutsche Regierung hatte sich gleich nach Gründung der Bundesrepublik sehr darum bemüht, eine schnelle Generalamnestie der Täter zu erreichen. Ganz so einfach ging es zwar nicht. Trotzdem war es überhaupt nicht selbstverständlich, daß 1965 endlich nach jahrelangem Kampf der Befürworter der Täterbestrafung mit einer bedeutenden Anzahl von Gegenstimmen (vorwiegend aus der CDU) im Bundestag das Gesetz zur Nichtverjährbarkeit von NS-Verbrechen verabschiedet werden konnte, das die lebenslange Strafverfolgung von NS-Tätern ermöglichte. Gebunden ist die Strafverfolgung jedoch an die „Tatmerkmale Mord“ – und das meint vor allem: „aus niederen Beweggründen“. Selbst wenn die direkte Beteiligung nachgewiesen ist, so sind häufig bei den Nazitätern eben keine „niederen Beweggründe“ nachzuweisen – oder jedenfalls fällt es der deutschen Justiz immens schwer. Mord liegt nämlich nur vor, wenn aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder anderen niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, getötet wurde. Tja, aber weisen Sie mal eines dieser Motive nach in einer Truppe von Kriegern!

Weiter in der taz: „Enio Mancini vom ‚Verein der Opfer von St’Anna‘ weist die Behauptung, eine konkrete Tatbeteiligung von S. sei nicht nachweisbar, zurück. Das habe sich während des italienischen Gerichtsverfahrens herausgestellt. Gegenüber den Alliierten hatten Angehörige seiner Kompanie bezeugt, S. habe den Schießbefehl erteilt ...“
Alles das reicht für die deutsche Justiz nicht.

Die VVN/BdA NRW fragte in Stuttgart an. Sie bekam folgende Antwort:

Für eine Anklageerhebung reicht die Beweislage bislang vorbehaltlich möglicher weiterer Erkenntnisse bei keinem der Beschuldigten [15 noch lebende Angehörige der Einheit] aus. Ein Verbrechen des Totschlags wäre nach deutschem Recht seit langem verjährt. Deshalb kann die Staatsanwaltschaft die Täter ausschließlich wegen Mordes oder wegen Beihilfe zum Mord verfolgen. Eine entsprechende Verurteilung setzt aber nach den Regelungen des deutschen Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung voraus, dass jedem Beschuldigten über seine konkrete Beteiligung an der Tat hinaus auch ein Mordmerkmal nachgewiesen werden kann. Allein die Zugehörigkeit einer Person zu den in Sant'Anna di Stazzema eingesetzten Einheiten der Waffen SS kann den individuellen Schuldnachweis nicht ersetzen. Nach deutschem Recht muss in Bezug auf jeden einzelnen Beschuldigten festgestellt und belegt werden, dass und in welcher Form er bei dem Massaker beteiligt war und dass er persönlich, sowohl objektiv wie subjektiv, entweder grausam oder mit niedrigen Beweggründen gehandelt hat.“

Was bedeutet denn dabei "subjektiv" im Gegensatz zu "objektiv"? Daß er sich selbst als grausam oder niedrigbeweggründet erlebt haben muß?

Also war es wohl wieder keiner gewesen – es war bloß wieder das Kollektiv insgesamt. Keine Einzeltäter, keine Schuld, keine Verurteilung, keine Bestrafung.

Und dann mal ganz abgesehen von der hochoffiziellen Verweigerung von Restitution an den Opfern des Massakers ... in Distomo etwa, um wieder nur ein Beispiel von vielen zu nennen.

Sehen Sie, und daß da irgendetwas faul daran ist, daß da mit so überaus rechtstaatlichen Mitteln immer noch eine alte Kumpanei spürbar wird, die Kumpanei mit den Massenmördern als Individuen, während andererseits eben jenes Morden allgemein immerfort öffentlich laut verurteilt, und dessen Opfer insgesamt und als Kollektiv ständig ritualisiert von den Repräsentanten der Täternachfahrengesellschaft „betrauert“ werden, das finde ich einfach nicht normal. Und neben unbestraften Tätern einherlebend werden wir hier auch nicht normal. Und wenn der letzte unbestraft unter uns lebende Täter in hohem Alter beim Heckenschneiden im Garten seines Reihenhauses - sagen wir beispielsweise in Bielefeld -, bezahlt mit seiner Kriegerpension, oder wenn er bei der Waffen-SS gewesen, mit Spendenmitteln der HIAG, endlich von der Leiter gefallen ist, dann haben wir auch gar keine Chance mehr, wenigstens am letzten lebenden Fall noch etwas in Ordnung zu bringen. Dann haben wir die letzte Chance vertan, normal zu werden.
Solche bösen Gedanken kommen mir immer, wenn ich durch den momumentalen most exciting tourist sightseeing point of the Hauptstadt gehe.

Freitag, 19. Oktober 2007

Die Eva, der Johannes und die Deutschen

Leider gab es den erfrischenden Artikel im aktuellen Stern über die Herman, den Kerner und die Deutschen nicht online, weil er der Titel ist, und so muß man den Stern mal wieder kaufen. Aber er ist wirklich gut: "Eva in der Nazifalle", von Stefan Schmitz. Da stehen solche Sätze drin, wie:

"Aber ist es richtig, dass vor den Fernsehern Millionen Zuschauer sitzen, die denken, was man im Fernsehen nicht sagen darf? Natürlich nicht. Eine einfache Regel würde weiterhelfen: Volksverhetzer muss man bekämpfen, Ahnungslose informieren." Und:

"Wenn sich die Klassensprecher der Ahnungslosen melden, sollen sie reden. Auch Falsches und schwer Erträgliches. Das nervt. Aber wir müssen ihnen antworten, statt sie rauszuschmeißen."

Richtig! Aber trotzdem: Was für ein Armutszeugnis für 50 Jahre Geschichtsunterricht nach Auschwitz durch Massenmedien und Schule, daß solche einfachen Fakten wie die Bedeutung der Autobahn, die Ursachen für die drastische Verringerung der Arbeitslosigkeit, und die Wahrheit über Mutterglück und Familienpolitik im NS-Staat von 20% der Deutschen heute nicht gewußt sind! Entweder lernt man in Deutschland gaaaaanz langsam, oder man hat ein furchtbar schlechtes Gedächtnis, oder irgendetwas stimmt nicht mit den Lehranstalten oder mit der Lehre.

Donnerstag, 26. April 2007

Holocaust und Nationalsozialismus im Unterricht

- "Überlegungen zu einer zeitgemäßen Vermittlung" war das Thema einer Fachtagung der Bundeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit der Kultusministerkonferenz am 23./24. 4. 07 in Berlin. Etwa 70 Lehrer, Lehrerausbilder und –fortbildner, Vertreter der Bundeszentrale, Mitarbeiter und Repräsentanten von Kultusministerien und Schulbehörden, von Gedenkstätten, Instituten, Stiftungen und Berufsverbänden, sowie Fachdidaktiker für Geschichte und Politische Bildung trafen sich zu Erfahrungsaustausch und Debatte.

Ausgangspunkt der Diskussion um eine neue Didaktik der Erziehung nach Auschwitz waren verschiedene Ereignisse bzw. Befunde:

1. das Aussterben der Zeitzeugen und die Historisierung des Holocaust sowie die daran anknüpfende Forderung des Zentralrats nach Einführung eines Unterrichtsfaches "Holocaust Education" in den Schulen;
2. empirische Befunde im paradoxen Feld von "Übersättigung" bzw. "Ahnungslosigkeit" der Jugendlichen bezüglich des Themas Holocaust;
3. die Frage, was die Beschäftigung mit dem Holocaust für die wachsende Zahl von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bedeutet.

Dietmar von Reeken, Prof. für Geschichtsdidaktik an der Universität Oldenburg, sprach in seinem Vortrag über den Stellenwert des Geschichtsunterrichts in der Auseinandersetzung mit Holocaust und NS. Seine Analyse: Der Gegenstand ist geprägt durch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und hohe mediale Präsenz, die bisher im Unterricht nicht thematisiert wird; wegen des Chronologie-Prinzips im Geschichtsunterricht kommt das Thema erst spät im Unterricht vor, obwohl die Schüler in ihrer außerschulischen Sozialisation schon Jahre früher damit in Berührung kommen; neue Unterrichtsmodelle orientieren sich weitgehend an der gymnasialen Oberstufe, obwohl die meisten Schüler mit Affinität zum Rechtsextremismus aus "bildungsfernen" Schichten stammen; der traditionelle Unterricht berücksichtigt bisher nicht den völlig anderen Zugang von Schülern mit Migrationshintergrund; die Einstellung zum Gegenstand ist moralisch vorgegeben: "Schüler wissen genau, welche Haltung dazu von ihnen erwartet wird", was zu einer Anpassung an fertige gesellschaftliche Urteile führt; statt Pluralismus im Geschichtsunterricht, der verschiedene Deutungen zur Debatte stellen müsste, orientiert sich der traditionelle Unterricht zum Thema Holocaust an dem Wunsch, eine solide kognitive Basis und eine Verinnerlichung der gesellschaftlich erwünschten Haltung herzustellen. Fazit: "Vieles davon spricht für eine geringe Wirksamkeit des Geschichtsunterrichts."
Von Reekens Forderung an kompetenzorientierten Geschichtsunterricht: Schüler müssen Strategien entwickeln, mit gesellschaftlichen Diskursen und mit den Medien umgehen zu können – und zwar dann, wenn sie aktuell sind, nicht erst, wenn das Thema Holocaust im Rahmenplan "dran" ist.

Dirk Lange, Leiter des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg und Vorsitzender des Deutschen Verbands für Politische Bildung (DVPB), formulierte vier Kompetenzen der Politischen Bildung, in denen er die von von Reeken geforderte Diskurskompetenz noch weiter zuspitzte: Mit der vierten, der geschichtspolitischen Kompetenz verstehen die Schüler, daß die Deutung von Geschichte ein interessengeleiteter politischer Prozeß ist. Sie begreifen, wie in der Gesellschaft versucht wird, individuelle Geschichtsdeutung zu allgemein verbindlicher zu erklären. Die Schüler müssen diesen Prozess nicht nur verstehen, sondern ihn auch selbst mitgestalten lernen.

Robert Sigel, Historiker und Mitarbeiter der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, legte erste Auswertungen seiner Studie an bayerischen Schulen vor, in der sich zeigte, daß Schüler in der Regel ein großes Interesse am Thema Holocaust und NS mitbrachten – schon lange vor der Behandlung im Unterricht – und sich meist zufrieden mit dem Unterricht zum Thema zeigten. Diejenigen, die unzufrieden mit dem Unterricht waren, wollten anschließend keinen weiteren Unterricht in dieser Weise. Die befragten Lehrer waren jedoch weit mehr enttäuscht von den Unterrichtsergebnissen als die Schüler – was daher rührte, daß sie häufig die von ihnen bei den Schülern intendierte Form der Betroffenheit vermißten.
Deutlich wurde hier vielen Tagungsteilnehmern, daß eine Abwehrreaktion von Schülern gegen eine Wiederaufnahme des Themas in einem zweiten Geschichts-Durchgang in der Oberstufe des Gymnasiums daher rührt, daß der erste Unterricht meist nicht am persönlichen Sinn der Schüler angeknüpft und stattdessen die Schülerfragen ignoriert hatte. Das scheinbare Paradox "Übersättigung" und "Ahnungslosigkeit" löst sich somit in dem Befund auf, daß eine andere Art von Unterricht erforderlich ist, statt mehr vom selben.

Deutlich wurde in diesen Beiträgen, in der Plenumsdiskussion sowie im Workshop III ("Außerschulische Lernorte als Bausteine zur Unterrichtsgestaltung") zum zweiten, daß eine solche andere Art von Unterricht nur in der Entwicklung einer neuen Lernkultur liegen kann, die in Abkehr vom normativ bevormundenden Unterricht nach instruktivistischer Tradition Modelle projektartigen, subjektorientierten und selbstbestimmten Lernens auch mit außerschulischen Kooperationspartnern entwickelt, erprobt und institutionalisiert. Auf die von einigen Teilnehmern skeptisch erhobene Behauptung hin, solche Art Unterricht sei nur etwas für die gymnasiale Oberstufe und Schüler müßten überhaupt erst eine mit vielem kognitiven Wissen abgestützte "Fragekompetenz" entwickelt haben, gaben andere Teilnehmer Hinweise auf erfolgreich durchgeführte Projekte mit professionellen Produkten als Ergebnis auch in der Hauptschule.

Der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) stellte seine Thesen und Forderungen zum Geschichtsunterricht über NS und Holocaust vor, die in einer Broschüre veröffentlicht werden, herausgegeben vom Leo Baeck-Institut.
Zentralen Stellenwert hat darin das Konzept der
"Integrierten deutsch-jüdischen Geschichte" , das in einem aktuellen Heft der bpb-Publikationsreihe "Aus Politik und Zeitgeschichte" (APuZ 14-15/2007) von Saul Friedländer vorgestellt wird.

Hingewiesen sei noch auf die interessanten Vorträge von Karl-Peter Fritzsche zur Menschenrechtserziehung und von Robert Sigel zum internationalen Ansatz der Holocaust Education. In beiden Konzepten geht es um die Universalisierung der Lehren aus dem Holocaust, um Werteerziehung und Erziehung zur Demokratie. Vor allem Karl-Peter Fritzsches Vortrag zeigte dabei deutlich, daß die Schule nicht nur einen neuen Unterricht und eine neue Lehrerrolle, sondern ebenso die Entwicklung einer demokratischen Schulkultur benötigt, in der Schüler nicht nur ÜBER den Holocaust als worst case–Folge undemokratischer Gesellschaft kognitives Wissen sammeln, sondern Demokratie durch eigene Partizipation an der Gestaltung ihrer Umwelt – der Schule – erleben können.

Dienstag, 20. Februar 2007

Bilder vom Holocaust-Mahnmal

Mahnmal1

Mahnmal2

Mahnmal3

Mahnmal4

Aber was hast Du auf dem vierten Bild eigentlich fotografiert? Den Hubschrauber am Himmel? – das fragte mich G., dem ich die Bilder zeigte.

Ich habe das Mahnmal mit Kontext fotografiert – Hubschrauber, umliegende Häuser, Menschen die sich darin aufhalten –, denn mir ist aufgefallen, daß viele offizielle Fotos das Mahnmal als Objekt ohne Umwelt abbilden und ohne Besucher. Das Stelenfeld selbst, in "reinem" Zustand, die Tafel mit der Besucherordnung, die verlangt, daß man nicht läuft, nicht raucht oder ißt, nicht laut redet, nicht auf den Stelen herumturnt, irritieren mich. Der "reine" Zustand, das ist eine Interpretation dieses Monstrums, die "erhabene" Gefühle hervorrufen will. Ich habe dann den starken Eindruck, daß es eigentlich ein Mahnmal der Selbstdarstellung der Berliner Republik ist, eine Performance fürs Ausland: "Schau her, Welt, wie perfekt wir die Sünde unserer Väter bewältigt haben". (Kopf geneigt, Augen niedergeschlagen, Hände vorm Sack zusammengelegt und in "Betroffenheit" gemacht.) Und gleichzeitig die obszöne geizige Art der Zwangsarbeiterentschädigung, das Feilschen um jeden Euro, der nicht gezahlt werden muß und die letztlich lächerlichen Summen, die ausgezahlt werden. Und immer weniger Überlebende, die überhaupt noch entschädigt werden können/müssen. Und immer noch aktuelles Geschehen, gerade letztens wieder: Erwiesene Täter, die nicht ans Ausland ausgeliefert werden, wo sie ihre Taten begangen haben, nach deutschem Recht aber nicht verurteilt werden, weil zwar Mord nicht verjährt, aber nur der hier als Mörder gilt, der die "Liquidierung" eigenhändig vorgenommen hat, nicht der, der sie angeordnet oder beaufsichtigt hat. Immer noch eine Art Komplizenschaft. Im Deutschen Historischen Museum gibt es in der Abteilung Holocaust kein einziges Foto von einem Täter. Nicht einmal ein Bild von Himmler. Ein Verbrechen ohne Täter. Etwas Eigenartiges ist geschehen, wofür das Mahnmal ein Beispiel ist: Das Verbrechen wird ausschließlich mit den Opfern in Zusammenhang gebracht – nicht mit den Tätern. Man ist dabei, den Opfern individuelles Gesicht zu geben, das ist löblich. Die Ausstellung – genannt "Ort der Information" – tut das ganz vorbildlich. Aber es ist eben kein einziger Täter zu sehen. Du siehst die Bilder von Ermordeten, aber keinen, der es getan hat. All diese grinsenden und lachend mit ihren Opfern posierenden Wehrmachtssoldaten, die man in der 1. "Wehrmachtsausstellung" auf Landserfotos zuhauf hat sehen können – wo sind sie auf einmal? Wie weggeblasen! In Yad Vashem ist das richtig. In Deutschland ist es falsch.
Die Befürchtung Walsers, es handle sich um die "Dauerpräsentation unserer Schande" ist völlig abwegig. Im Gegenteil: Das Denkmal heißt im Metatitel: "Wir sind wieder gut."

Sonntag, 12. November 2006

Israel – Deutschland – Israel

Empfehlen möchte ich ein Buch, das der Autor gestern in Hamburg vorstellte :

Moshe Zuckermann, Israel – Deutschland – Israel. Reflexionen eines Heimatlosen, Wien 2006 (Passagen Verlag), 219 Seiten, 26 Euro

Moshe Zuckermann, geboren 1949 in Tel Aviv als Sohn Shoah-Überlebender, verbrachte seine zweite Lebensdekade in Frankfurt, wo er mit Adorno und Horkheimer bekannt wurde. In der Hoffnung auf das spezifisch zionistische Projekt eines sozialistischen Staates im Nahen Osten zog Zuckermann 1970 zurück nach Israel, wo er seine wissenschaftliche Karriere mit einem Soziologiestudium begann und seither lebt. Zuckermann ist marxistischer Soziologe und Historiker. Seit 1990 lehrt er am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas an der Universität Tel Aviv und war von 2000 bis 2005 Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte in Tel Aviv. Als heimatlos erlebt er sich nicht nur wegen der Unmöglichkeit, sich als überlebender Jude in Deutschland beheimatet zu fühlen, sondern auch wegen der fundamentalen Enttäuschung seiner sozialistisch-zionistischen Hoffnung, die durch die Folgen der Besatzungspolitik Israels seit dem Sechstage-Krieg 1967 ausgelöst wurde. Heimat – so zitiert Zuckermann Ernst Bloch – ist erst möglich, wenn die Gesellschaft befreit ist.

Sein neues Buch verknüpft persönliche Lebenserfahrung mit weltgeschichtlich bedeutsamem Kontext. Eine Autobiografie zu verfassen, hält sich Zuckermann für nicht bedeutend und noch nicht alt genug, wie er gestern bei der Buchvorstellung in der Universität Hamburg bekannte. "Seinen Narzißmus sollte man privat ausleben – nicht öffentlich", befand er. Jedoch besteht durch die Kontingenz seiner Geburt in den besonderen zeiträumlichen Zusammenhang die Möglichkeit, soziale und politische Geschichte anhand ihrer Spuren im persönlichen Erleben Zuckermanns aufzudecken. "Weil ihm das besondere Schreibtalent eines Klaus Mann" fehle, habe er besondere Aufmerksamkeit auf die Methode seiner Darstellung verwenden müssen – und dabei eine Methode entwickelt, mit der die Umsetzung seiner Intentionen gelungen ist, wie ich finde:
Das Buch besteht aus drei Teilen – der erste Teil: die 50er Jahre in Israel, der zweite: die 60er Jahre in Deutschland und der dritte wieder Israel seit 1970. Die einzelnen Kapitel – jeweils fünf in den ersten beiden Teilen und acht im dritten Teil – behandeln jedes einen besonderen Aspekt der israelischen bzw. deutschen Geschichte. Sie sind alle ebenfalls dreiteilig konstruiert: Zunächst schildert Zuckermann ein persönliches Erlebnis oder eine Anekdote, an deren Kern im zweiten Teil ein besonderer Aspekt des historischen Kontexts entfaltet wird; schließlich rekurriert er im dritten Abschnitt wieder auf die Anekdote, die er nun mittels des gewonnenen Kontextwissens abschließend interpretiert.

Die Verknüpfungen und Befunde sind durchweg interessant und überzeugend. In den historisch-soziologischen Teilen des gesellschaftlichen Kontexts ist Zuckermanns Sprache dem Gegenstand angemessen diszipliniert – in den anekdotischen Teilen ist sie durch unnötige Überladung mit Adjektiven, Pathos und Selbstparaphrasierungen umständlich, wirkt wie eine versuchte Thomas-Mann-Stilkopie und verleiht den Anekdoten beinahe tragisches Gewicht. Schade – ein wenig Humor und Leichtigkeit hätte den Anekdoten besser gestanden und dafür dem Kontext mehr Gewicht beigemessen, der – zumindest laut Absichtserklärung – der Hauptgegenstand sein sollte.
Ich kann dem Eindruck nicht widerstehen, hier den Narzißmus, der privat bleiben sollte, doch noch veröffentlicht zu sehen.

Auf der gestrigen Veranstaltung wurde – wie zu erwarten war – nur zum dritten Teil des Zuckermannbuches gefragt und diskutiert: Welche Perspektive sieht Moshe Zuckermann für Israel? Zuckermann wiederholte und präszisierte hier den schon 2003 in seinem im Konkret-Verlag vorgelegten Band Zweierlei Israel? überzeugenden Befund:
"Israel hat alle Karten in der Hand", so Zuckermann. Weil die Region in Zukunft die zentrale Bedeutung in der Auseinandersetzung zwischen dem Westen und dem sich herausbildenden neuen Osten (China, Indien) haben wird, kann Israel nur überleben, wenn es zu einem Frieden in Nahost kommt. Israel braucht den Frieden für seine Existenz, die davon abhängen wird, ob es als ein Land in der Region akzeptiert wird. Diese Akzeptanz wird jedoch nicht – oder zumindest nicht allein – mit militärischer Stärke erreicht. Aber auch die Palästinenser brauchen zum Überleben den Frieden. Israel muß sich mit Notwendigkeit aus den besetzten Gebieten zurückziehen, alle Siedlungen abbauen, die Jerusalemfrage zur Verhandlung stellen und symbolisch das Rückkehrrecht der Flüchtlinge anerkennen. Das sind nach Zuckermann die Voraussetzungen für eine Zukunft Israels. In einer ersten Phase liege die Zukunft in der Zweistaatenlösung mit der nationalen Selbstständigkeit der Palästinenser. Für eine langfristige Perspektive sieht Zuckermann die Notwendigkeit der Überwindung des Nationalstaats – parallel zur globalen Entwicklungstendenz der Entstaatlichung –, nämlich die Entwicklung zu einer föderativen Struktur (Israel, Palästina, Syrien, Jordanien), in der gravierende gemeinsame ökologische und ökonomische Probleme – wie etwa das zentrale Problem der Wasserversorgung – in gemeinsamer Aushandlung gelöst werden können.

Auf die Frage aus dem Publikum, wer denn "Israel auf die Sprünge helfen" könne, da es offenbar selbst diesen Weg in die Zukunft nicht fände, antwortete Moshe Zuckermann unmißverständlich: Deutschland jedenfalls nicht! Auch Amerika wird es nicht können, da es seine Nahost-Politik erst dann ändere, wenn es Israel nicht mehr für seine geopolitischen Interessen einsetzen könne, sondern sich im Gegenteil durch Israel in seinen geopolitischen Interessen bedroht fühlt. Dann aber würde Amerika "Israel möglicherweise fallen lassen wie eine heiße Kartoffel". Israel wird seine Gesellschaft selbst befreien müssen, so Zuckermann. Die Ermordung Rabins sei eine Tragödie gewesen, denn dieser habe die Unvermeidlichkeit der Rückgabe der Gebiete begriffen und auch das nötige Charisma besessen, um in Israel diese Politik ohne Bürgerkrieg durchzusetzen.

Trotz des kritisierten Stils - Geschmacksfrage vielleicht - ist das neue Zuckermann-Buch nicht nur eine Fundgrube für Informationen über die Geschichte Israels und des Nahostkonflikts, es gibt auch eine interessante Perspektive auf deutsche Geschichte in den 60er Jahren.

In ak - analyse & kritik - ein sehr interessantes Interview mit Moshe Zuckermann über sein Buch, die deutsche Linke und Israel und über den vergangenheitspolitischen Diskurs in Deutschland
Bild: Ivan Montero / fotolia

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