Dienstag, 3. April 2007

ADHS – Kinderkrankheit oder Schulproblem?

Aufmerksamkeitsstörungen, Mangel an Aggressionskontrolle und Hyperaktivität – kurz ADS und ADHS genannt - stellen die häufigsten Verhaltensauffälligkeiten bei Schulkindern dar. Kinder mit diesem Verhalten stören den Unterrichtsablauf, machen sich bei ihren Klassenkameraden durch "Nerven" unbeliebt und haben häufig Probleme mit Rechtschreibung und Rechnen. ADHS sowie massive Rechtschreib- und Rechenprobleme werden in der Regel wie Krankheiten behandelt. Meistens wissen die Lehrer nichts anderes, als diese Kinder zum Arzt zu schicken – die Kinderärzte wiederum wissen meistens nichts anderes, als ihnen Tabletten zu verordnen, über deren schädliche Nebenwirkungen auf das kindliche Gehirn überhaupt noch keine Langzeitstudien vorliegen können. Daß viele Pädiater mit ihrer biologisch-medizinischen Ausbildung auch nur eine biologisch-medizinische Antwort auf Verhaltens- und Lernprobleme haben, ist schlimm. Wenigstens könnte man bei ihnen das Verständnis dafür voraussetzen, daß sie für Verhalten und Lernen nicht zuständig sind. Aber man kann nicht. Umso wichtiger ist es für Lehrer zu wissen, daß die Medikamente zwar ruhigstellen – und so vielleicht eine Unterrichtsstörung beseitigen helfen –, aber überhaupt nichts an den Lernproblemen dieser Schüler ändern. Und umso wichtiger für Lehrer ist es, richtige Informationen über diese Lernstörungen und ihre mögliche Therapie zu bekommen, an denen sie ihren Umgang mit den Schülern und ihre Ratschläge an die Eltern orientieren können.

Zu dieser Orientierung für Lehrer - und natürlich auch für Eltern und Kinderärzte - empfehle ich das kürzlich erschienene Buch Lernprobleme: ADHS? der Hamburger Lerntherapeutin Dr. Margarete Liebrand. Sie hat ein anderes als das medizinische Verständnis von diesen Verhaltensproblemen. Zu Recht hält sie sie nämlich nicht für genetisch bedingte Hirnprobleme sondern für gelernte Lernprobleme, und sie hilft in ihrer lerntherapeutischen Praxis den betroffenen Kindern, Aufmerksamkeit und Denken zu erlernen. In ihrem Buch findet man die Erfolge und zugleich einige überaus aufschlußreiche und beeindruckende Fallgeschichten ihrer Arbeit mit den Kindern dokumentiert und analytisch kommentiert. In einem kürzeren zweiten Teil ihres Buches stellt Liebrand den lerntheoretischen Ansatz vor, auf dessen Hintergrund sie arbeitet. Davon sei hier nur eine zentrale Einsicht zitiert: "Nach der Auffassung der tätigkeitstheoretisch orientierten Psychologie, die sich mit den Werken von Wygotski, Leontjew und Luria verbindet, sind Entwicklung und Lernen das Produkt der psychischen Systeme, wie Aufmerksamkeit, Emotionen und Motive, die die Umweltaneignung ermöglichen und die sich zugleich in dieser Aneignung bilden" (S. 245, Hervorhebung LR). Das aber bedeutet, daß nichts am individuellen aktuell gezeigten Verhalten oder an möglichen oder aktuell sichtbaren Lernfähigkeiten biologisch vorgegeben ist. Und das bedeutet weiter, daß Lern- und Verhaltensprobleme durch Lernen unter adäquaten Bedingungen gelöst werden können. Daß dies nicht nur Behauptung und theoretische Annahme ist, zeigen die praktischen Erfolge der lerntherapeutischen Arbeit Liebrands.

Man wünscht sich auch für die "normalen" Nicht-ADHS-Kinder die Schule und die Lehrer, die dieses wissenschaftliche Verständnis vom Lernen haben. Denn auch ihnen könnte es nützen. Vielleicht lernen sie ja nur deshalb in der Schule besser, weil sie trotz der Fehler, die die Schule beim Lehren macht, in der Lage sind, das Wichtigste zu begreifen? Und vielleicht könnten sie ja noch viel erfolgreicher lernen, wenn die Schule beachten würde, was Margarete Liebrand bei ihrem Unterricht beachtet? Aus den Fallgeschichten wird dem Leser jedenfalls deutlich, daß die Lernprobleme nicht von den Gehirnen der Problemschüler verursacht wurden.

In einem kurzen Aufsatz hat Margarete Liebrand ihre Auffassung des Aufmerksamkeitsproblems dargelegt: Phaenomen-Aufmerksamkeitsstoerungen (pdf, 103 KB)
Bild: Ivan Montero / fotolia

shift.

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