Kultur

Donnerstag, 19. März 2009

Jugendliche Massenmörder

Es hat sich gelohnt, nach dem Ereignis in Winnenden zu warten und die ersten Reaktionen in der Öffentlichkeit zu ignorieren, die ja die altbekannten gewesen sind, da sie entweder auf dem Pfeiffermodell oder auf seinem Gegenteil beruhen. Heute steht im "langen Text" der taz eine erste brauchbare Analyse von Wilhelm Heitmeyer. "Doppelter Kontrollverlust" und "Anerkennungszerfall" sind in seinem Aufsatz zentrale Begriffe, die vieles erklären. Auf den allseits ertönenden Ruf nach Werte- und Normenerhalt (oder Rückgewinnung) hat Heitmeyer am Ende seiner Analyse eine wichtige Antwort:

"Wir haben es nicht mit einem 'Werteverfall', sondern mit einer Wertepluralisierung zu tun. Aber auch Wertepluralisierung erzeugt Probleme der Geltung von Normen: Grenzen werden strittiger und Grenzüberschreitungen häufiger. Die Debatte setzt auf die Verbreitung von proklamierten Werten wie Menschlichkeit und Solidarität. Doch die gesellschaftliche Realität wird von anderen Werten bestimmt, von Werten, die besonders belohnt werden: der Verabsolutierung von Selbstdurchsetzung, dem Aufstieg um jeden Preis, dem Erfolg auf Kosten anderer. Dieser Wertefundus ist längst durchgesetzt. Und die Jugendlichen haben die Doppelbödigkeit dieser Wertedebatte längst durchschaut."

Heitmeyers Antwort auf die Frage, was zu tun sei, knüpft jedoch leider nicht an der festgestellten Wertepluralisierung und an der notwendigen "Strittigkeit von Grenzen und Normen" an. Sie bleibt im Rahmen der Forderung nach einer Debatte über die "Kultur der Anerkennung".
Gebraucht wird jedoch mindestens ebenso eine Antwort auf die Frage, wie mit der "Wertepluralisierung" und der Erkenntnis umzugehen ist, dass es keine allgemeingültigen Bedeutungen, keine objektiven, "richtigen" Werte und keinen institutionell verabreichbaren "Sinn" mehr geben kann.
Zu schaffen sind also nicht bloß Formen der Anerkennung, sondern vor allem Gelegenheiten der persönlichen Sinnbildung und eine Lernkultur, in der die Fähigkeit zur eigenen Sinnbildung und die Fähigkeit zur Aushandlung von Werten oberste Ziele sind. Erst ein Leben mit Sinn und mit der Fähigkeit Sinn immer wieder neu bilden zu können, sowie eine kompetente Teilhabe an der Aushandlung des "Common Sense" kann die Voraussetzung für (Fremd-)Anerkennung und "Selbstwirksamkeitsempfindung" schaffen, die vor Dekompensation der Psyche und dem (selbst-)zerstörerischen Versuch der Rückgewinnung von Kontrolle durch gewalttätige Machtdemonstration bewahrt.

Donnerstag, 10. April 2008

Ausgehandelter Sprachgebrauch

Aus den Praxisproblemen meiner Redaktionstätigkeit:

SuS

Was ist das? Eine Weile habe ich gebraucht, um zu dekonstruieren:
Schüler. Ausgehandelt korrekt wurde daraus: Schüler und Schülerinnen. Das wurde dann in der ständigen Benutzung ziemlich lästig. Weiterentwicklung also: SuS. Wohlgemerkt nicht meine Erfindung, sondern üblicher Sprachgebrauch in Unterrichtsmaterialien.
Das ganze liest sich im Text dann so: "Auf dieser Grundlage sollen die SuS eigene Diskussions- und Erörterungsübungen durchführen." Nicht schön, nur für Eingeweihte verständlich, dafür aber korrekt und trotzdem praktisch.

Lehrkräfte

Auch die korrekten Lehrer und Lehrerinnen werden im Dauergebrauch lästig. Klar. Da fand man die Neutralisierung als Lösung. Der Lehrer und die Lehrerin als Kräfte im System. Aber da zeigt sich doch wieder eine Diskriminierung durch Sprache! Während das Geschlechterdiskriminierungsproblem auf der Schülerebene technisch mit einer Abkürzung gelöst wurde, die Menschen dabei quasi zu Buchstaben zusammengestrichen, erfährt dasselbe Problem auf der Lehrerebene eine Lösung, die den betreffenden Menschen besondere Qualität zuspricht.
Zur Vermeidung dieses neu aufgetretenen Diskriminierungsproblems schlage ich zwei Lösungen zur Auswahl vor:

Lehrkräfte und Lernkräfte

Das spiegelte immerhin sprachlich wider, dass zur Aufrechterhaltung
einer Unterrichtskommunikation - die den Kern des Schulsystems darstellt -
zweierlei Arbeitskrafttypen gleichermaßen kraftvoll beteiligt sein müssen.

SuS und LuL

Das hat den Vorzug, dass man sie auch gemischt auftreten lassen kann:
"Die SuL erarbeiten den zweiten Textabschnitt. Auch die LuS sind heute nicht faul und lösen zusammen eine Minimax-Aufgabe."

Montag, 6. November 2006

Fund

shpa-Nachricht 07.11.06: Gestern wurde dem Pressedienst der Fund einer möglicherweise bis zu 850 Jahre alten Handschrift auf einem Eimsbütteler Dachboden gemeldet. Erste Expertenäußerungen schließen die Herkunft des Dokuments aus dem Mittelalter nicht aus. Laut vorläufiger Aussage mehrerer Spezialisten der mittelalterlichen Literatur handelt es sich bei dem in mittelhochdeutscher Sprache verfassten Text ohne jeden Zweifel um ein Exemplar der Gattung Minnesang, genauer um ein sogenanntes Tagelied. Jedoch sei wegen verschiedener kaum zu übersehender Widersprüche in Stil, Form und Material sowie durch die noch ungeklärte Autorschaft der Handschrift die Möglichkeit einer Datierung, ja einer Epochenzuordnung überhaupt, noch völlig ungewiss. Dr. Max Udeka, Experte für deutschen Minnesang an der mediävistischen Bibliothek Eimsbüttel, hält die Handschrift allerdings für eine Fälschung entweder aus dem mittleren 19. oder dem frühen 21. Jahrhundert. Für diese Annahme spräche nicht zuletzt die offenbar weibliche Autorschaft. "Eine Minnesängerin ist zwar aus der Trobador-Literatur der Provence mit Beatriz de Dia in einem Einzelfall belegt, war jedoch im deutschen Minnesang bislang nicht zu finden", erklärte Udeka. Allen Ungereimtheiten zum Trotz kursiert gleichwohl in der so genannten Blogosphäre bereits am Tag nach dem ungewöhnlichen Fund die erste Übertragung des Textes in aktuellem Hochdeutsch.

Tagelied der Laura von Eimsbüttel

1
Ach, auf und aus! Der Morgen graut.
Soeben ist das Wächterlied verklungen.
Und jeder kehrt zurück in seine eigne Haut,
Die Nacht wird später erst besungen.

2
Du Liebster mein, mein allerliebstes Du!
Tauchst auf aus uns, mußt wandern
- Gerade bindest du dir deinen Schuh -
Den Weg zurück zum unbekannten Andern.

3
Doch wanderst du auch fort aus unsrer Welt
Nimmst sie mit dir, wirst für mich unsichtbar -
Was ich durch dich von ihr erfuhr in unserm Zelt,
Ist dennoch mein
Und kann mir keiner nehmen, das ist wahr.

4
Ich blicke dir voll Trauer hinterher,
Ob wir uns wiedersehn, ist ungewiss.
Mein Herz will rebellieren. Es schlägt schwer
Und spricht derzeit nur über seinen Riß.

5
So lasse ich dich also gehn von meinem Bett,
Ich halte dich nicht, du bist nur dein Eigen.
Ein Medium [1] faßt die ganze Welt: das Internet [2],
Es wird auch dich, mein G, mir wieder zeigen.


[1] Hier ist in der Handschrift von einem "zauber mittel" die Rede.
[2] wörtlich: "ein gemeinsam netz"
Anm.: Der Übersetzer offenbart hier seinen unerträglichen Mangel an historischen Kenntnissen.

Sonntag, 1. Januar 2006

Heine in Hamburg

Selten gehe ich ins Theater. Noch seltener gefällt mir, was ich dort zu sehen bekomme. Aber ich liebe Heine. Umso mehr bin ich bezüglich Heines auf dem Theater, das ich immer mit Skepsis betrete, empfindlich.
Die neueste Produktion des Theater N.N. Hamburg
"Heinrich Heine: ... und doch!" kann ich aber wärmstens empfehlen. Von Heinekennern, Theaterprofis und politisch verständigen Menschen gestaltet, liefert diese Produktion ein überzeugendes Heine- und Heine-Deutschlandbild.

Heine_in_Hamburg-001

Fast eine Revue für Schauspieler und einen Musikanten
rund um eine heimatlose Dichterseele
Buch und Regie: Dieter Seidel
Mit Miriam Hensel, Wolfgang Klinke, Klaus Robra und
Hermann Kluck am Klavier und anderen Instrumenten
"Heinrich Heine - auferstanden als ironischer Betrachter seiner selbst - erzählt ungehalten, wohlwollend, boshaft, liebevoll, ironisch, verträumt, kritisch und sehnsuchtsvoll über sein bizarres Verhältnis zu seinem Vaterland. Dabei begegnet er dem Onkel Salomon, begehrenswerten Frauen, seiner großen Liebe Mathilde, seiner Mutter aber auch der Göttin Hammonia ...
Und er trifft auf einen Musiker, der von Heines Texten inspiriert vielfältig musiziert - vom einfachen Volkslied über die Ballade bis zum Jazz.
Gefördert durch die Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg
Wolfgang Klinke, der Heine zum Verwechseln ähnlich sieht, durchwandert diese Stationen sehr überzeugend und wandlungsfähig: Mal springt er in voller Lebenslust über die Bühne, mal zieht er sich melancholisch in sich selbst zurück oder grantelt schmerzverzerrt aus seinem Krankenbett." (DIE WELT)

Der besondere Höhepunkt: Die vollbärtige Göttin Hammonia läßt den Dichter in Deutschlands Zukunft sehen - Medium dafür ist ihr Thron, der sich als gut gefüllter Nachtstuhl entpuppt ... (aus "Deutschland, ein Wintermärchen")

Heine_in_Hamburg-029

Aufführungstermine in 2006
26.01. - 29.01. / 02.02. - 05.02. / 09.02. - 12.02. / 16.02. - 19.02.2006

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Bild: Ivan Montero / fotolia

shift.

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