Dienstag, 19. Dezember 2006

Die Werteerzieher

Und warum gibt es so viele entweder burnout-geschädigte oder zynische, kinderfeindliche, wenigstens resigniert aufs Ende des Tages- und des Lebensdienstes wartende Lehrer? Lehrer, die häufig ursprünglich ihre Arbeit begonnen hatten mit Enthusiasmus und Freude und mit dem Bedürfnis, es besser zu machen als die Lehrer in ihrer eigenen Schülerzeit?

Bei Herrn Rau im Lehrerzimmer erfährt man den Bericht eines gesunden Lehrers, der allen Strapazen standhält: "Wie ich mir meine Arbeitskraft erhalte" ist eine Liste von Eigenschaften, Verhaltensweisen und Rahmenbedingungen, die ein Lehrer braucht, um psychisch gesund durchs Arbeitsleben zu kommen.
Und über Herrn Rau fand ich auch den Link zu einem ZEIT-Interview über Lehrergesundheit mit dem Psychologen Uwe Schaarschmidt:

"Die größte deutsche Studie zur Lehrergesundheit zeigt, dass Pädagogen seelisch stärker belastet sind als Ärzte oder Polizisten. Helfen würden mehr Kollegialität und Selbstbestimmung."

"Lehrer (üben)– was ihre seelischen Belastungen angeht – einen der anstrengendsten Berufe aus. "

"Der Schulalltag ist in ein Korsett von Reglementierungen und Bevormundungen geschnürt, wie sie in anderen akademischen Berufen kaum vorstellbar sind. Diese Art der Fremdbestimmung macht es Lehrern schwer, auch längerfristig Ziele zu setzen und zu verfolgen – eine wesentliche Bedingung psychischer Gesundheit im Berufsleben".


Sich die Fähigkeiten, die Herr Rau hat, anzueigenen, seine privaten Lebensbedingungen so zu gestalten, wie er ("Erst mal habe ich einen Partner, der mir viel Zeit lässt und bei dem ich mich ausheulen kann: Frau Rau, die nicht so heißt."), ist ja schon mal gut zum eigenen Überleben. Aber: Für die nötige radikale Schulentwicklung wird es nicht mehr reichen, sich individuelll selbst zu helfen. Und wenn man keine "Frau Rau" hat?
Also: Wenn sich die Schulen zu Orten des hoch motivierten frohen Lernens verwandeln sollen, dann muß man wohl den Lehrern die Gelegenheit geben, ihren Arbeitsplatz - ihr Tätigkeitssystem - gemeinsam so umzugestalten, daß sie selbst wieder Freude und Sinn in ihrer Arbeit finden können.

Werteerziehung

Respekt als Grundprinzip fordert der Kommentar von Christian Füller zum Taz-Interview mit Wilhelm Heitmeyer. Heitmeyer sieht einen Zusammenhang zwischen Schulsystem und Fremdenfeindlichkeit."Demokratieentleerung" ist seine Gesellschaftsdiagnose. Auf die Frage, ob er etwas von Wertevermittlung in der Schule hält, hat Heitmeyer ein klares Nein:
"Wenn ich höre, dass wir Werte im Schulunterricht behandeln sollen, werde ich unruhig ... Das ist ein Selbstbetrug, der nur der Gewissensberuhigung dient. Wer in der Schule Werte lehren will, hat schon verloren, denn diese proklamierten Werte stimmen mit den prämierten Werten, wie Durchsetzungsvermögen, nicht überein. Die Erfahrungen der Jugendlichen sind doch völlig anders. Dagegen kommt Werteunterricht nicht an. Die Jugendlichen haben diese Heuchelei längst durchschaut."
Ganz richtig: Werte oder Normen –Einstellungen, Haltungen, die sich in einem bestimmten gesellschaftlich erwünschten Verhalten ausdrücken, lassen sich nicht durch Belehrung und kognitiven Unterricht in den Schülern "herstellen". Vor allem dann nicht, wenn die Schüler ständig die Erfahrung machen, dass diese Werte – Solidarität, Mitmenschlichkeit, Akzeptanz, Toleranz, Respekt, freie Meinungsäußerung, usw. – offensichtlich nicht für alle gelten: Davon, daß in der Gesellschaft "draußen" – außerhalb des angeblichen "Schonraums Schule" die Fetzen fliegen und Hauen und Stechen ist, mithin also die Werte und Normen offenbar auch in der Erwachsenenwelt nicht eingehalten werden – soll hier gar nicht die Rede sein. Ich beschränke mich auf mein Tätigkeitssystem: Schule. Und ich spreche von einer guten Schule. Vom Gymnasium. Nicht vom dekompensierten System, von "Rütli", "Emsdetten" oder "Erfurt". Sondern vom funktionierenden System, von einem Gymnasium mit einem guten Ruf. Sogar von einem Gymnasium, das als "schülerfreundlich" im Stadtteil gilt.

Eine ganz normale Begebenheit in eben dieser Schule:

Große Pause. Ein Kollege ist mit mir zusammen im Lehrerzimmer. Geschrei im Flur. Es rumpelt mächtig an die Tür. Der Kollege bekommt eine Zornesfalte über der Nase und knurrt, öffnet die Tür und herrscht den davor stehenden Fünftklässler an: "Kannst Du nicht manierlich klopfen? Noch mal versuchen!" und wirft die Tür vor der Nase des Schülers wieder zu. Erneut großes Geschrei und Poltern an der Tür. Jetzt ist der Lehrer wirklich erbost. So eine Unverschämtheit! Er stürmt zur Tür, reißt sie auf ... und behende huscht eben jener Fünftklässler herein, schaut sich suchend um und rennt dann unter einen Lehrertisch, wo er sich hinkauert. Der Kollege weiß gar nicht, wohin mit seiner Wut: "Was fällt Dir ein, Du hast doch hier gar nichts zu suchen. Das ist doch kein Spielplatz hier!" schreit er und versucht, den Schüler unter dem Tisch hervor zu zerren. Ich sage: "Moment. Langsam. Das ist wohl etwas anderes. Frag doch erst mal, was der Schüler hat. Da stimmt doch was nicht!" Aber der Kollege ist von seiner "Erziehungsberechtigung" so überzeugt, einer Berechtigung, die nicht fragen muß, weil sie weiß, daß Regeln übertreten wurden, und weil es nicht anders sein kann, als daß der Schüler im Unrecht ist. Ich muß ernsthaft mit ihm streiten, um den Schüler im Lehrerzimmer behalten und fragen zu können, was denn los sei. Erst jetzt kommt "man" überhaupt dazu, den Schüler wahrzunehmen: Dieser macht einen gehetzten und verängstigten Eindruck, jetzt mischt sich allerdings Erleichterung hinzu, weil er hier bleiben darf. Und jetzt darf er sprechen. Und jetzt stellt sich heraus, daß er von älteren Schülern verfolgt wurde und in seiner panischen Angst versucht hat, sich ins Lehrerzimmer zu flüchten und dort Hilfe zu holen.

Eine ganz normale Schulgeschichte also. Nichts Aufregendes also. Doch! Aufregen muß man sich! Gerade darüber, daß es eine so normale Geschichte ist!
Welche Werte hat der Schüler in dieser Geschichte wohl gelernt? Daß die Schwachen zu schützen sind, daß Solidarität und Mitgefühl wichtig sind, daß Achtung und Respekt einem jeden zustehen? Wohl kaum.

In der Schule bedeutet Respekt fast immer einseitig das Respektieren von Erwachsenen-Autoritäten. Respektvoller Umgang mit Schülern? "Die sollen erst mal lernen ... (anständig zu grüßen, pünktlich zu sein, ordentlich mit ihren Sachen umzugehen, ihre Leistung zu erbringen...)" In der Schule gilt: Respekt und Akzeptanz kann man sich nur mit Anpassung und "Leistung" verdienen. Sie stehen dem Schüler nicht von vorneherein zu, dem Lehrer als Erwachsenem jedoch generell und qua Amtsautorität sowieso. Dieser kann sie auch kaum verlieren und muß sich wirklich einiges an Schweinereien in Folge "leisten", um sich offizielle Abmahnung zu "verdienen". Den wirklichen Respekt der Schüler kann der Lehrer allerdings schnell verlieren und leicht gewinnen. Denn erstens sind Schüler sensibel und klug und lassen sich nicht einfach hinters Licht führen, und zweitens sind sie zum Glück nicht nachtragend.

Im Konfliktfall mit einem Lehrer ist auch der schon mühsam erarbeitete und verdiente Respekt, den ein Schüler sich erworben hat, wieder hin, denn es gilt: Der Schüler hat im Zweifelsfall immer Unrecht. Immer noch gelten Normen und Systemregeln in der Schule, in denen zumindest implizit die Denkfigur enthalten ist, dass ein Mensch ein Erwachsener sei. Kinder müssten erst noch Menschen werden. Dazu müssten sie – wild und unzivilisiert, wie sie nun einmal als halbe Tiere sind - zur Anpassung an die herrschenden menschlichen Regeln, Normen und Werte gezwungen werden. Triebunterdrückung, Schliff, Brechung des Eigensinns ... Welche Werte kann man damit wohl "vermitteln"? Im Systemblick der Schule, der sich als Blick des Lehrers auf den Schüler konkretisiert, hat Erziehung auch heute noch dasselbe Menschenbild wie im Kaiserreich – auch wenn nicht mehr geschlagen wird: Demütigung, Mißachtung, Verachtung gehören immer noch zum System. Sie sind zwar nicht mehr explizite Erziehungsmethoden, denn das Selbstverständnis ist ein anderes geworden. Aber darum fallen sie denjenigen, die sie praktizieren, den Lehrern, überhaupt nicht auf. Weit von sich weisen sie jeden Vorwurf der Ungerechtigkeit, der Demütigung, der Mißachtung. In Wirklichkeit sind die Lehrer in der Schule jedoch pausenlos angehalten, ungerecht zu urteilen und zu handeln, zu demütigen und zu mißachten. Sie sind dazu ausgebildet worden und sind es gewohnt, so zu handeln ohne sich selbst so zu sehen.

In manchem Lehrerdasein müssen pro Woche Hunderte von Schülern in zig Klassen zu je 25-30 Individuen zusammengefaßt im Kollektiv und im Einzelnen belehrt, ermahnt, erzogen, korrigiert, beurteilt, bestraft, kontrolliert, zensiert werden. Natürlich sollten sie auch ermuntert, amüsiert, erfreut und gelobt werden. Aber dazu ist meist keine Zeit mehr. Denn das System fordert nur die andere Seite ein. "Warum keine Hausaufgaben?" schrieb der Direktor in mein Unterrichtsbuch, das er zur Kontrolle studiert hatte. Und: "Ihr Zensurenschnitt ist zu gut, er weicht von denen der Parallelklassen ab", sagte er auf der Konferenz. Nie habe ich die Anweisung gehört, freundlicher mit den Schülern zu sein, gnädiger oder nachgiebiger. Wenn Schüler einen Lehrer als ungewöhnlich streng oder als ungewöhnlich ungerecht erleben, dann müssen sie kämpfen mit allen Mitteln, damit sie überhaupt gehört und ernst genommen werden. Denn das System reagiert nicht von selbst auf solche Abweichungen. Es dauert meist viele Wochen, in denen Schülervertreter, Elternvertreter, ganze Schulklassen mit Unterstützung der Eltern und unter Einbeziehung des Vertrauenslehrers und gar des Direktors einen solchen Lehrer dazu bringen, seine Abweichung von der geltenden Ungerechtigkeits- oder Strengenorm einzusehen und etwa Noten nach oben zu korrigieren. Nein – letzteres ist unmöglich. Auch eine förmliche Entschuldigung – womöglich öffentlich – eines Lehrers an einen ungerecht behandelten Schüler ist eher nicht zu erwarten. Es würde das System untergraben. Die Schüler müssen sich also damit zufrieden geben, daß erst in der nächsten Klassenarbeit weniger streng bewertet wird, und der ungerecht behandelte Schüler muß froh sein, wenn die Ungerechtigkeit zähneknirschend zugegeben und wortlos rückgängig gemacht wird. Und die Schüler geben sich damit zufrieden. Schüler sind überhaupt leicht zufrieden zu stellen, denn sie erwarten gar keine Wunder. Sie sind eigentlich unglaublich systemkonform. Sie sind überhaupt immer eher defensiv eingestellt und kämpfen überhaupt nur im Notfall, wo es gar zu grob daneben gegangen ist. Aber genau da lauert die Gefahr: Wenn Schüler abwinken und sagen: "Mit dem Lehrer reden? Das hat überhaupt keinen Zweck!" Und sich dann mit einer als zutiefst ungerecht empfundenen Bewertung "zufrieden" geben.

Mittwoch, 29. November 2006

Sinnmaximierung statt Profitmaximierung

In der taz vom 27.11.06 ein doppelseitiges Interview mit Götz Werner, dem Erfinder des "Bedingungslosen Grundeinkommens". Die meisten Politiker halten ihn für einen Spinner - das ist normal. Denn alle Innovators werden von der Majority zunächst für Spinner gehalten. Wir werden auf diese notwendigen Innovation also leider warten müssen, bis auch die Late Majority endlich überzeugt sein wird.
Dabei sieht der Mann vollkommen klar und ist viel weniger ein Spinner als all die Spinner in der Politik, die immer noch wider alle Evidenz behaupten, in Produktion und Dienstleistung wären noch neue Arbeitsplätze zu schaffen. Diese verhalten sich nach wie vor nach dem Motto: Leute, freßt Scheiße - Millionen Fliegen können nicht irren!

Götz Werners Befund: Erwerbsarbeitsplätze verschwinden rapide. Das ist nicht aufzuhalten, denn der Zweck ökonomischen/technologischen Fortschritts besteht ja nun gerade darin, mit immer weniger Einsatz von Arbeitskraft immer mehr zu produzieren.

"Wir haben kein Problem mit der Arbeitslosigkeit. Wir haben ein kulturelles Problem. Zum ersten Mal nach über 5.000 Jahren Menschheitsgeschichte leben wir im Überfluss. Aber wir kommen mit dieser neuen Wirklichkeit nicht klar. Wir schaffen es nicht, dass alle Menschen davon profitieren und daran teilhaben. Die Arbeitslosen haben wir nur, weil wir den Begriff der Arbeitslosigkeit verwenden. Die meisten so genannten Arbeitslosen haben ja Arbeit, sie liegen nicht den ganzen Tag auf der Couch und gucken Pro 7. Sie sind beschäftigt, in der Familie, in der sozialen Arbeit, im Sportverein. Sie tun wertvolle Dinge. Wenn sich jemand um seine Kinder kümmert, dann ist er für die Gesellschaft doch viel wertvoller, als wenn er in einer Fabrik Deckel auf die Flaschen dreht."

Völlig zurecht verlangt Werner die Entkopplung von Arbeit und Existenzsicherung. Die Umsteuerung von der Besteuerung der Einkommen zur Besteuerung des Konsums ist das Mittel dieser Entkopplung.

"Müntefering ist ein paar hundert Jahre zurückgeblieben. Er lebt noch in der Selbstversorgungsgesellschaft, als alle gegen den Mangel gewirtschaftet haben. Damals galt: Wer seinen Acker nicht bebaute und sein Feld nicht bestellte, der war selbst daran schuld, wenn er nichts zu essen hatte. Jetzt leben wir in der Fremdversorgungsgesellschaft. Ich kann gar nicht für mich allein arbeiten. Immer wenn ich arbeite, arbeite ich für jemand anderen. Ich brauche also ein Einkommen, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.
Ich sage: Wir brauchen kein Recht auf Arbeit, jedenfalls nicht auf weisungsgebundene, sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeit. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen ein Recht auf Einkommen. Auf ein bedingungsloses Grundeinkommen"
,

das uns zur Teilhabe an der Gesellschaft befähigt. Dann wird wirklich, was der Stufe der Produktivkraftentwicklung nach schon möglich ist: Daß des Lebens Sinn nicht mehr darin bestehen muß zu arbeiten, zu produzieren, um die bloße Existenz als solche abzusichern - um zu überleben -, sondern umgekehrt darin, auf der Basis gesicherter Existenz zu arbeiten, um den eigenen Lebenssinn zu entfalten:

"Ich frage die Skeptiker immer zurück: Würden Sie selbst aufhören zu arbeiten? Dann antworten sie: Ich doch nicht, ich arbeite aus Begeisterung. Dass sich die Menschen auf die faule Haut legen würden, nehmen wir nur vom anderen an. Die meisten Menschen tragen seltsamerweise zwei Menschenbilder in sich - eines von sich und eines von den Mitmenschen. In dem ersten, spirituellen Bild ist der Mensch ein mit Vernunft und Freiheit begabtes Wesen. In dem zweiten, materialistischen Bild gleicht der Mensch eher einem Tier, da erscheint er als determiniertes Reizreaktionswesen. Diese Vorstellung spiegelt sich in dem Satz: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen billigen wir jedem den Raum zu, in dem er in eigener Verantwortung die Arbeit ergreift, die er für notwendig und sinnvoll erachtet. Wir werden arbeiten, weil wir einen Sinn darin sehen - nicht, weil wir dazu gezwungen sind. Ist nicht erst das eine freie Gesellschaft, in der jeder Verzicht üben kann? In der jeder die Freiheit hat, Nein sagen zu können zu entwürdigenden Bedingungen? Befreit von ihren Existenzsorgen könnten die Menschen ihre Talente entfalten."


Dann kommt die nächste Skeptikerfrage der Late Majority: Das bedingungslose Grundeinkommen für alle - nur über die Konsumsteuer finanziert: Das rechnet sich doch nicht!
Ich vertraue meinerseits allerdings darauf, daß einer, der zu den 500 reichsten Menschen im Lande gehört, OBWOHL er nicht, wie bei solchen sonst üblich, ein großes Vermögen geerbt hat, bestimmt gut rechnen kann.

Montag, 27. November 2006

Ratloser Anti-Rechtsextremismus

Na klar: Jedes Kind hat gelernt, daß man Probleme und ihre Auswirkungen nicht verbieten kann. Wir lernen es, weil wir in unserer Lebenspraxis wiederholt erfahren, daß unser Aussprechen von Verboten keine Macht über die Realität hat. Der Glaube an die Wirksamkeit von Verboten, die mit politischer Macht ausgesprochen werden, hält sich jedoch zäh. Das Problem der Gewalttätigkeit unter Jugendlichen bis hin zu Amoklauf und Selbstmordattentat möchte man verbieten durch Verbot des vermeintlich schuldigen computer game. Ebenso verfährt die Politik gerne mit dem Problem der zunehmenden Attraktivität des Rechtsextremismus. Symbolpolitik zur Vergangenheits"bewältigung" und aktionistisches Getöse mit Verbotsrufen zur Gegenwarts"bewältigung" sind die beliebtesten Abwehrzauber, an die - zumindest von ihren Erfindern und Akteuren - hartnäckig geglaubt wird, auch wenn sie noch nie geholfen haben.

Inzwischen hat sich eine Teilöffentlichkeit allerdings durchgeschlagen zu der Erkenntnis, daß die politisch-juristischen Zaubermittel nichts taugen. "Ein Verbot hilft nicht", weiß di Lorenzo in der ZEIT vom 23. November. Was aber stattdessen? Das weiß er nicht. "Was aber unzweifelhaft den Extremisten hilft, ist die Tatsache, dass es dem parlamentarischen System in Deutschland zurzeit tatsächlich schwer fällt, Anziehungskraft zu entfalten."
Und dann wird es geheimnisvoll: "Das Bedürfnis nach Führung ist etwas grundlegend anderes als der Ruf nach einem Führer", bietet di Lorenzo als Erklärung für die Wahlabstinenz der Mehrheit der Sachsen-Anhaltiner. Und da endet der Artikel denn auch.

In derselben Ausgabe der ZEIT von Thomas Assheuer "Der Übersehene". Ein Artikel mit derselben Struktur wie der di Lorenzos zum Rechtsextremismus: Irgendwie weiß man, daß nicht das "Killerspiel" allein die Ursache für das Selbstmordattentat in Emsdetten gewesen sein kann. Und irgendwie hat es etwas mit "fehlender Anerkennung" zu tun, aber die Erkenntnis bleibt vage und wird nicht weiter verfolgt.

Es scheint, als sei hilfloses Stochern im Nebel und Ratlosigkeit gegenüber der Zunahme von Gewalt und der anwachsenden Attraktivität rechtsextremistischer Ideologie der Preis dafür, wenn Symptome nicht als Reaktionen auf eine Krankheit verstanden, sondern mit der Krankheit selbst verwechselt werden. Anders: Sowohl die zunehmenden Psychiatrisierungen, Selbstmorde und Gewaltexzesse von Schülern als auch der Zulauf zu antidemokratischen ideologischen "Lösungsangeboten" sind Folgen und Symptome derselben "Krankheit" unserer Gesellschaft:
Sie besteht darin, daß weder die Politik-, noch die Erziehungssysteme fähig sind, die Notwendigkeit einer fundamentalen Veränderung aller gesellschaftlichen Systeme infolge der weltweiten epochemachenden Umwälzung durch die Informations- und Kommunikationstechnologien zu begreifen. Und so werden die Menschen von Politik, Medien und Schule weiterhin beschwichtigt, es wird ihnen immer weiter eingeredet, was sie selbst aufgrund ihrer eigenen konkreten Erfahrungen mit der Realität zurecht schon nicht mehr glauben:
Daß es unter Beibehaltung der gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen möglich wäre, die Zukunft zu meistern. Daß es möglich wäre, alles beim Alten zu lassen und sich trotzdem wesentlich zu verändern. Daß es möglich wäre, neue Arbeitsplätze zu schaffen, obwohl es mit Händen zu greifen ist, daß die Zeit der Produktionserwerbsarbeit unwiderruflich vorbei ist. Die Menschen haben dann entweder die Möglichkeit, an ihrer eigenen Realitätswahrnehmung zu zweifeln. Dann können sie noch eine Weile zur Wahl gehen und mal auf diese, mal auf jene Partei hoffen. Oder sie gehen gleich in die Psychiatrie, weil sie am Widerspruch mit sich und der Welt verzweifeln. Oder sie erschießen sich und andere. Oder sie treten einer Sekte bei und finden die Erklärung der Widersprüche und den Sinn ihres Lebens in religiöser (Aber-)Glaubenspraxis. Oder:

Sie klammern sich an die einzige politische Ideologie, die IMMERHIN die Problemlagen als radikale Probleme benennt - wie verquast und falsch auch immer - ,die mit den bisherigen Mitteln nicht behoben werden können, und die dazu radikale Lösungen anbietet - wie schlicht, "populistisch", antidemokratisch und falsch auch immer. Die Menschen werden radikal, weil sie radikale Folgen eines radikalen Umwälzungsprozesses zu spüren bekommen. Statt radikal könnte man auch extrem sagen. Also: Solange die politischen und Erziehungssysteme nicht selbst radikal und extrem werden, und zwar radikal in der Analyse der Probleme, radikal offen in der Kommunikation der Probleme und in Richtung extremer Partizipation aller Menschen an den Entscheidungen über ihre Angelegenheiten - solange werden die Menschen diese notwendige Radikalität eben da suchen, wo sie angeboten wird: Bei der NPD, in Neonazi-Kameradschaften, in extremen gewalttätigen Verhaltensweisen oder in extrem obskuren religiösen Ideologien.

Nicht diese sind "das Problem". Die gesellschaftlichen Probleme sind das Problem.

Dienstag, 21. November 2006

Sinnleere

Jetzt wird wieder einmal mit der Verbotsdiskussion von "Killerspielen", v.a. Counterstrike, Politik gemacht. Die Spiele sind es, die die Jugendlichen zu Amokläufern machen, wird gesagt. Isoliert inmitten des Berichts über die Internetaktivitäten des Schülers findet man im Artikel der Netzeitung über den Amokläufer von Emsdetten die Aussage des Oberstaatsanwalts über das Motiv des Schülers: Er habe unter seiner "Sinnleere" gelitten. Kein Kommentar dazu im Artikel, von einem Kommentar seitens der Politik ganz zu schweigen.
Dabei liegt hier - im Motiv und nicht im Medium - der Anknüpfungspunkt zum Handeln - auch für die Politik.

Erst jetzt entdeckt: Bei mein-parteibuch.de gibt es den vollständigen Abschiedsbrief des Selbstmordattentäters.

Ergänzung 28. 11. 06
Beim Spielverderber findet sich nicht nur eine verständige Interpretation, sondern auch ein interessanter Dialog in den Kommentaren:
>Wie einfach es ist!
Natürlich, die Gesellschaft, die Medien ... alle, alle anderen haben Schuld.
Nur die Wirrköpfe, die sind die Guten, sie haben unser Verständnis, weil sie nicht klar kommen mit unser komplexen, komplizierten Wirklichkeit. Wir würden ihnen so gerne eine perfekte Welt geben und tun alles, um einfache Antworten, mit glasklaren Schuldzuweisungen hinzubekommen, damit erträglich scheint, was wir nicht ertragen können: Uns selbst!<
, meint eine Kommentatorin
Darauf Spielverderber:
>Sprechen Sie, Checkbox, von sich? - Ich jedenfalls kann mich seit einem halben Jahrhundert sehr gut ertragen. Hingegen verabscheue ich vieles von dem, was auch Bastian B. verabscheut hat; z.B. KuschelpädagogInnen & KuschelpsychologInnen, die nicht wahrhaben wollen, was in unserer Welt vor sich geht, und die Botschaften der Jugendlichen seit 30 Jahren ignorieren. Die nämlich brauchen keine windelweichen Erwachsenen, von denen sie mit albernem Pop & Katzengeschichten abgespeist werden, sondern integre Persönlichkeiten, an denen sie ihre Kräfte (auch die geistigen) messen können.
Vergleichen Sie mal all das, was Bastian B. im Netz hinterlassen hat, mit dem Fänger im Roggen, neueren Songs wie Youth Of The Nation von P.O.D. oder auch alten deutschen Schulgeschichten wie dem Hanno-Kapitel der Buddenbrooks, Unterm Rad von Hesse, dem Schüler Gerber von Friedrich Torberg, Jugend ohne Gott von Horvath. Wenn Sie das getan haben, können wir uns gern wieder sprechen.<

Montag, 20. November 2006

Medien, Monster und die Beherrschung der Zukunft

Beim Fuckup-Weblog fand ich heute den höchst interessanten Hinweis auf Susanne Keunekes Vorlesungssfolien "Angstmedien - Medienängste". Wie Michael Giesecke periodisiert auch sie überzeugend die Geschichte der Menschheit als Mediengeschichte. Der Fokus ihrer Untersuchung liegt dabei auf dem Auffinden der Ursachen für die zu Beginn jeder Epoche - eingeleitet durch eine neue Medientechnologie - stattfindende Verteufelung des neuen Mediums. Von der Erfindung der Schrift in der Antike, über den Buchdruck, bis hin zur Erfindung von Kino und Comic findet sie dabei immer wieder dasselbe Muster von Ablehnung und Kampf gegen das neue Medium bis zu seiner gesellschaftlichen Implementierung und Institutionalisierung, mit der das neue Medium adaptiert und akzeptiert ist.
Überzeugend zeigt sie an allen jeweils neuen Medien die Übereinstimmung in den offiziellen Begründungen der Abwehr:
  • Behauptung einer körperlichen Mißbildung durch das neue Medium
  • Behauptung der Entstehung von Aggressivität und Gewalt durch das neue Medium
  • Behauptung der Asozialisation, also der mißlingenden sozialen Anpassung der Nutzer des neuen Mediums
  • Behauptung, das neue Medium mache süchtig und führe zum Verlust der Kontrolle über das eigene Leben
  • Behauptung, das neue Medium würde vom "echten" Leben abhalten
Dazu präsentiert sie historische Zitate, in denen auch deutlich wird, daß das jeweils etablierte, ehemals neue Medium seine nachträglichen kulturellen Weihen und eine Verklärung erhält, indem es vom neuesten "gefährlichen" Medium als gutes Medium abgegrenzt wird, dessen Werte durch das neueste Medium verloren gingen. War das Buch noch bis ins 19. Jh. hinein, ja sogar bis zu Beginn des 20. Jh. zumindest auf dem Land etwas, was vom "eigentlichen" Leben abhielt, die Augen verdarb und Weib und Kind für die Übernahme der vorgesehenen sozialen Rolle "verdarb", so finden wir heute im digitalen Zeitalter nicht nur alle diese Ressentiments gegen Computer und Internet wieder, sondern eben auch die "Verklärung" des (Buch-)lesens.

Im online-Seminar der Friedrich-Naumann-Stiftung zum Thema Hirnforschung, was sagt sie uns für das Lernen? tobt zur Zeit der Bär über die Frage, wann wir unsere Kinder überhaupt vor den Computer setzen dürfen, damit sie nicht biologischen, seelischen und sozialen Schaden nehmen. Hirnforscher, Pädagogen, Mütter und Väter sorgen sich um das Wohl ihrer Kinder angesichts des Monsters Computer. Wissenschaftliche Hauptreferenz ist der Neurobiologe Manfred Spitzer, der erst kürzlich in Psychologie Heute mahnte: "Kauft den Kindern keinen Computer!"

Susanne Keuneke findet als gesellschaftliche Ursache für den Kampf gegen das jeweils neue Medium die Angst der jeweiligen Obrigkeit vor Macht- und Privilegienverlust. Da ist sicher etwas dran.
Welche Privilegien aber hat das Lehrer- oder Neurologen-Individuum durch die Computer literacy der Kinder und Jugendlichen zu verlieren und muß darum "das Buch" - vergessen ist der Kampf gegen die "Schundliteratur" - als Medium gegen den Computer verteidigen?
Was ich hinter der Diskussion mit Pädagogen-Kollegen, nicht zuletzt mit "Medienpädagogen" um die 50 und älter erfahre, ist, daß sie, die in der Gutenberg-Galaxis (McLuhan) sozialisiert wurden, ihre eigenen Ängste vor dem Neuen Medium auf die nächste Generation projizieren, wie ehedem wohl der Lehrer in der Neuzeit seine eigene Angst vor dem erweiterten Horizont, der sich ihm mit dem Buch eröffnete und unbeherrschbar erschien, auf die damaligen Schüler projizierte und darum deren Lektüre unter seine Kontrolle zu bringen trachtete.

Es hilft nichts: Wir "Alten" müssen erkennen, daß wir bestenfalls nur "Digital Immigrants" sind und die Eroberung des neuen Leitmediums durch die "Digital Natives" (Marc Prensky), die Generation der unter 20-Jährigen, nicht verhindern, ja noch nicht einmal kontrollieren können. Wir dürfen es auch nicht, wollen wir die Kinder nicht an der Ausbildung ihrer Zukunftsfähigkeit behindern. Denn deren Ausbildung der Fähigkeit zur Beherrschung des neuen Mediums ist umgekehrt proportional unserer neurotischen Kontrollversuche.
Aber ebenso, wie man seinem Kind nicht ein Bilderbuch vor die Füße wirft - erstes Medium zur Erlernung von Zeichen, die nicht die Realität sind, die sie bezeichnen, sondern auf diese verweisen - sondern es mit ihm zusammen anschaut und "bespricht": Was außer der eigenen Angst vor dem Neuen Medium hindert uns daran, zusammen mit unseren Kindern Computer und Internet zu erkunden und beherrschen zu lernen?

Sonntag, 12. November 2006

Israel – Deutschland – Israel

Empfehlen möchte ich ein Buch, das der Autor gestern in Hamburg vorstellte :

Moshe Zuckermann, Israel – Deutschland – Israel. Reflexionen eines Heimatlosen, Wien 2006 (Passagen Verlag), 219 Seiten, 26 Euro

Moshe Zuckermann, geboren 1949 in Tel Aviv als Sohn Shoah-Überlebender, verbrachte seine zweite Lebensdekade in Frankfurt, wo er mit Adorno und Horkheimer bekannt wurde. In der Hoffnung auf das spezifisch zionistische Projekt eines sozialistischen Staates im Nahen Osten zog Zuckermann 1970 zurück nach Israel, wo er seine wissenschaftliche Karriere mit einem Soziologiestudium begann und seither lebt. Zuckermann ist marxistischer Soziologe und Historiker. Seit 1990 lehrt er am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas an der Universität Tel Aviv und war von 2000 bis 2005 Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte in Tel Aviv. Als heimatlos erlebt er sich nicht nur wegen der Unmöglichkeit, sich als überlebender Jude in Deutschland beheimatet zu fühlen, sondern auch wegen der fundamentalen Enttäuschung seiner sozialistisch-zionistischen Hoffnung, die durch die Folgen der Besatzungspolitik Israels seit dem Sechstage-Krieg 1967 ausgelöst wurde. Heimat – so zitiert Zuckermann Ernst Bloch – ist erst möglich, wenn die Gesellschaft befreit ist.

Sein neues Buch verknüpft persönliche Lebenserfahrung mit weltgeschichtlich bedeutsamem Kontext. Eine Autobiografie zu verfassen, hält sich Zuckermann für nicht bedeutend und noch nicht alt genug, wie er gestern bei der Buchvorstellung in der Universität Hamburg bekannte. "Seinen Narzißmus sollte man privat ausleben – nicht öffentlich", befand er. Jedoch besteht durch die Kontingenz seiner Geburt in den besonderen zeiträumlichen Zusammenhang die Möglichkeit, soziale und politische Geschichte anhand ihrer Spuren im persönlichen Erleben Zuckermanns aufzudecken. "Weil ihm das besondere Schreibtalent eines Klaus Mann" fehle, habe er besondere Aufmerksamkeit auf die Methode seiner Darstellung verwenden müssen – und dabei eine Methode entwickelt, mit der die Umsetzung seiner Intentionen gelungen ist, wie ich finde:
Das Buch besteht aus drei Teilen – der erste Teil: die 50er Jahre in Israel, der zweite: die 60er Jahre in Deutschland und der dritte wieder Israel seit 1970. Die einzelnen Kapitel – jeweils fünf in den ersten beiden Teilen und acht im dritten Teil – behandeln jedes einen besonderen Aspekt der israelischen bzw. deutschen Geschichte. Sie sind alle ebenfalls dreiteilig konstruiert: Zunächst schildert Zuckermann ein persönliches Erlebnis oder eine Anekdote, an deren Kern im zweiten Teil ein besonderer Aspekt des historischen Kontexts entfaltet wird; schließlich rekurriert er im dritten Abschnitt wieder auf die Anekdote, die er nun mittels des gewonnenen Kontextwissens abschließend interpretiert.

Die Verknüpfungen und Befunde sind durchweg interessant und überzeugend. In den historisch-soziologischen Teilen des gesellschaftlichen Kontexts ist Zuckermanns Sprache dem Gegenstand angemessen diszipliniert – in den anekdotischen Teilen ist sie durch unnötige Überladung mit Adjektiven, Pathos und Selbstparaphrasierungen umständlich, wirkt wie eine versuchte Thomas-Mann-Stilkopie und verleiht den Anekdoten beinahe tragisches Gewicht. Schade – ein wenig Humor und Leichtigkeit hätte den Anekdoten besser gestanden und dafür dem Kontext mehr Gewicht beigemessen, der – zumindest laut Absichtserklärung – der Hauptgegenstand sein sollte.
Ich kann dem Eindruck nicht widerstehen, hier den Narzißmus, der privat bleiben sollte, doch noch veröffentlicht zu sehen.

Auf der gestrigen Veranstaltung wurde – wie zu erwarten war – nur zum dritten Teil des Zuckermannbuches gefragt und diskutiert: Welche Perspektive sieht Moshe Zuckermann für Israel? Zuckermann wiederholte und präszisierte hier den schon 2003 in seinem im Konkret-Verlag vorgelegten Band Zweierlei Israel? überzeugenden Befund:
"Israel hat alle Karten in der Hand", so Zuckermann. Weil die Region in Zukunft die zentrale Bedeutung in der Auseinandersetzung zwischen dem Westen und dem sich herausbildenden neuen Osten (China, Indien) haben wird, kann Israel nur überleben, wenn es zu einem Frieden in Nahost kommt. Israel braucht den Frieden für seine Existenz, die davon abhängen wird, ob es als ein Land in der Region akzeptiert wird. Diese Akzeptanz wird jedoch nicht – oder zumindest nicht allein – mit militärischer Stärke erreicht. Aber auch die Palästinenser brauchen zum Überleben den Frieden. Israel muß sich mit Notwendigkeit aus den besetzten Gebieten zurückziehen, alle Siedlungen abbauen, die Jerusalemfrage zur Verhandlung stellen und symbolisch das Rückkehrrecht der Flüchtlinge anerkennen. Das sind nach Zuckermann die Voraussetzungen für eine Zukunft Israels. In einer ersten Phase liege die Zukunft in der Zweistaatenlösung mit der nationalen Selbstständigkeit der Palästinenser. Für eine langfristige Perspektive sieht Zuckermann die Notwendigkeit der Überwindung des Nationalstaats – parallel zur globalen Entwicklungstendenz der Entstaatlichung –, nämlich die Entwicklung zu einer föderativen Struktur (Israel, Palästina, Syrien, Jordanien), in der gravierende gemeinsame ökologische und ökonomische Probleme – wie etwa das zentrale Problem der Wasserversorgung – in gemeinsamer Aushandlung gelöst werden können.

Auf die Frage aus dem Publikum, wer denn "Israel auf die Sprünge helfen" könne, da es offenbar selbst diesen Weg in die Zukunft nicht fände, antwortete Moshe Zuckermann unmißverständlich: Deutschland jedenfalls nicht! Auch Amerika wird es nicht können, da es seine Nahost-Politik erst dann ändere, wenn es Israel nicht mehr für seine geopolitischen Interessen einsetzen könne, sondern sich im Gegenteil durch Israel in seinen geopolitischen Interessen bedroht fühlt. Dann aber würde Amerika "Israel möglicherweise fallen lassen wie eine heiße Kartoffel". Israel wird seine Gesellschaft selbst befreien müssen, so Zuckermann. Die Ermordung Rabins sei eine Tragödie gewesen, denn dieser habe die Unvermeidlichkeit der Rückgabe der Gebiete begriffen und auch das nötige Charisma besessen, um in Israel diese Politik ohne Bürgerkrieg durchzusetzen.

Trotz des kritisierten Stils - Geschmacksfrage vielleicht - ist das neue Zuckermann-Buch nicht nur eine Fundgrube für Informationen über die Geschichte Israels und des Nahostkonflikts, es gibt auch eine interessante Perspektive auf deutsche Geschichte in den 60er Jahren.

In ak - analyse & kritik - ein sehr interessantes Interview mit Moshe Zuckermann über sein Buch, die deutsche Linke und Israel und über den vergangenheitspolitischen Diskurs in Deutschland

Montag, 6. November 2006

Fund

shpa-Nachricht 07.11.06: Gestern wurde dem Pressedienst der Fund einer möglicherweise bis zu 850 Jahre alten Handschrift auf einem Eimsbütteler Dachboden gemeldet. Erste Expertenäußerungen schließen die Herkunft des Dokuments aus dem Mittelalter nicht aus. Laut vorläufiger Aussage mehrerer Spezialisten der mittelalterlichen Literatur handelt es sich bei dem in mittelhochdeutscher Sprache verfassten Text ohne jeden Zweifel um ein Exemplar der Gattung Minnesang, genauer um ein sogenanntes Tagelied. Jedoch sei wegen verschiedener kaum zu übersehender Widersprüche in Stil, Form und Material sowie durch die noch ungeklärte Autorschaft der Handschrift die Möglichkeit einer Datierung, ja einer Epochenzuordnung überhaupt, noch völlig ungewiss. Dr. Max Udeka, Experte für deutschen Minnesang an der mediävistischen Bibliothek Eimsbüttel, hält die Handschrift allerdings für eine Fälschung entweder aus dem mittleren 19. oder dem frühen 21. Jahrhundert. Für diese Annahme spräche nicht zuletzt die offenbar weibliche Autorschaft. "Eine Minnesängerin ist zwar aus der Trobador-Literatur der Provence mit Beatriz de Dia in einem Einzelfall belegt, war jedoch im deutschen Minnesang bislang nicht zu finden", erklärte Udeka. Allen Ungereimtheiten zum Trotz kursiert gleichwohl in der so genannten Blogosphäre bereits am Tag nach dem ungewöhnlichen Fund die erste Übertragung des Textes in aktuellem Hochdeutsch.

Tagelied der Laura von Eimsbüttel

1
Ach, auf und aus! Der Morgen graut.
Soeben ist das Wächterlied verklungen.
Und jeder kehrt zurück in seine eigne Haut,
Die Nacht wird später erst besungen.

2
Du Liebster mein, mein allerliebstes Du!
Tauchst auf aus uns, mußt wandern
- Gerade bindest du dir deinen Schuh -
Den Weg zurück zum unbekannten Andern.

3
Doch wanderst du auch fort aus unsrer Welt
Nimmst sie mit dir, wirst für mich unsichtbar -
Was ich durch dich von ihr erfuhr in unserm Zelt,
Ist dennoch mein
Und kann mir keiner nehmen, das ist wahr.

4
Ich blicke dir voll Trauer hinterher,
Ob wir uns wiedersehn, ist ungewiss.
Mein Herz will rebellieren. Es schlägt schwer
Und spricht derzeit nur über seinen Riß.

5
So lasse ich dich also gehn von meinem Bett,
Ich halte dich nicht, du bist nur dein Eigen.
Ein Medium [1] faßt die ganze Welt: das Internet [2],
Es wird auch dich, mein G, mir wieder zeigen.


[1] Hier ist in der Handschrift von einem "zauber mittel" die Rede.
[2] wörtlich: "ein gemeinsam netz"
Anm.: Der Übersetzer offenbart hier seinen unerträglichen Mangel an historischen Kenntnissen.

Mittwoch, 1. November 2006

Digitale Bohème

Ob der Begriff Bohème auf längere Sicht belastbar genug ist, um das komplexe Phänomen des Ausstiegs aus der Arbeitsgesellschaft zu fassen, ist eine Frage, die man noch später klären kann. Daß aber Holm Friebe und Sascha Lobo mit ihrem Buch Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung in der soziologischen Beschreibung eines wesentlichen Merkmals unserer Übergangsgesellschaft ins Schwarze getroffen haben, steht für mich fest.

Peter Glaser hat dieses Buch so schön mit einer Steilvorlage von Empfehlungsschreiben versehen, daß ich gar nicht erst versuchen werde, damit zu konkurrieren:

"Dieses Buch ist hypermodern, jeder sollte es lesen. Es ist eine wundervolle Analyse von etwas Ununtersuchbarem: den Grundstoffen einer Alchemie des 21. Jahrhunderts nämlich, die versucht, Arbeit in Glück zu verwandeln; in etwas, das man Arbyte nennen könnte. Was Kolumbus mit drei Karavellen geschafft hat, lässt sich nun mit einem Laptop unternehmen. Entdecker wissen heute: Die Welt ist eine Google. Und endlich steuern wir auf das zu, was Technologie tatsächlich bedeutet - nicht, wie in Zukunft Geräte aussehen werden, sondern wie wir im Hier und Netz zusammenleben."

Friebe und Lobo kann man hier in einem Video kennenlernen. Die Begegnung lohnt sich unbedingt.

Sonntag, 15. Oktober 2006

Selbstständige Schule

Die Zeitschrift der GEW, Erziehung und Wissenschaft, beschäftigt sich in ihrer akutellen Ausgabe mit der "Selbstständigen Schule". Hans-Günther Rolff, Direktor em. des Instituts für Schulentwicklung in Dortmund, leitet das Thema mit einem Gastkommentar "Chance oder einfach nur 'ne Mogelpackung?' ein, in dem er die Janusköpfigkeit einer von der Verwaltung angordneten Selbstverantwortung erläutert, die die nötigen Rahmenbedingungen (Strukturen, Ressourcen) verweigert, was möglicherweise zur Folge hat,
"dass Eigeninitiative und interne Evaluation gerade nicht aufblühen sondern verwelken", wenn "Entstaatlichung nicht Entbürokratisierung meint, sondern auf Privatisierung hinausläuft: etwa Schulhäuser verkauft werden und sich der Staat von Fortbildung lossagt. Sehr fragwürdig ist außerdem die Verlagerung ordnungspolitischer Aufgaben auf die Einzelschule (...). Das kann nicht nur zur Fragmentierung führen, sondern auch zum Stillstand..."


In verschiedenen Artikeln zum Schwerpunktthema des Heftes sind außerdem interessante Praxiserfahrungen einzelner Schulen verschiedener Bundesländer mit der "Selbstständigen Schule" zu finden, die je nach Bundesland mal "Selbstverantwortete Schule" (Hamburg), mal "Selbstständige Schule" (NRW, Hessen) heißt. In diesen Berichten wird deutlich, daß die Sorge, mit der Autonomie könne unter diesen Umständen auch eine Entdemokratisierung und Überreglementierung einhergehen, nicht unberechtigt ist. Der gemeinsame Titel der Erfahrungsberichte lautet darum auch "Selbstverantwortung nach Vorschrift", womit das Paradoxon benannt ist, das entsteht, wenn Entwicklungsprozesse vowiegend Top-Down und unter Ignorieren der Stimmen der Akteure vor Ort durchgesetzt werden sollen. Ohne Vertrauen der Politik- und Verwaltungssysteme in die Selbststeuerungsfähigkeit der einzelnen Schulen in Kooperation mit Gemeinden- und Stadtteilinstitutionen und -initiativen wird es nicht gehen.

Freitag, 13. Oktober 2006

Online-Debatte zur Schulentwicklung - Hear all voices!

Seit dem 6. Oktober läuft ein Online-Seminar "Mythen oder Fakten? Schulentwicklung auf dem Prüfstand" der Friedrich-Naumann-Stiftung.
Man muß absolut kein FDP-Fan sein, um den Wert dieser Aktion zu erkennen: Das Projekt mit einem außerordentlich professionellen Design auf allen Ebenen scheint schon kurz nach Durchführungsbeginn zu zeigen, daß es in der Lage ist, eine bundesweite Plattform zu bieten, die nicht nur geeignet ist, Multiperspektivität aus dem Kreis der schulischen Bildungsakteure zu sammeln und darzustellen und damit eine Möglichkeit, der katastrophalen Fragmentierung der Schulentwicklung durch die Föderalismusreform entgegenzuwirken, sondern auch dem Elend der populistischen öffentlichen Bildungsdebatte in den Massenmedien mit avancierten interaktiven Web-Instrumenten etwas an konkreter Diskussionskultur entgegenzusetzen.
Die Themen der Diskussion:
  1. Klassengröße
  2. Migration
  3. Fachkompetenzen
  4. Frühe Bildung
  5. Zensuren
  6. Unterricht
knüpfen an "heiligen Kühen" einer schon ewig währenden Debatte an, versuchen jedoch mit der Bereitstellung von Informationsmaterial und einer umsichtigen Moderation, die Diskussion auf ein höheres Niveau zu heben. Eine kluge Zusammenfassung (pdf, 218 KB) des Zwischenstands zum ersten Thema durch den Moderator Jöran Muuß-Merholz wurde den Diskutanden per mail zugeschickt; während die Diskussion auf dieser Ebene weiterläuft, kann sie ab dem Wochenende gleichzeitig auch mit von der online-akademie ausgewählten Experten weitergeführt werden. Nicht ganz auf der Höhe des demokratischen Systementwicklungsverständnisses scheint hier die Anwendung des Begriffs "Experte" zu sein, denn Experten sind in der Wissensgesellschaft eben nicht nur Wissenschaftler, sondern alle Akteure eines Tätigkeitssystems - hier also Lehrer, Schulleiter, Sozialpädagogen - und eben auch die Betroffenen - Schüler und Eltern. Das mag sicher damit zu tun haben, daß die FDP eher zu denen gehört, die an dem kranken, was der Systemtheoretiker und Steuerungswissenschaftler Helmut Willke mit dem "zyklopischen Blick" (Willke, Atopia) bezeichnet, einem einäugigen, ausschließlich aus einer Perspektive gewonnenen Steuerungsblick, dem für die Anforderung des Zusammenwachsens von Selbststeuerung und Kontextsteuerung - anders: von Bottom-up-Prozessen und Top-Down-Vorgaben - eben das zweite Auge fehlt.

Ob die (demokratisch verstandenen) Experten des Tätigkeitssystems Schule gehört und ihre Stimmen Gewicht für politische Entscheidungen bekommen, liegt jedoch auch an ihnen selbst. Denn die erste Voraussetzung ist, daß sie überhaupt öffentlich sprechen. Und dafür ist hier ein öffentlicher Raum angeboten. So möchte ich dafür werben, sich an dieser Online-Diskussion zu beteiligen, - denn mit der Initiative der FNSt ist immerhin ein Partizipationsangebot gemacht. Und ebenso wie bei den bildungspolitischen Aktionen und Projekten der Bertelsmannstiftung muß man sehr genau prüfen, ob diese Partizipationsangebote jeweils "zyklopisch" sind oder brauchbare Instrumente zur Entfaltung einer politischen Beteiligung bieten.
Bild: Ivan Montero / fotolia

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