Mittwoch, 21. März 2007

Lernunfähige Bildungspolitik

Heute wird der Bericht-des-UN-Sonderbeauftragten (pdf, 193 KB) Vernor Munoz Villalobos in Genf vorgetragen, der vor einem Jahr das Schulwesen in Deutschland inspiziert und deutliche Kritik an dessen selektiver mehrgliedriger Struktur sowie am Föderalismus formuliert hatte.
Aber nichts hilft. Weder die critical friends von außen, noch die zunehmenden Stimmen unzähliger Bildungsforscher und Praktiker innen, noch die unabweisbaren Befunde empirischer Studien bringen Betonköpfe wie die Bildungsministerin Schavan oder den bayerischen Kultusminister Schneider aus der sturen Spur. Wie die Süddeutsche berichtet, wird anschließend an den Bericht des UN-Beauftragten eine gemeinsame Gegendarstellung von KMK und Bundesregierung verlesen, die das deutsche Schulsystem als Erfolgsgeschichte schönredet.
Auweia, was für eine infantile Haltung! Alle sehen und wissen, daß der Michel in die Hose gepinkelt hat - und der Michel weiß es auch. Aber offenbar ist es so peinlich, daß nur Verleugnung noch das Gesicht wahren kann: Nein, ich war das nicht, und die Hose ist auch nicht naß ...

Dienstag, 13. März 2007

„Haupt“-Schule?

Ein Anachronismus zwischen 3 bildungspolitischen Optionen

Das soeben erschienene erste Jahresgutachten des „Aktionsrates Bildung“ – gebildet 2005 auf Initiative des Bayerischen Wirtschaft unter dem Vorsitz von Prof. Lenzen, Präsident der FU/Berlin – bringt neuen Wind in die Strukturdebatte um die „Rest-Schule" der Nation.

Die vor allem von Praktikern geforderte Auflösung der Hauptschule zieht nur Konsequenzen aus einer schon lange sichtbaren Tendenz: In diesem Jahr besuchten in Deutschland nur noch 950 000 Schüler eine Hauptschule, das sind 10% der Schüler an allgemeinbildenden Schulen. Im Saarland waren es 0,3%, in Mecklenburg/Vorpommern 0,7%, in Berlin 4%, in Baden-Württemberg 14 % und nur in Bayern 30%. „Die Hauptschule ist faktisch tot“, „sie ist nur noch eine Restschule“, „niemand will sie mehr als eigene Schulform“ – zitiert Gisela Kirschstein in der Berliner Morgenpost die Urteile von Schulleitern der Hauptschule. Äußerst bedenklich sind aber die von ihr zusammengetragenen Ursachenanalysen: Auf Grund der sinkenden Schülerzahlen steigt der Anteil der Schüler aus problematischen Elternhäusern. Gewalt, Diebstahl, Sachbeschgädigung und permanente Unterrichtsstörungen nehmen immer mehr zu. Die Deklassierung des Abschlusses tut ein Übriges: So sank die Zahl der Ausbildungsberufe für Hauptschüler auf katastrophale Werte. „Das Schulmilieu wird kritisch“, zitiert Kirschstein einen Hauptschulleiter – nicht etwa in Berlin-Neukölln, sondern im pfälzischen Schifferstadt. Dort hatten sie die ganze Palette der Reformmaßnahmen bereits durchprobiert: mehr Praxisorientierung, kleinere Klassen, Ganztagsbetrieb, Betriebspraktika, Schulsozialarbeit – „es hat uns überhaupt nichts genutzt“, so der Schulleiter. Seine Option: Auflösung der Hauptschule.

Das alles berührt die Bildungspolitiker wenig. Ihnen ist eine Verbesserung der Förderung, also eine Weiterführung der Reform, wichtiger als jede Strukturdebatte. In seltener Einmütigkeit erklären sie von Hessens Roland Koch (CDU) bis Berlins Schulsenator Zöllner (SPD), dass die Abschaffung der Hauptschule kein Thema sei. In geradezu grotesker Missachtung der Realität erklärt z.B. Zöllner: „Es kommt immer auf das individuelle Wechselspiel zwischen Schüler und Lehrer an.“ Seine Option: Reform statt Strukturdebatte – so Christa Beckmann in der Berliner Morgenpost.

Da sind offenbar sogar die 7 Weisen des Bayerischen Aktionsrates realistischer - und mutiger. Ihre Forderungen: Rechtsanspruch auf einen kostenlosen Krippenplatz, 2jährige verbindliche Vorschule, Hochschulausbildung für Erzieher, nach einer insgesamt 6jährigen Grundschule eine Aufgliederung des Schulsystems in Gymnasium und Sekundarschule, staatliche Schulen in privater Trägerschaft, um ihre Autonomie zu stärken; Grundfinanzierung und eine Berechnung weiterer Zuschüsse pro Schüler; befristete Verträge und leistungsabhängige Gehälter für Lehrer, die von den Schulen festgesetzt werden. Lehrer mit zwei Korrekturfächern sollen mehr verdienen und die Übernahme zusätzlicher Aufgaben honoriert werden. Diese Option für eine radikale Strukturveränderung bedeutet zwar eine Abschaffung der Hauptschule, aber auch eine Verhinderung der Einheitsschule. Auf die Reaktion der GEW darf man gespannt sein.

Montag, 12. März 2007

Virtual und Real Life

Mit einem realen Blumenstrauß - siehe Foto - wurde ich heute herrlich überrascht, als ich von der Arbeit kam. Er duftet echte Düfte in meine Nase und ich kann ihn hin- und herbewegen im realen Raum, und auch, wenn ich meinen Laptop runterfahre, steht er noch da.

Wer schickt mir denn Blumen? Sowas passiert mir nie. Und Geburtstag habe ich auch nicht. Die beiliegende Karte verrät: Es war Kreide fressen aka Hokey aka Heiko, der sich damit noch einmal bedankte für ein paar Lehrmittel, die ich ihm kürzlich überließ. Die Exposition derselben war ja schon ein schöner Dank gewesen und hatte mich und den privaten Postdienst schon sehr begeistert. Vielen vielen Dank, realer Heiko, bzw. virtueller Kreidefressenhokey für diese absolut gelungene Überraschung:

Heikos-Blumen-1-

Der echte Strauß ist Ergebnis virtuellen Lebens. Sag also keiner, virtuelles Leben wäre kein echtes Leben!

Montag, 26. Februar 2007

Leviathan

Gestern kam ich endlich dazu, einen ZEIT-Artikel zu den Aussagen der BND-Beamten über ihren Besuch bei Kurnaz in Guantanamo zu lesen. (Wegen TV-Abstinenz bin ich den Aktualitäten immer hinterher und sammle dafür als Nachhut die Reste auf.) Dieser Bericht hat mich erschüttert: "Der gehört nicht hierher" von Florian Klenk. Es ist der Leviathan, der sich zeigt, und sichtbar wird eine moralisch-politische Verwahrlosung, die offenbar in den "Diensten" – und nicht nur da – ganz normal ist:

"Am Abend ihrer Ankunft im Lager, damals 2002, saßen die deutschen Agenten gemeinsam mit ihren US-Kollegen von der CIA beim Abendbrot, um Hintergrundinformationen< auszutauschen. Schon damals klagten die amerikanischen Beamten über das Gedränge in den Käfigen. Es seien zu viele Unschuldige hier. Da gab es etwa den >sehr betagten Häftling, der weit über 90 Jahre< alt war. Oder einen 14-Jährigen. Die Deutschen sahen auch eine >beidseitig beinamputierte, zuckerkranke Person<. Diese Häftlinge, so erzählte der CIA-Kollege, >waren unstreitig nicht in terroristische Aktivitäten verwickelt<. Dennoch saßen sie in Käfigen. Der kafkaeske Grund für die fortdauernde Gefangenschaft wurde in Guantanamo im kleinen Kreis offen ausgesprochen: Ihr ungerechtfertigter Aufenthalt im Lager, sagte man, könnte ein möglicher Grund für spätere Gewaltbereitschaft sein. Das Problem, so erklärten die CIA-Leute den Deutschen, sei nun, dass Freigelassene >nach ihrer Rückkehr zu Märtyrern< würden. Dies >würde den politisch Verantwortlichen großen Schaden zufügen<".

Aber das ist die Logik von Mördern, die ihre Mordtat damit rechtfertigen, daß sie, nachdem sie das Opfer beraubt, vergewaltigt, verletzt haben, zur Vermeidung unangenehmer Folgen für den Verbrecher ihm nun zwangsläufig auch das Leben nehmen mußten, damit es die Taten nicht bezeugen kann. Und weiter:

"Nein, über Folter habe sich Kurnaz nicht beschwert, sagen die Beamten. Aber sie hätten ihn auch nicht danach gefragt. Das sei Aufgabe von amnesty international oder dem Deutschen Roten Kreuz."

Gesellschaftliche Arbeitsteilung: Die Beamten des Leviathan schänden Demokratie und Menschenrechte im Auftrag oder mit Billigung des Staates. Die Menschen vor dem Leviathan zu schützen und die Menschenrechte zu wahren, sei hingegen die Arbeit von NGOs.
Mir wurde anderes beigebracht. Einen Rechtsstaat hätten wir, der per Verfassung und mit staatlichen Institutionen dem Leviathan die Zügel anlegt. Diese "Dienste" samt ihrer Verantwortlichen im Politiksystem sind Überbleibsel aus dem absolutistischen machiavellistischen Staat und ihre Akteure denken offenbar wie dieser – sie vernichten Demokratie und Menschenrechte mit der Behauptung, im Interesse des Staates zu handeln und halten das für eine Frage des Abwägens von Sicherheit gegen Freiheit. Und was sagt Schröder? Steinmeier sei eine integre Person, und er – Schröder – übernähme die politische Verantwortung. Wie soll denn das gehen? Politische Verantwortung übernehmen kann man doch nur, wenn man ein Amt hat, von dem man dann zurücktritt. Der gute Mann ist aber schon a. D. und also privat. Die Floskel "politische Verantwortung übernehmen" ist inzwischen ein genauso verlogener Schmarrn wie die des "Sich- Entschuldigens". Antisemitische Affekte in der Öffentlichkeit geoutet, rassistische Einstellung offenbart? – kein Problem, man "entschuldigt sich" einfach (selbst? – wie soll das gehen? Man kann höchstens um Entschuldigung bitten) und dann muß aber auch gut sein. Unschuldig 4 Jahre im Guantanamokäfig gefangen und gefoltert? – Ein Kanzler a. D. "übernimmt die politische Verantwortung" und damit ist alles in Ordnung. Gewiß war das Vorgehen die "frühere politische Linie bei der inneren Sicherheit", Steinmeier hat also nicht eigenmächtig gegen Regierungswillen gehandelt. Aber wird denn das Handeln dadurch etwa richtiger?

Dienstag, 20. Februar 2007

Bilder vom Holocaust-Mahnmal

Mahnmal1

Mahnmal2

Mahnmal3

Mahnmal4

Aber was hast Du auf dem vierten Bild eigentlich fotografiert? Den Hubschrauber am Himmel? – das fragte mich G., dem ich die Bilder zeigte.

Ich habe das Mahnmal mit Kontext fotografiert – Hubschrauber, umliegende Häuser, Menschen die sich darin aufhalten –, denn mir ist aufgefallen, daß viele offizielle Fotos das Mahnmal als Objekt ohne Umwelt abbilden und ohne Besucher. Das Stelenfeld selbst, in "reinem" Zustand, die Tafel mit der Besucherordnung, die verlangt, daß man nicht läuft, nicht raucht oder ißt, nicht laut redet, nicht auf den Stelen herumturnt, irritieren mich. Der "reine" Zustand, das ist eine Interpretation dieses Monstrums, die "erhabene" Gefühle hervorrufen will. Ich habe dann den starken Eindruck, daß es eigentlich ein Mahnmal der Selbstdarstellung der Berliner Republik ist, eine Performance fürs Ausland: "Schau her, Welt, wie perfekt wir die Sünde unserer Väter bewältigt haben". (Kopf geneigt, Augen niedergeschlagen, Hände vorm Sack zusammengelegt und in "Betroffenheit" gemacht.) Und gleichzeitig die obszöne geizige Art der Zwangsarbeiterentschädigung, das Feilschen um jeden Euro, der nicht gezahlt werden muß und die letztlich lächerlichen Summen, die ausgezahlt werden. Und immer weniger Überlebende, die überhaupt noch entschädigt werden können/müssen. Und immer noch aktuelles Geschehen, gerade letztens wieder: Erwiesene Täter, die nicht ans Ausland ausgeliefert werden, wo sie ihre Taten begangen haben, nach deutschem Recht aber nicht verurteilt werden, weil zwar Mord nicht verjährt, aber nur der hier als Mörder gilt, der die "Liquidierung" eigenhändig vorgenommen hat, nicht der, der sie angeordnet oder beaufsichtigt hat. Immer noch eine Art Komplizenschaft. Im Deutschen Historischen Museum gibt es in der Abteilung Holocaust kein einziges Foto von einem Täter. Nicht einmal ein Bild von Himmler. Ein Verbrechen ohne Täter. Etwas Eigenartiges ist geschehen, wofür das Mahnmal ein Beispiel ist: Das Verbrechen wird ausschließlich mit den Opfern in Zusammenhang gebracht – nicht mit den Tätern. Man ist dabei, den Opfern individuelles Gesicht zu geben, das ist löblich. Die Ausstellung – genannt "Ort der Information" – tut das ganz vorbildlich. Aber es ist eben kein einziger Täter zu sehen. Du siehst die Bilder von Ermordeten, aber keinen, der es getan hat. All diese grinsenden und lachend mit ihren Opfern posierenden Wehrmachtssoldaten, die man in der 1. "Wehrmachtsausstellung" auf Landserfotos zuhauf hat sehen können – wo sind sie auf einmal? Wie weggeblasen! In Yad Vashem ist das richtig. In Deutschland ist es falsch.
Die Befürchtung Walsers, es handle sich um die "Dauerpräsentation unserer Schande" ist völlig abwegig. Im Gegenteil: Das Denkmal heißt im Metatitel: "Wir sind wieder gut."

Donnerstag, 8. Februar 2007

Vernichtung durch Arbeit

Dieser Satz war für mich bislang reserviert für die systematische und bewußte Ausrottung von Zwangsarbeitern in deutschen Lagern der NS-Ära. Ich bin überhaupt nicht geneigt, die verschiedentlich so beliebten "Vergleiche" anzustellen wie: "Hühner-KZ", Saddam = Hitler, Milosevic oder Bush = Hitler, und schon gar nicht die nicht selten anzutreffende Gleichsetzung israelischer Politik gegenüber den Palästinensern mit dem deutschen Völkermord an den Juden. Aber es gibt Sätze, die stimmen auch anderswo. Und es geht nicht um "Vergleiche" und Gleichsetzungen.

Vernichtung durch Arbeit - ist einfach das, was mir zuerst als allgemeiner Kommentar einfällt, wenn ich Martin Spiewaks Bericht in der heutigen ZEIT-Ausgabe lese: "Ende einer Dienstzeit. Eine Lehrerin stirbt." Gestorben ist Petra Sperfeld, Grundschullehrerin an der Mariannen-Schule in Essen, am Herzinfarkt. Sie wurde 51 Jahre alt und hatte 24 Arbeitsjahre hinter sich.

Spiewak geht der Geschichte der Lehrerin nach und findet vor allem dies: Daß sie gestorben ist an der Vernichtung ihres Selbstwertgefühls. "Zerbrach sie unter dem Druck der Reformen?", fragt Spiewak im Untertitel seines Artikels. Diese Frage ärgert mich, denn sie suggeriert zunächst, daß es die - endlich in Gang kommenden - Reformen sind, denen die älteren Lehrer nicht gewachsen sind. Aber im Artikel selbst wird es dann genauer: Die Reformen werden ohne die Beteiligung der Lehrer gemacht, von oben aufgepropft, anstatt die Hauptakteure mitzunehmen. Ich weiß, wovon die Rede ist - denn ich war nicht nur selbst über 20 Jahre Lehrerin, ich weiß auch, wie "Schulreform" zuweilen beinahe gewalttätig "gemacht" wird, um vermeintlich endlich schneller Ergebnisse willen - wir wissen, es sind Milchmädchenrechnungen! -, wenn das gerade wieder neu ausgerufene Reformmodell das Ruder bei laufendem Betrieb herumreißen soll, wenn die Entwicklung nichts kosten darf, wenn den Lehrern weder die Initiative, noch Mitsprache, noch überhaupt Zeit dafür eingeräumt wird. Zeit ist vielleicht das wichtigste, was fehlt. Die Kollegien sollen im alten Modus weitermachen wie bisher und gleichzeitig das Neue entstehen lassen, aber rucki-zucki jetzt! Und dann bitte zu den Vorstellungen der Bildungsadministration, die nicht immer weiß, was in der Schule eigentlich los ist, und die meist nur sehr vage, häufig sogar falsche Vorstellungen von "guter Schule" hat.

Nicht umsonst hat man in Finnland zu Beginn der großen Bildungsreform den betroffenen Lehrern die Unterrichtsverpflichtung gekürzt und die Klassen verkleinert, - bei gleicher Bezahlung versteht sich! -, damit sie das Neue lernen, erproben und selbst mitenwickeln konnten. Hier aber versteht man offenbar unter Veränderung immer noch etwas Militärisches. Neuer Befehl: Kehrt marsch! angeordnet und zack! Selbst in der Entwicklung zu Neuem zeigt sich noch das alte preußische System von Befehl und Gehorsam. Was die Schulräte und Inspektoren und andere Vorgesetzte und Administratoren - die vermutlich nicht deshalb auf ihrem Posten sitzen, weil sie selbst besonders gute Lehrer waren - in besagter Schule angerichtet haben, sollte man unbedingt in Martin Spiewaks Artikel nachlesen.

Ich möchte dazu nur soviel sagen: Jeder halbwegs verständige Organisationsentwickler weiß inzwischen: Wirkliche Entwicklung gibt es nur MIT den Subjekten eines Tätigkeitssystems. Und: Transfer von Innovationen durch Kopieren von einer Organisation in die andere funktioniert nicht.
Nicht die Reform tötet - sie wird ja dringend gebraucht, denn auch das Alte ist ja nicht mehr auszuhalten. Was tötet, das ist der Mix aus Überforderung durch ein irres Arbeitspensum (wie es für Lehrer sonst in keinem anderen Land gilt), durch dysfunktionale Systemstrukturen und durch eine absolut veraltete Vorstellung vom Lernen und von der Lehrerrolle, wie sie nun mal in der Ausbildung gelernt wurde. Daß LehrerInnen, wie die verstorbene Petra Sperfeld, trotzdem beliebte und gute Lehrerinnen waren, ist ihr Verdienst. Sie haben ihre Expertise in ihrer Arbeitspraxis selbst erworben. Wenn dann also zu all diesen schwierigen Bedingungen, die einen Lehrer in Deutschland bis zum Übermaß und Zusammenbruch fordern, noch Mißachtung und Abwertung durch die Obrigkeit kommt, wie es im Falle der Petra Sperfeld geschehen ist, dann muß man sich eher wundern, wenn nicht dauernd solche frühen Tode im Dienst vorkommen. Und sie kommen vor. Erst letzte Woche ist in meinem Bekanntenkreis ein Lehrer - auch erst Anfang 50 - an einem Schlaganfall gestorben. Kein Wunder, daß gerade jetzt, denn diese Zeit um die Halbjahrszeugnisse + Abitur herum ist die stressigste Lehrerzeit überhaupt.
Zu fordern, die Lehrer müßten eben eine "robuste Psyche", ein "dickes Fell" haben - zu testen vor dem Lehrerstudium -, ist oberzynisch. Woher soll dann ihre Sensibilität für die Kinder kommen? Und: Ist es nicht eine wunderbare Tätigkeit, anderen beim Lernen und ihrer Entwicklung zu helfen? Wieso braucht man dazu eine ruppige Konsistenz? Da stimmt doch in der Vorstellung vom Lernen und Lehren irgendwas nicht!

Unsere jetzige Schule macht kaputt. Schüler, Lehrer, auch Mütter. Und mich macht sie außerdem wütend. Noch wütender macht mich aber, daß alle Erkenntnisse und Einsichten, alle Ratschläge von echten Experten, sei es zur Lerntheorie oder zum Organisationslernen, in der Bildungspolitik in Deutschland genauso ankommen, als hätte man einen Ochs ins Horn pfetzt, wie die Schwaben sagen, was heißt: gar nicht. Einfach unbelehrbar. Nur leiden und sterben müssen daran nicht die, die es verbocken, leider.

Sonntag, 4. Februar 2007

Nachhaltig und demokratisch! Schule zukunftsfähig gestalten

Unter diesem Motto fand am 30. und 31. Januar 2007 eine gemeinsame Tagung der beiden BLK-Programme Transfer 21 (Bildung für nachhaltige Entwicklung) und Demokratie lernen & leben im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg (LI) statt. Der Einladung der Projektleiter Regina Marek und Wolfgang Steiner sowie des Projektkoordinators Charly Nobis waren rund 300 Bildungsakteure gefolgt:
"Beide Programme haben das Ziel, Schülerinnen und Schüler als Subjekte ihres eigenen Lernens zu aktivieren sowie ihre demokratische Handlungskompetenz und ihre Bildung für nachhaltige Entwicklung zu fördern. Im Sinne der Initiative 'Hamburg lernt Nachhaltigkeit' zur UN-Dekade 'Bildung für nachhaltige Entwicklung' (2005-2014) wollen wir die Transferstrate-gien beider Programme weiterentwickeln", hieß es in der Einladung zur Tagung.

Auf der Tagung ging es nicht mehr darum, zu klären, worin die Zukunftsfähigkeit von Schule besteht – denn darüber waren sich Veranstalter und Teilnehmer im Wesentlichen einig. Stattdessen bestand die Besonderheit der Tagung einerseits in der Zusammenführung zweier Säulen der internationalen Entwicklungsanstrengungen in der Bildung – der "education for sustainable development" und der "civic education" – und andererseits im Fokus auf die komplizierte Aufgabe des Transfers von Entwicklungserfahrung. Gute Modelle, kluge Konzepte, gelungene Praxisbeispiele gibt es in Hülle und Fülle. Die Herausforderung besteht darin, die Konzepte und Instrumente der beiden Schulentwicklungsprogramme, die in den vergangenen Jahren an zahlreichen Schulen erprobt und institutionalisiert wurden und jetzt zusammengenommen eine umfangreiche Schatzsammlung an "good practices" bilden, zu verbreiten und im Regelsystem – also in allen Schulen – zu implementieren. Wie aber sieht ein gelungener Transferprozess aus? Wie vervielfältigt man "gute Schule"? Oder genauer: Wie bringt man Schulen – und Lehrer – dazu, sich zu verändern?

weiter Tagungsbericht_Januar07 (pdf, 589 KB)

Samstag, 27. Januar 2007

Bewertung und Zertifikat in der Schule

Kürzlich gab es bei Robert Nitsch anläßlich der nationalen Halbjahreszeugnisse eine Diskussion über Zensurengerechtigkeit.
Schülern muß zuweilen die Bewertung ihrer Leistungen zurecht als willkürlich und ungerecht erscheinen, wie Robert, dessen Leistungen im gleichen Fach von dem einen Lehrer mit "gut", von einem anderen mit "mangelhaft" bewertet wurden. In meinem ausführlichen Kommentar habe ich das Problem der Gerechtigkeit - neben dem Faktum der Subjektivität aller Bewertung - auch als eine der Folgen der Paradoxie des Schulwesens dargestellt: Einerseits soll die Bewertung Aufschluß über den Lernstand des Schülers geben - also pädagogische Funktion haben -, andererseits ist Bewertung verknüpft mit Zugangsberechtigung zu weiteren Lern-, bzw. Ausbildungs- und damit Lebensschancen - also eine Zuteilung von sozialen Möglichkeiten.

Die virtuelle Akademie der Friedrich-Naumann-Stiftung beginnt am nächsten Freitag (2.2.07) mit ihrem 5. Thema aus der Reihe "Mythen oder Fakten? - Bildungspolitik auf dem Prüfstand". Die These, die wie immer der Ausgangspunkt der online-Diskussion sein soll lautet diesmal:

„Ziffernoten sind ein besseres Beurteilungsinstrument als Verbalbeurteilungen!“

Wie schon in den vier Diskussionsrunden davor, trifft auch diesmal die etwas bemüht provozierende Behauptung gar nicht den Stand der Debatte. Denn ob Zensuren oder Berichtszeugnisse - an dem Problem der Zertifizierung als Zugang für weitere Bildungs- und Lebenschancen ändert sich durch diese Alternativen gar nichts, und die Diskussion ist längst anderswo.
Trotzdem ist auch diesmal zu hoffen, daß durch die Community der Diskutanten - einer bunten Mischung aus Bildungsakteuren, Eltern und anderen Interessierten - die Diskussion wieder das gewohnte aktuelle Niveau erreichen wird. Nicht zuletzt auch mit dem für dieses Thema engagierten Experten (im traditionellen Sinne: einem Hochschullehrer) Prof. Hans Brügelmann, der zum Glück nicht so verschnarcht ist wie die "Thesen" der Akademie, mit denen zwar Kernprobleme der Schulmisere angesprochen waren (Klassengröße, Migrationshintergrund, Sozialkompetenz vs. Fachkompetenz, Frühe Bildung, Bewertung, Unterricht), die jedoch auf Stammtischniveau formuliert zuweilen anstatt Diskussion wirklich in Gang zu setzen, manchmal eher hinderlich waren. Nur die Entscheidung der Diskutanten, die Fragestellungen nicht so ganz ernst und wörtlich zu nehmen und stattdessen weit über sie hinaus zu gehen, ermöglichte bisher eine ertragreiche Diskussion.

Das Bewertungsproblem wird seit einiger Zeit in der Schulentwicklung auf einer ganz anderen Stufe diskutiert, als es die obige "These" nahelegt. So geht es einerseits darum, Möglichkeiten zu finden, wie sich Schüler selbst zu bewerten lernen - und damit die pädagogische Funktion der Bewertung von Lernergebnissen in die eigenen Hände nehmen. Im Institut Beatenberg ("Eigentlich wäre Lernen geil") existieren dafür eigens ausgearbeitete überzeugende Instrumente, die schon viele Jahre erprobt wurden und die sich bewährt haben. Die Max-Brauer-Schule in Hamburg hat Elemente des Systems Beatenberg übernommen und wurde kürzlich erst mit dem Deutschen Schulpreis des Bundespräsidenten ausgezeichnet. Eines der wichtigsten pädagogischen Prinzipien dieser Gesamtschule: Die Schüler "übernehmen die Verantwortung" für ihren Lernprozess, wie das heute so schön heißt, und dazu gehört, daß sie sich nach gemeinsam bestimmten Kriterien selbst bewerten.
Eine zweite wichtige - aber überhaupt nicht neue Idee - gewinnt zunehmend an Wirklichkeit in der Schulpraxis: Das Portfolio als Ersatz für Zeugnisse oder wenigstens als "Anlage" an Zeugnissen. Ein Portfolio (im pädagogischen Sinne) ist eine Sammlung von dokumentierten Leistungen, die sich der Schüler im Laufe seiner Schulzeit - oder begrenzt: der Zeit der Sekundarstufe - erarbeitet hat. Schon seit einiger Zeit sind weder die Ausbildner und Arbeit"geber" am freien Markt noch die Universitäten und Fachhochschulen an Zeugnisnoten interessiert, sondern vielmehr daran, was ein Schüler während seiner Schulzeit "gemacht" hat. Dabei sind sogar häufig Kompetenzen und Leistungen, die neben und nicht in der Schule erworben wurden, viel wichtiger als die Note in Deutsch oder in Mathematik - wie etwa die ehrenamtliche Tätigkeit als Jugendgruppenleiter im Sportverein oder die Redaktion der Schülerzeitung, über die im Zeugnis nichts steht.
Über die Vorzüge von Portfolios als Leistungsnachweis und Zertifikat gegenüber dem Zeugnis liest man z.B. bei Thomas Rihm beitragrihm_neu1 (pdf, 147 KB) und bei Thomas Häcker haecker-lernvertraege01 (pdf, 75 KB), beide dem "subjektwissenschaftlichen Ansatz" zur Schulentwicklung verpflichtet.

Der Diskussion in der Online-Akademie der FNSt ist zu wünschen, daß sie zumindest diesen Standard berücksichtigt.

Aktualisierung: Die FNSt hat den Beginn des 5. Themas Der "Mythen-Fakten"-Diskussion wegen Bauarbeiten an der Plattform um eine Woche auf Freitag, den 9.2. verschoben.

Dienstag, 23. Januar 2007

Postdemokratie – Verfall oder Neukonstruktion der Demokratie?

Der Diagnose, die der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch in seinem Buch "Post-Democracy" (2004) für die Demokratie stellt, wurde in den Massenmedien bisher noch wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Kurzgefaßt lautet sie: Die Demokratie geht ihrem Ende entgegen, sie verfällt. Parteien und Parlamente verlieren an faktischer Politikmächtigkeit sowie an Legitimation im Urteil sowohl der wirtschaftlich Mächtigen als auch der "Verbraucher"/des "Volkes"/der "kleinen Leute". Da die demokratischen Repräsentanten immer weniger in der Lage sind, die Vielfalt an zunehmend komplexen Problemen und Aufgaben zu begreifen, geschweige denn zu lösen, ist die faktische Politikentscheidung schon seit längerem auf "Experten", Lobbyisten und Kommissionen übergegangen, denen eine demokratische Legitimierung durch Wahl jedoch fehlt (vgl. z.B. die hohe Bedeutung der Bertelsmannstiftung als Politikberatung über Parteigrenzen hinweg. Bertelsmann berät jede Regierung). Angesichts dieser Entwicklung reagieren die Wähler überall in Europa mit Enttäuschung und Abwendung von "der Demokratie", zu sehen am ständigen Absinken der Wahlbeteiligung. Die Politik veränderte dabei ihr Gesicht: Anstelle der Programm-Debatte tritt mehr und mehr der Personenkult, statt Politik wird Marketing betrieben, Infotainement ersetzt seriöse Berichterstattung, Parteien sind zu Kanzlerwahlvereinen mutiert. Überall in Europa ist der "Rechtspopulismus" auf dem Vormarsch, der verspricht, die ungelösten Probleme ohne lästige Debatten und schwierige Kompromissfindung in Aushandlung zu lösen – mit dem starken Mann, der weiß, was und wie es zu tun ist (Beispiel Berlusconi). So richtig der Befund des Verfalls demokratischer Kultur, so einäugig gleichzeitig und so ratlos in Sachen Therapie ist Postdemokratie-Debatte.

Die aktuelle Ausgabe der ZEIT nimmt die Post-Democracy-Debatte auf und stellt sie in einen neuen Zusammenhang: In seinem Interview mit vier demokratisch gesinnten skeptischen Deutschen, "Wenn das Volk zweifelt. Glauben Sie noch an die Demokratie?", konfrontiert Frank Drieschner Crouchs Befund mit der neuesten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, wonach rechtsextreme Einstellungen (gemessen an der Ausländerfeindlichkeit) "in der Mitte der Gesellschaft" einen Großteil der Bevölkerung befallen hat. Dabei verweist Drieschner auch auf ein Paradox in den Ergebnissen der Studie:
"Im Prinzip sind die Deutschen gute Demokraten; die Autoren der Friedrich-Ebert-Stiftung messen für die parlamentarische Demokratie sogar Zustimmungswerte über 90 Prozent – ein Befund, der seltsam unverbunden zwischen ihren schrillen Extremismuswarnungen steht."
Worin also liegen die Ursachen der Hinwendung zum "Rechtspopulismus" und das Anwachsen ausländerfeindlicher Einstellungen? Ein Interviewpartner Drieschners formuliert: >"Nicht die Demokratie ist das Problem. Es ist die Art und Weise, wie die Demokratie praktiziert wird."Die Post-Democracy-Vertreter sehen den Verlust der Legitimität der Parlamente darin begründet, dass sie "um besserer Ergebnisse willen Entscheidungen an mangelhaft legitimierte Expertengremien delegieren. Wer dem Rentner und dem Steuerberater [Interviewpartner Drieschners] zuhört, für den liegt ein anderes Urteil nahe: Nicht die Art ihres Zustandekommens, sondern die Qualität der Entscheidungen selbst könnte es sein, sei es nun in der Ausländer- oder in der Steuerpolitik, die Zweifel an der Demokratie sät. Und würde eine bessere Einbindung von Experten daran etwas ändern, dann könnte die Politik, die dieses Resultat erzielt, sich der Zustimmung [...] sicher sein."
Das ist unbedingt plausibel: Es geht in erster Linie um die gesellschaftlichen Probleme und ihre Lösung. Ideologie ist sekundär.

Werner A. Perger stellt über seinen Beitrag "Die Stunde der Rattenfänger" Ralf Dahrendorfs Warnung von 1997:
>"Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert."
Um eine solche Zukunft zu vermeiden, empfiehlt der ZEIT-Autor "einen klugen Mix aus direkter Bürgerbeteiligung", verweist allgemein auf "erprobte Partizipationsmodelle [...], alte und neue, in aller Welt, in großen Städten und kleinen Gemeinden, von Brasilien bis Finnland, sogar da und dort in Deutschland" und bemängelt, daß sie in Deutschland so gut wie unbekannt seien. Recht hat er mit der Richtung, in die es gehen muß: Partizipation. Wichtig zu wissen wäre aber auch, dass gerade die Bertelsmannstiftung zwar einerseits die effizienteste Politikberatung betreibt – also den Politikern besonders in der Standort- und in der Ressourcenpolitik (vgl. german-foreign-policy) die berühmten "nicht demokratisch legitimierten Experten" zur Seite stellt. Andererseits aber ist die Bertelsmannstiftung gleichzeitig größter Herausgeber und Förderer des Einsatzes einer Fülle von Instrumenten auf der kommunalen Ebene für Bürgerbeteiligung und in der Bildungspolitik auf der Ebene der Einzelschule für die Partizipation von Lehrern, Eltern und Schülern in der Schulcommunity. Aus "der Wirtschaft" kommen also ganz verschiedene Signale. Man muss sie unterscheiden.

Und nicht zu vergessen die Meinungsbildungs- und Partizipationsinstrumente, die mit dem Web 2.0 entstehen. Auch davon im Artikel leider keine Spur.

Leider auch nicht der ebenso wichtige Hinweis auf die der durchaus realistischen schwarzen Prognose Dahrendorfs (als Marxist kann man zu diesem Thema auch die Alternative Sozialismus oder Barbarei aufmachen) sich entgegensetzenden Entwicklung der Governanzmodelle. (vgl. v.a. Helmut Willke.) Die Delegitimation der alten repräsentativen und der Parteien- Demokratie ist Fakt. Larmoyantes Beklagen der "Poltikmüdigkeit" der Bevölkerung und normative Einforderung von politischer Beteiligung der Bürger ist nutzlos. Aber in der Steuerungswissenschaft hat sich inzwischen auch im Deutschen der ursprünglich französische Begriff (gouvernance) Governanz eingebürgert, der die Selbststeuerung von Organisationen/ Systemen – d.h. die Möglichkeit der Selbstbestimmung der Betroffenen oder Akteure – meint, die an die Stelle staatlicher Regulierung und Entscheidungsberatung durch "Experten" treten muß, die meist nur eine einseitige Sicht auf den Gegenstand einnehmen. In die Selbststeuerung sollen die wichtigen Entscheidungen übergehen; der Staat, das Politiksystem soll nur noch den allgemeinen Rahmen dafür vorgeben, die allgemeine Richtung. Selbstverständlich spielt das Internet und vor allem Web 2.0 dabei eine große Rolle, es ist sozusagen die Vorbedingung zur Lösung der Krise der Demokratie durch die Bereitstellung der medialen Möglichkeiten, Instrumente zu globaler wie auch lokaler Governanz zu entwickeln, mit denen die Menschen heute umzugehen lernen und üben – und sei es in Online-Roleplay-Games oder in der Welt des secondlife neue Demokratiemodelle zu konstruieren und das Verhalten in einer neukonstruierten Demokratie zu trainieren. Natürlich ist secondlife noch ein virtuelles Abbild des real life. Da aber das Geld, das darin zu verdienen ist, ganz und gar nicht mehr virtuell sein muß - mithin sich offenbar virtuelles und reales Leben nicht mehr so klar unterscheiden lassen: Warum sollte sich nicht in der virtuellen Welt ein Vorbild für die reale Welt entwickeln lassen?

Mittwoch, 17. Januar 2007

Eine Schule für Alle

Einheitsschule, Gesamtschule, Gemeinschaftsschule ...
Bemühungen um einen politisch viablen Begriff, mit dem endlich geschafft werden kann, was schon seit 1949 in Deutschland ansteht - nämlich die Abschaffung der sozialen Selektion in der Bildung.

Das aktuelle Heft der Marxistischen Blätter trägt den Titel "Eine Schule für Alle" und bietet zum Schwerpunkt eine Reihe interessanter Artikel. Online zu lesen sind ein Interview mit Brigitte Müller, die sowohl das DDR-Schulsystem als auch das BRD-Schulsystem aus der eigenen Lehrerpraxis kennt, sowie der Beitrag von Ingrid Wenzler, Mit der Gesamtschule zur gemeinsamen Schule für alle.
Der ausgezeichnete Artikel von Rolf Jüngermann, Zur verheerenden Rolle des Gymnasiums im deutschen Schulwesen, ist leider nicht online zu haben. Dafür lohnt sich aber schon der Kauf des Heftes (7 Euro):

Jüngermann entfaltet die Merkmale des deutschen Gymnasiums als die einer Maschine zur Exklusion der Mehrheit von Partizipation an der politischen Macht. Er nennt es den Klassencharakter des Gymnasiums. Überzeugend weist er nach, dass das selektive Bildungswesen, an dem in Deutschland bis vor kurzem über alle politischen Lager hinweg trotz bzw. in Kenntnis der empirischen Befunde hartnäckig festgehalten wurde, nicht nur nicht geeignet ist, die sozial begründete Chancenungleichheit zu mildern, sondern diese sekundär immer wieder reproduziert. Das Gymnasium sei eine parasitäre Einrichtung, die voraussetzt, was Schule eigentlich lehren sollte, und die nur darum funktioniert, weil sie alle, die den "Stallgeruch" des Bildungsbürgertums nicht mitbringen, exkludiert und an andere Institutionen verweist. Der "Gymnasiale Habitus" besteht nach Jüngermann aus einem Set von zehn Hauptkomponenten, von denen der Logozentrismus - also der einseitige Bezug auf sprachliches Lernen - sowie der Zwang zur zweiten Fremdsprache die wichtigsten sind.
Jüngermann diskutiert dann die Funktionalität des Zwei-Säulen-Modells, wie es als Übergangsmodell zu einer Schule für Alle z.B. von der SPD in Hamburg propagiert wird. Sein Urteil: Mogelpackung. Keine Station auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule. Aber immerhin weniger scharfe Selektion als das bestehende fünfgliedrige Schulwesen und darum vielleicht sozial verträglicher.

Nebenbei erfährt man in einem Exkurs, daß das wichtigste PISA-Ergebnis im deutschen Bericht über die PISA-Studie unterschlagen wurde: der unabweisbare Zusammenhang des hoch selektiven Schulsystems mit den schwachen Leistungen im nationalen Durchschnitt:

"Der vom deutschen PISA-Konsortium herausgegebene 'Bericht PISA 2000' (Baumert 2001, der von der deutschen Öffentlichkeit leider bis heute als deutsche Fassung des internationalen PISA-Report (OECD 2001) (miß-)verstanden wird, unterscheidet sich ausgerechnet in der für Deutschland zentralen Frage der Rolle des gegliederten Schulwesens deutlich von den Aussagen des internationalen PISA-Report (OECD 2001) (dessen deutsche Übersetzung erst viel später als der Bericht des Deutschen PISA-Konsortiums im Buchhandel erhältlich war.
Der
internationale PISA-Report stellt in einer für einen wissenschaftlichen Bericht bemerkenswert klaren Form ausdrücklich einen deutlichen Zusammenhang her zwischen der gegliederten deutschen Schulstruktur der Sekundarstufe I und der verheerenden sozialen Ungerechtigkeit des deutschen Schulwesens (OECD 2001, Abbildung und Text S. 237ff; S. 255) Es wird aufgezeigt und formuliert, daß die ChancenUNgleichheit in Deutschland weniger auf das soziale Umfeld in der Familie des einzelnen Schülers an sich als vielmehr auf die Tatsache des frühen Ausgliederns hinein in 'die kombinierte Wirkung des sozioökonomischen Hintergrunds der Gesamtheit der Schülerschaft einer Schule' zurückzuführen ist. Daß also die Ungleichheit durch das gegliederte Schulwesen zum überwiegenden Teil überhaupt erst geschaffen - mindestens aber entscheidend verstärkt wird. Diese Aussage wird im internationalen PISA-Report 2000 ausdrücklich zu einer der wichtigsten des ganzen Berichts erklärt.
Im
Deutschen 'Bericht PISA 2000' (Baumert 2001) hingegen - und in den öffentlichen Stellungnahmen der Mitglieder des Deutschen PISA-Konsortiums (...) und des PISA-Beirats der KMK (...) wurden diese Aussagen des internationalen Report PISA 2000 (OECD 2001) schlicht unterschlagen, und zwar ohne auf die Tatsache der gezielten Auslassungen in angemessener Form aufmerksam zu machen. Dass man diese aber durchaus zur Kenntnis genommen hatte, ihnen sogar ein großes Gewicht zugemessen hatte, wird indirekt dadurch belegt, dass im
Deutschen 'Bericht PISA 2000' gleich an mehreren Stellen eine breite inhaltliche Gegenargumentation in Stellung gebracht wird (Baumert 2001, u.a. S. 410f + 466f), allerdings ohne erkennbaren Hinweis auf den Bezugspunkt."

Trau schau wem!
Bild: Ivan Montero / fotolia

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