Postdemokratie – Verfall oder Neukonstruktion der Demokratie?

Der Diagnose, die der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch in seinem Buch "Post-Democracy" (2004) für die Demokratie stellt, wurde in den Massenmedien bisher noch wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Kurzgefaßt lautet sie: Die Demokratie geht ihrem Ende entgegen, sie verfällt. Parteien und Parlamente verlieren an faktischer Politikmächtigkeit sowie an Legitimation im Urteil sowohl der wirtschaftlich Mächtigen als auch der "Verbraucher"/des "Volkes"/der "kleinen Leute". Da die demokratischen Repräsentanten immer weniger in der Lage sind, die Vielfalt an zunehmend komplexen Problemen und Aufgaben zu begreifen, geschweige denn zu lösen, ist die faktische Politikentscheidung schon seit längerem auf "Experten", Lobbyisten und Kommissionen übergegangen, denen eine demokratische Legitimierung durch Wahl jedoch fehlt (vgl. z.B. die hohe Bedeutung der Bertelsmannstiftung als Politikberatung über Parteigrenzen hinweg. Bertelsmann berät jede Regierung). Angesichts dieser Entwicklung reagieren die Wähler überall in Europa mit Enttäuschung und Abwendung von "der Demokratie", zu sehen am ständigen Absinken der Wahlbeteiligung. Die Politik veränderte dabei ihr Gesicht: Anstelle der Programm-Debatte tritt mehr und mehr der Personenkult, statt Politik wird Marketing betrieben, Infotainement ersetzt seriöse Berichterstattung, Parteien sind zu Kanzlerwahlvereinen mutiert. Überall in Europa ist der "Rechtspopulismus" auf dem Vormarsch, der verspricht, die ungelösten Probleme ohne lästige Debatten und schwierige Kompromissfindung in Aushandlung zu lösen – mit dem starken Mann, der weiß, was und wie es zu tun ist (Beispiel Berlusconi). So richtig der Befund des Verfalls demokratischer Kultur, so einäugig gleichzeitig und so ratlos in Sachen Therapie ist Postdemokratie-Debatte.

Die aktuelle Ausgabe der ZEIT nimmt die Post-Democracy-Debatte auf und stellt sie in einen neuen Zusammenhang: In seinem Interview mit vier demokratisch gesinnten skeptischen Deutschen, "Wenn das Volk zweifelt. Glauben Sie noch an die Demokratie?", konfrontiert Frank Drieschner Crouchs Befund mit der neuesten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, wonach rechtsextreme Einstellungen (gemessen an der Ausländerfeindlichkeit) "in der Mitte der Gesellschaft" einen Großteil der Bevölkerung befallen hat. Dabei verweist Drieschner auch auf ein Paradox in den Ergebnissen der Studie:
"Im Prinzip sind die Deutschen gute Demokraten; die Autoren der Friedrich-Ebert-Stiftung messen für die parlamentarische Demokratie sogar Zustimmungswerte über 90 Prozent – ein Befund, der seltsam unverbunden zwischen ihren schrillen Extremismuswarnungen steht."
Worin also liegen die Ursachen der Hinwendung zum "Rechtspopulismus" und das Anwachsen ausländerfeindlicher Einstellungen? Ein Interviewpartner Drieschners formuliert: >"Nicht die Demokratie ist das Problem. Es ist die Art und Weise, wie die Demokratie praktiziert wird."Die Post-Democracy-Vertreter sehen den Verlust der Legitimität der Parlamente darin begründet, dass sie "um besserer Ergebnisse willen Entscheidungen an mangelhaft legitimierte Expertengremien delegieren. Wer dem Rentner und dem Steuerberater [Interviewpartner Drieschners] zuhört, für den liegt ein anderes Urteil nahe: Nicht die Art ihres Zustandekommens, sondern die Qualität der Entscheidungen selbst könnte es sein, sei es nun in der Ausländer- oder in der Steuerpolitik, die Zweifel an der Demokratie sät. Und würde eine bessere Einbindung von Experten daran etwas ändern, dann könnte die Politik, die dieses Resultat erzielt, sich der Zustimmung [...] sicher sein."
Das ist unbedingt plausibel: Es geht in erster Linie um die gesellschaftlichen Probleme und ihre Lösung. Ideologie ist sekundär.

Werner A. Perger stellt über seinen Beitrag "Die Stunde der Rattenfänger" Ralf Dahrendorfs Warnung von 1997:
>"Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert."
Um eine solche Zukunft zu vermeiden, empfiehlt der ZEIT-Autor "einen klugen Mix aus direkter Bürgerbeteiligung", verweist allgemein auf "erprobte Partizipationsmodelle [...], alte und neue, in aller Welt, in großen Städten und kleinen Gemeinden, von Brasilien bis Finnland, sogar da und dort in Deutschland" und bemängelt, daß sie in Deutschland so gut wie unbekannt seien. Recht hat er mit der Richtung, in die es gehen muß: Partizipation. Wichtig zu wissen wäre aber auch, dass gerade die Bertelsmannstiftung zwar einerseits die effizienteste Politikberatung betreibt – also den Politikern besonders in der Standort- und in der Ressourcenpolitik (vgl. german-foreign-policy) die berühmten "nicht demokratisch legitimierten Experten" zur Seite stellt. Andererseits aber ist die Bertelsmannstiftung gleichzeitig größter Herausgeber und Förderer des Einsatzes einer Fülle von Instrumenten auf der kommunalen Ebene für Bürgerbeteiligung und in der Bildungspolitik auf der Ebene der Einzelschule für die Partizipation von Lehrern, Eltern und Schülern in der Schulcommunity. Aus "der Wirtschaft" kommen also ganz verschiedene Signale. Man muss sie unterscheiden.

Und nicht zu vergessen die Meinungsbildungs- und Partizipationsinstrumente, die mit dem Web 2.0 entstehen. Auch davon im Artikel leider keine Spur.

Leider auch nicht der ebenso wichtige Hinweis auf die der durchaus realistischen schwarzen Prognose Dahrendorfs (als Marxist kann man zu diesem Thema auch die Alternative Sozialismus oder Barbarei aufmachen) sich entgegensetzenden Entwicklung der Governanzmodelle. (vgl. v.a. Helmut Willke.) Die Delegitimation der alten repräsentativen und der Parteien- Demokratie ist Fakt. Larmoyantes Beklagen der "Poltikmüdigkeit" der Bevölkerung und normative Einforderung von politischer Beteiligung der Bürger ist nutzlos. Aber in der Steuerungswissenschaft hat sich inzwischen auch im Deutschen der ursprünglich französische Begriff (gouvernance) Governanz eingebürgert, der die Selbststeuerung von Organisationen/ Systemen – d.h. die Möglichkeit der Selbstbestimmung der Betroffenen oder Akteure – meint, die an die Stelle staatlicher Regulierung und Entscheidungsberatung durch "Experten" treten muß, die meist nur eine einseitige Sicht auf den Gegenstand einnehmen. In die Selbststeuerung sollen die wichtigen Entscheidungen übergehen; der Staat, das Politiksystem soll nur noch den allgemeinen Rahmen dafür vorgeben, die allgemeine Richtung. Selbstverständlich spielt das Internet und vor allem Web 2.0 dabei eine große Rolle, es ist sozusagen die Vorbedingung zur Lösung der Krise der Demokratie durch die Bereitstellung der medialen Möglichkeiten, Instrumente zu globaler wie auch lokaler Governanz zu entwickeln, mit denen die Menschen heute umzugehen lernen und üben – und sei es in Online-Roleplay-Games oder in der Welt des secondlife neue Demokratiemodelle zu konstruieren und das Verhalten in einer neukonstruierten Demokratie zu trainieren. Natürlich ist secondlife noch ein virtuelles Abbild des real life. Da aber das Geld, das darin zu verdienen ist, ganz und gar nicht mehr virtuell sein muß - mithin sich offenbar virtuelles und reales Leben nicht mehr so klar unterscheiden lassen: Warum sollte sich nicht in der virtuellen Welt ein Vorbild für die reale Welt entwickeln lassen?
teacher - 23. Jan, 19:29

Ich teile ganz die Meinung von Colin Crouch und diskutiere das Problem im Rahmen des Politischen Unterrichts in den höheren Klassen. Viele haben dieses Gefühl im Bauch, hier wird es verbalisiert.

Lars Becker (Gast) - 25. Jan, 01:05

Zwei Einwände

Liebe Lisa,

ich lese Ihr Weblog gerne und fand auch diesen Artikel interessant. Ob
die Delegitimation der alten Demokratien Fakt ist, darüber könnte man
streiten (meine Demokratieverständnis ist vermutlich stärker an
konstanten formalen Kriterien orientiert. Die Anerkennung dieser
Staatsform ist in meinen Augen deshalb eher ein praktisches Problem,
will man sie verteidigen), das möchte ich aber nicht, weil ich den
Grundtenor teile.

In zwei Punkten aber ich grundlegende Zweifel:

1.) Ich glaube das man Selbststeuerung nicht überschätzen sollte.
Probleme wie Kriminalität oder auch bildungspolitische Fragen sind
prädestiniert für lokale Governanz, Grundprobleme wie Arbeitslosigkeit,
Ungleichverteilung der Güter oder die Stabilität der sozialen
Versicherungssysteme lassen sich nicht lokal lösen.

2.) Ich teile die allgemeine Web 2.0-Euphorie nicht. Mir ist überhaupt
nicht einsichtig, in wie fern insbesondere die Beispiele
"Online-Roleplaying-Games" oder "Second Life" dazu geeignet sein sollen,
(neue) Demokratiemodelle *wirksam* zu trainieren. Das Web 2.0 gar zu einer
Vorbedingung zur Lösung der Krise der Demokratie zu stilisieren scheint mir
gewagt. Hier sind zuvorderst auch die staatlichen Bildungseinrichtungen
gefragt. Ich glaube, dass man mit Simulationen im Stile eines MUN oder
Ideen wie der Schule als Polis mehr bewirken kann.

Lisa Rosa - 25. Jan, 20:49

Einwände

Lieber Lars, die Einwände finde ich bedenkenswert. Welche Funktionen der Staat mit Kontextsteuerung übernehmen muß, ist ja noch nicht ausgemacht. Wichtig finde ich überhaupt, daß Selbststeuerung als eine bedeutende Komponente wahrgenommen wird. Ich sehe sie aber nicht nur lokal. Die Erfahrungen mit Selbststeuerung im Rahmen allgemeiner juristischer und politischer Vorgaben sind ja gerade global entstanden. Vgl. z.B. die überzeugenden empirischen Befunde bei Willke für globale Probleme der Geldmärkte, denen ständig neue Aktionsmöglichkeiten noch vollkommen ungesteuert den Akteuren selbst ein Ärgernis sind und die darum versuchen, Regeln und Begrenzungen in gemeinsamen Aushandlungen mit nationalen und supranationalen Organen der Kontextsteuerung zu "erfinden".

Die Möglichkeiten, die ich in solchen virtuellen Räumen wie secondlife sehe, werden ja gerade noch nicht realisiert. Technisch böten sie aber durchaus die Möglichkeit, neue soziale Strukturen in der virtuellen Simulation zu testen, eben wie die open Source die Software durch ihre Benutzer optimiert. Natürlich sind das Visionen. Ob die Möglichkeiten so genutzt werden, oder ob sich eher die negativen Effekte (bloß Unterhaltung, bloß Geldverdienen) durchsetzen, wie sie momentan erst mal stattfinden, kann ich nicht sagen. Aber analog finde ich folgendes interessant: Zu Beginn von Web 1.0 bestand der Kontent des www zum größten Teil aus Sex, Werbung und Unterhaltung. Damals hat man auch nicht geglaubt, daß sich da mal ernsthafte Dinge abspielen würden, daß ganze Bibliotheken ins Netz gehen, daß kein Wissenschaftler mehr ohne online-Veröffentlichung auskommt, daß die Printmedien sich digitalisieren, daß soetwas wie Wikipedia zum potentesten und seriösesten Lexikon überhaupt wird ... Da denke ich, es könnte mit Web 2.0 auch so gehen, wenn erst mal der erste Quatsch mit YouTube und MySpace und Second Life vorüber ist und ernsthaften Dingen Platz macht. Anfangs waren die Blogs doch auch bloß trivialer Privatkram. Natürlich sind sie das zum Teil immer noch. Aber es ist eben auch das Ernsthafte dazugekommen. In den angelsächsischen Ländern hat jeder Wissenschaftler sein Blog, wo er seine Gedanken mit Kollegen austauscht. Ein Beispiel habe ich in meiner Blogroll: blog of proximal development. Das ist da ganz normal. Hier ja noch nicht.

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existenzmaximum - 3. Feb, 22:22

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