Vernichtung durch Arbeit

Dieser Satz war für mich bislang reserviert für die systematische und bewußte Ausrottung von Zwangsarbeitern in deutschen Lagern der NS-Ära. Ich bin überhaupt nicht geneigt, die verschiedentlich so beliebten "Vergleiche" anzustellen wie: "Hühner-KZ", Saddam = Hitler, Milosevic oder Bush = Hitler, und schon gar nicht die nicht selten anzutreffende Gleichsetzung israelischer Politik gegenüber den Palästinensern mit dem deutschen Völkermord an den Juden. Aber es gibt Sätze, die stimmen auch anderswo. Und es geht nicht um "Vergleiche" und Gleichsetzungen.

Vernichtung durch Arbeit - ist einfach das, was mir zuerst als allgemeiner Kommentar einfällt, wenn ich Martin Spiewaks Bericht in der heutigen ZEIT-Ausgabe lese: "Ende einer Dienstzeit. Eine Lehrerin stirbt." Gestorben ist Petra Sperfeld, Grundschullehrerin an der Mariannen-Schule in Essen, am Herzinfarkt. Sie wurde 51 Jahre alt und hatte 24 Arbeitsjahre hinter sich.

Spiewak geht der Geschichte der Lehrerin nach und findet vor allem dies: Daß sie gestorben ist an der Vernichtung ihres Selbstwertgefühls. "Zerbrach sie unter dem Druck der Reformen?", fragt Spiewak im Untertitel seines Artikels. Diese Frage ärgert mich, denn sie suggeriert zunächst, daß es die - endlich in Gang kommenden - Reformen sind, denen die älteren Lehrer nicht gewachsen sind. Aber im Artikel selbst wird es dann genauer: Die Reformen werden ohne die Beteiligung der Lehrer gemacht, von oben aufgepropft, anstatt die Hauptakteure mitzunehmen. Ich weiß, wovon die Rede ist - denn ich war nicht nur selbst über 20 Jahre Lehrerin, ich weiß auch, wie "Schulreform" zuweilen beinahe gewalttätig "gemacht" wird, um vermeintlich endlich schneller Ergebnisse willen - wir wissen, es sind Milchmädchenrechnungen! -, wenn das gerade wieder neu ausgerufene Reformmodell das Ruder bei laufendem Betrieb herumreißen soll, wenn die Entwicklung nichts kosten darf, wenn den Lehrern weder die Initiative, noch Mitsprache, noch überhaupt Zeit dafür eingeräumt wird. Zeit ist vielleicht das wichtigste, was fehlt. Die Kollegien sollen im alten Modus weitermachen wie bisher und gleichzeitig das Neue entstehen lassen, aber rucki-zucki jetzt! Und dann bitte zu den Vorstellungen der Bildungsadministration, die nicht immer weiß, was in der Schule eigentlich los ist, und die meist nur sehr vage, häufig sogar falsche Vorstellungen von "guter Schule" hat.

Nicht umsonst hat man in Finnland zu Beginn der großen Bildungsreform den betroffenen Lehrern die Unterrichtsverpflichtung gekürzt und die Klassen verkleinert, - bei gleicher Bezahlung versteht sich! -, damit sie das Neue lernen, erproben und selbst mitenwickeln konnten. Hier aber versteht man offenbar unter Veränderung immer noch etwas Militärisches. Neuer Befehl: Kehrt marsch! angeordnet und zack! Selbst in der Entwicklung zu Neuem zeigt sich noch das alte preußische System von Befehl und Gehorsam. Was die Schulräte und Inspektoren und andere Vorgesetzte und Administratoren - die vermutlich nicht deshalb auf ihrem Posten sitzen, weil sie selbst besonders gute Lehrer waren - in besagter Schule angerichtet haben, sollte man unbedingt in Martin Spiewaks Artikel nachlesen.

Ich möchte dazu nur soviel sagen: Jeder halbwegs verständige Organisationsentwickler weiß inzwischen: Wirkliche Entwicklung gibt es nur MIT den Subjekten eines Tätigkeitssystems. Und: Transfer von Innovationen durch Kopieren von einer Organisation in die andere funktioniert nicht.
Nicht die Reform tötet - sie wird ja dringend gebraucht, denn auch das Alte ist ja nicht mehr auszuhalten. Was tötet, das ist der Mix aus Überforderung durch ein irres Arbeitspensum (wie es für Lehrer sonst in keinem anderen Land gilt), durch dysfunktionale Systemstrukturen und durch eine absolut veraltete Vorstellung vom Lernen und von der Lehrerrolle, wie sie nun mal in der Ausbildung gelernt wurde. Daß LehrerInnen, wie die verstorbene Petra Sperfeld, trotzdem beliebte und gute Lehrerinnen waren, ist ihr Verdienst. Sie haben ihre Expertise in ihrer Arbeitspraxis selbst erworben. Wenn dann also zu all diesen schwierigen Bedingungen, die einen Lehrer in Deutschland bis zum Übermaß und Zusammenbruch fordern, noch Mißachtung und Abwertung durch die Obrigkeit kommt, wie es im Falle der Petra Sperfeld geschehen ist, dann muß man sich eher wundern, wenn nicht dauernd solche frühen Tode im Dienst vorkommen. Und sie kommen vor. Erst letzte Woche ist in meinem Bekanntenkreis ein Lehrer - auch erst Anfang 50 - an einem Schlaganfall gestorben. Kein Wunder, daß gerade jetzt, denn diese Zeit um die Halbjahrszeugnisse + Abitur herum ist die stressigste Lehrerzeit überhaupt.
Zu fordern, die Lehrer müßten eben eine "robuste Psyche", ein "dickes Fell" haben - zu testen vor dem Lehrerstudium -, ist oberzynisch. Woher soll dann ihre Sensibilität für die Kinder kommen? Und: Ist es nicht eine wunderbare Tätigkeit, anderen beim Lernen und ihrer Entwicklung zu helfen? Wieso braucht man dazu eine ruppige Konsistenz? Da stimmt doch in der Vorstellung vom Lernen und Lehren irgendwas nicht!

Unsere jetzige Schule macht kaputt. Schüler, Lehrer, auch Mütter. Und mich macht sie außerdem wütend. Noch wütender macht mich aber, daß alle Erkenntnisse und Einsichten, alle Ratschläge von echten Experten, sei es zur Lerntheorie oder zum Organisationslernen, in der Bildungspolitik in Deutschland genauso ankommen, als hätte man einen Ochs ins Horn pfetzt, wie die Schwaben sagen, was heißt: gar nicht. Einfach unbelehrbar. Nur leiden und sterben müssen daran nicht die, die es verbocken, leider.
Fontanefan (Gast) - 12. Feb, 15:42

Nicht nur Arbeit!

Eine ganz zutreffende Analyse. Statt von Finnland zu lernen, führt man Vergleichsarbeiten in Grundschulklassen ein, um dann denen, die die am meisten Benachteiligten unterrichten, vorzuwerfen, sie hätten versagt.
Zu diesen völlig unzulänglichen Voraussetzungen für eine Reform gesellt sich in Hessen neuerdings ein mutwillig provoziertes Computerchaos, das durch vorzeitige Einführung einer zentralen Erfassung aller Schülernoten provoziert wurde.

Robert Nitsch (Gast) - 13. Feb, 22:08

Was mich jetzt ganz besonders interessieren würde:
was muss/sollte man alles >grundlegend< verändern? Was muss sich in den Ministerien tun? Ich glaube da fallen jedem auf Anhieb etliche Dinge ein... vllt. schaffen wir es ja eine kleine Revolution anzuzetteln. :-)

Zu den Vergleichsarbeiten:
Keine Vergleichsarbeit war bei mir jemals eine echte Vergleichsarbeit. Die Aufgabenstellung war das einzige, das identisch war. Aber die Korrektur wird doch immer noch von unterschiedlichen Lehrern durchgeführt. Als ob jeder Lehrer gleich korrigieren würde - was natürlich nicht der Fall ist.
Ein Gegenargument kann ich mir vorstellen: Am Ende macht nur ein Lehrer die Arbeit von drei Kollegen.
Aber wieso teilen sich die werten Lehrpersonen die Korrektur nicht aufgabenweise auf? Lehrer A korrigiert die gesamte Aufgabe 1) - klassenübergreifend. Lehrer B -> Aufgabe 2). Lehrer C -> Aufgabe 3).

Naja, diese Idee ist wohl einfach zu innovativ. Aber "moderne Innovationen" werden sowieso von Leuten gemacht, die ihre eigenen Innovationen nie testen... -.-
(u.a. gemeint sind damit "Innovationen" bei Betten, Stühlen, PC-Programmen, pädadogische Methoden usw.
Der Begriff "Innovation" ist aus diesem Grunde bei mir mehr negativ als positiv belegt. Aber das führt jetzt zugegeben zu weit vom Thema weg.
Lisa Rosa - 13. Feb, 22:20

Vergleichsarbeiten

In meiner Schule haben die Fachlehrer der Parallelklassen gemeinsam die Vergleichsarbeiten korrigiert. Und gemeinsam z.T. auch über die Aufgabenstellungen geschimpft. In einer der Matheaufgaben ließ sich z.B. keine Lösung finden, weil die Aufgabe falsch gestellt war ... und in einer der Deutscharbeiten wurde etwas zu Goethe gefragt, was beim besten Willen nur Erwachsene wissen konnten, die sich in der Welt des humanistischen Gymnasiums auskannten ... Tja. Objektivität gibt es weder, was "den Kanon" des Wissens angeht, noch was die Bewertung angeht. Aber man tut halt so, als ob. Von außen betrachtet scheint die Schulwelt wie aus der Wirklichkeit gefallen. Sie gehorcht ihren systemeigenen Gesetzen wie jedes andere soziale System auch, muß aber immer so tun, als liefe sie nach "ehernen" übergeordneten Gesetzen, sonst funktioniert sie nicht. Wenn man mal diesen Blick von außen hat, dann fällt es schwer, wieder hineinzukommen, ohne es verrückt zu finden.

teacher - 14. Feb, 08:27

Solche ZEITungsartikel machen mir Mut: Die Arbeit der Lehrer wird nicht unbedacht kritisiert, sondern menschlich analysiert. Sehr gut.

Ich zweifle allerdings an der Grundtheorie: Nicht die Reform macht die Lehrer kaputt, sondern das starre System (vielleicht die Mischung: Altes Schul- und Lehrerimage plus neue Überforderung). Wir brauchen sehr viel grundlegendere Reformen, allerdings nicht bloß in der Schulstruktur, sondern im gesamten Bildungsdenken.

Das Tragische: Ich vermute, dass Petra Sperfeld eine (über)engagierte Kollegin war und dass so manche Lehrer sich in ihrer Haltung bestätigt sehen: Engagement bringt um.

Stolle (Gast) - 4. Mär, 14:35

Was fehlt...

...ist vor allem Zeit. Stimmt.
Wie würden wir gerne in Projektgruppen arbeiten, uns über gemeinsame Projekte austauschen, Neues entwickeln, vielleicht auch über Schwierigkeiten sprechen. Wenn wir denn die Zeit hätten.
Wann soll denn der Austausch stattfinden, wenn die Unterrichtstage von 7.45 - 17.00 gehen? In der großen Pause? Nein, denn da müssen die schnellen Absprachen über das Umgehen mit einzelnen Problemen getroffen werden. Oder die Ausleihe von Notebooks. Oder, oder, oder.
Ja, das haben die Finnen intelligenter angestellt.

Ach,ja und dann noch was: pädagogische Tage sollen nicht mehr zu Unterrichtsausfall führen. Sprich: Nachmittags, samstags oder überhaupt in den Ferien stattfinden.
Dass die Hauptarbeit das Implementieren ist, dass wir dazu viel Zeit brauchen, um intelligent (effizient und effektiv) umzusetzen: wen interessiert's.
Wir haben ja vormttags recht und nachmittags frei.

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Bild: Ivan Montero / fotolia

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