Donnerstag, 8. Februar 2007

Vernichtung durch Arbeit

Dieser Satz war für mich bislang reserviert für die systematische und bewußte Ausrottung von Zwangsarbeitern in deutschen Lagern der NS-Ära. Ich bin überhaupt nicht geneigt, die verschiedentlich so beliebten "Vergleiche" anzustellen wie: "Hühner-KZ", Saddam = Hitler, Milosevic oder Bush = Hitler, und schon gar nicht die nicht selten anzutreffende Gleichsetzung israelischer Politik gegenüber den Palästinensern mit dem deutschen Völkermord an den Juden. Aber es gibt Sätze, die stimmen auch anderswo. Und es geht nicht um "Vergleiche" und Gleichsetzungen.

Vernichtung durch Arbeit - ist einfach das, was mir zuerst als allgemeiner Kommentar einfällt, wenn ich Martin Spiewaks Bericht in der heutigen ZEIT-Ausgabe lese: "Ende einer Dienstzeit. Eine Lehrerin stirbt." Gestorben ist Petra Sperfeld, Grundschullehrerin an der Mariannen-Schule in Essen, am Herzinfarkt. Sie wurde 51 Jahre alt und hatte 24 Arbeitsjahre hinter sich.

Spiewak geht der Geschichte der Lehrerin nach und findet vor allem dies: Daß sie gestorben ist an der Vernichtung ihres Selbstwertgefühls. "Zerbrach sie unter dem Druck der Reformen?", fragt Spiewak im Untertitel seines Artikels. Diese Frage ärgert mich, denn sie suggeriert zunächst, daß es die - endlich in Gang kommenden - Reformen sind, denen die älteren Lehrer nicht gewachsen sind. Aber im Artikel selbst wird es dann genauer: Die Reformen werden ohne die Beteiligung der Lehrer gemacht, von oben aufgepropft, anstatt die Hauptakteure mitzunehmen. Ich weiß, wovon die Rede ist - denn ich war nicht nur selbst über 20 Jahre Lehrerin, ich weiß auch, wie "Schulreform" zuweilen beinahe gewalttätig "gemacht" wird, um vermeintlich endlich schneller Ergebnisse willen - wir wissen, es sind Milchmädchenrechnungen! -, wenn das gerade wieder neu ausgerufene Reformmodell das Ruder bei laufendem Betrieb herumreißen soll, wenn die Entwicklung nichts kosten darf, wenn den Lehrern weder die Initiative, noch Mitsprache, noch überhaupt Zeit dafür eingeräumt wird. Zeit ist vielleicht das wichtigste, was fehlt. Die Kollegien sollen im alten Modus weitermachen wie bisher und gleichzeitig das Neue entstehen lassen, aber rucki-zucki jetzt! Und dann bitte zu den Vorstellungen der Bildungsadministration, die nicht immer weiß, was in der Schule eigentlich los ist, und die meist nur sehr vage, häufig sogar falsche Vorstellungen von "guter Schule" hat.

Nicht umsonst hat man in Finnland zu Beginn der großen Bildungsreform den betroffenen Lehrern die Unterrichtsverpflichtung gekürzt und die Klassen verkleinert, - bei gleicher Bezahlung versteht sich! -, damit sie das Neue lernen, erproben und selbst mitenwickeln konnten. Hier aber versteht man offenbar unter Veränderung immer noch etwas Militärisches. Neuer Befehl: Kehrt marsch! angeordnet und zack! Selbst in der Entwicklung zu Neuem zeigt sich noch das alte preußische System von Befehl und Gehorsam. Was die Schulräte und Inspektoren und andere Vorgesetzte und Administratoren - die vermutlich nicht deshalb auf ihrem Posten sitzen, weil sie selbst besonders gute Lehrer waren - in besagter Schule angerichtet haben, sollte man unbedingt in Martin Spiewaks Artikel nachlesen.

Ich möchte dazu nur soviel sagen: Jeder halbwegs verständige Organisationsentwickler weiß inzwischen: Wirkliche Entwicklung gibt es nur MIT den Subjekten eines Tätigkeitssystems. Und: Transfer von Innovationen durch Kopieren von einer Organisation in die andere funktioniert nicht.
Nicht die Reform tötet - sie wird ja dringend gebraucht, denn auch das Alte ist ja nicht mehr auszuhalten. Was tötet, das ist der Mix aus Überforderung durch ein irres Arbeitspensum (wie es für Lehrer sonst in keinem anderen Land gilt), durch dysfunktionale Systemstrukturen und durch eine absolut veraltete Vorstellung vom Lernen und von der Lehrerrolle, wie sie nun mal in der Ausbildung gelernt wurde. Daß LehrerInnen, wie die verstorbene Petra Sperfeld, trotzdem beliebte und gute Lehrerinnen waren, ist ihr Verdienst. Sie haben ihre Expertise in ihrer Arbeitspraxis selbst erworben. Wenn dann also zu all diesen schwierigen Bedingungen, die einen Lehrer in Deutschland bis zum Übermaß und Zusammenbruch fordern, noch Mißachtung und Abwertung durch die Obrigkeit kommt, wie es im Falle der Petra Sperfeld geschehen ist, dann muß man sich eher wundern, wenn nicht dauernd solche frühen Tode im Dienst vorkommen. Und sie kommen vor. Erst letzte Woche ist in meinem Bekanntenkreis ein Lehrer - auch erst Anfang 50 - an einem Schlaganfall gestorben. Kein Wunder, daß gerade jetzt, denn diese Zeit um die Halbjahrszeugnisse + Abitur herum ist die stressigste Lehrerzeit überhaupt.
Zu fordern, die Lehrer müßten eben eine "robuste Psyche", ein "dickes Fell" haben - zu testen vor dem Lehrerstudium -, ist oberzynisch. Woher soll dann ihre Sensibilität für die Kinder kommen? Und: Ist es nicht eine wunderbare Tätigkeit, anderen beim Lernen und ihrer Entwicklung zu helfen? Wieso braucht man dazu eine ruppige Konsistenz? Da stimmt doch in der Vorstellung vom Lernen und Lehren irgendwas nicht!

Unsere jetzige Schule macht kaputt. Schüler, Lehrer, auch Mütter. Und mich macht sie außerdem wütend. Noch wütender macht mich aber, daß alle Erkenntnisse und Einsichten, alle Ratschläge von echten Experten, sei es zur Lerntheorie oder zum Organisationslernen, in der Bildungspolitik in Deutschland genauso ankommen, als hätte man einen Ochs ins Horn pfetzt, wie die Schwaben sagen, was heißt: gar nicht. Einfach unbelehrbar. Nur leiden und sterben müssen daran nicht die, die es verbocken, leider.
Bild: Ivan Montero / fotolia

shift.

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