Schulentwicklung

Donnerstag, 7. August 2008

Das Dilemma der deutschen Lehrer

Marianne Demmer hat in einen bemerkenswerten Aufsatz die Widersprüche des deutschen Schulsystems beschrieben, die die Verwirklichung des Rechts auf Bildung verhindern und Lehrerinnen und Lehrer vor ein für sie individuell unlösbares Dilemma stellen, unter dem vor allem engagierte Lehrer und Lehrerinnen leiden. "Verwirklichung des Rechts auf Bildung: Die schwierige Rolle der Pädagogen und Pädagoginnen", in: Overwien, Bernd und Hannelore Prengel (Hgg.): Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland, Opladen und Farmington Hills 2007, S. 157-179
In ihrer Analyse wird ausführlich erläutert, was der UN-Sonderberichterstatter Munoz in seinem Bericht zusammenfassend so erklärt: "Wir haben wahrgenommen, dass die Erwartungen an die Lehrkräfte in vielen Fällen ihre realen Gestaltungsmöglichkeiten übersteigen."

Demmer führt dazu aus:

"Diese Feststellung des UN-Sonderberichterstatters Munoz bezeichnet das Dilemma eines Bildungssystems, das auf einer widersprüchlichen Bildungsphilosophie beruht und frühe Selektion und individuelle Förderung zu verbinden trachtet."
"Lehrerinnen und Lehrer müssen ihren Beruf in einem Schulsystem ausüben, das es ihnen nahezu unmöglich macht, sich ausschließlich und bedingungslos am Wohl des Kindes zu orientieren. Sie sind vielmehr ständig gezwungen, ihr pädagogisches Handeln mit den Anforderungen eines Systems in Übereinstimmung zu bringen, das nicht auf Inklusion sondern auf 'Aufteilung als Bildungsstrategie' ausgerichtet ist. Wo Homogenisierung durch Klassenwiederholung und Aufteilung in verschiedene Schulformen bereits als 'begabungsgerechtes Förder-Instrumentarium' deklariert wird, fehlen dementsprechend Unterstützungssysteme für die individuelle Förderung ohne Aussonderung."


Die Bildungspolitik setzt statt Analyse des Gesamtsystems und Identifizierung der komplexen Problemlage auf monokausale Erklärung des Problems: Die Lehrer sollen individuell kompensierend in Ordnung bringen, was systembedingt nicht gelingen kann:

"Die verantwortlichen Politiker nehmen mehrheitlich nicht zur Kenntnis, dass das deutsche Bildungssystem der umfassenden Verwirklichung des Rechts auf Bildung aus strukturellen Gründen entgegensteht. Sie versuchen den Eindruck zu erwecken, in Deutschland werde das Recht auf Bildung durch ein 'begabungsgerechtes Schulsystem' umfassend gewährt. Sie sind mehrheitlich zu einer ehrlichen Analyse der Gründe und Ursachen für Ungerechtigkeit, Benachteiligung und Diskriminierung im und durch das Bildungssystem nicht bereit. Sie versuchen vielmehr, das traditionelle Bildungswesen trotz sich mehrender gegenläufiger empirischer Befunde als reformierbar und in Übereinstimmung mit dem Recht auf Bildung im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention darzustellen. folgerichtig werden Mängel, die das System erzeugt, dem pädagogischen Personal angelastet. Entsprechend wird dann auch von den Pädagoginnen und Pädagogen die Beseitigung der Mängel verlangt und erwartet."

Konsequenterweise fordert Marianne Demmer, endlich in Deutschland die Geisterfahrt des selektierenden Schulwesens aufzugeben und - wie es in (fast) allen Ländern schon längst geschehen ist – auf ein mindestens neunjähriges gemeinsames Lernen für Alle umzustellen, ob die Institution, in der dies geschieht, nun Einheitsschule, Gemeinschaftsschule, Stadtteilschule, Eine Schule für Alle, oder einfach Schule geheißen wird.

Der ganze Aufsatz: Demmer-2007_kinderrecht-auf-Bildung_Munoz_Bericht (pdf, 798 KB)

Ich höre schon die altbekannten Einwände:
1. Die äußere Schulstruktur zu ändern, verbessert die Lernergebnisse nicht. 2. Es gäbe auch erfolgreiche Bildungssysteme mit selektierender Struktur.
Der zweite Einwand ist schnell beantwortet: Alle hoch erfolgreichen Schulsysteme sind Gemeinschaftsschulsysteme. (Nachzusehen bei PISA-verstehen_Motivation_Kontext_Interpretation-der-Ergebnisse- (ppt, 2,635 KB)).
Zum ersten Einwand: Ja. Ein einziges Element in einem dysfunktionalen System zu verändern, verbessert nicht nur nicht automatisch das System, sondern vermutlich gar nicht. Nun ist die äußere Differenzierung nicht bloß ein Element, sondern der Rahmen des ganzen Systems, der seinerseits eine lange Reihe weiterer Elemente determiniert. Und selbstverständlich ist die Veränderung dieses strukturellen Rahmens nur die Voraussetzung dafür, dass das ganze System nachhaltig umgestaltet werden kann. Eine Reduktion der Klassenfrequenz alleine verbessert ja auch nicht automatisch den Unterricht. Aber auch hier wäre die Folgerung, die Anzahl der Schüler in der Klasse bzw. die Anzahl der Schüler eines Lehrers spiele dann also keine Rolle, ein fundamentaler Denkfehler. Immer wieder stößt man auf das hartnäckig sich äußernde Bedürfnis, komplexe Probleme monokausal zu erklären und zu lösen. Es sind jedoch komplexe Systeme, die radikal umgestaltet werden müssen, und dies geht nur mit einem Masterplan, der mit einem Bündel von aufeinander bezogenen Veränderungen auf eine systemische, polykausale Ursachendefinition von Problemen reagiert.
Als wichtigstes wäre neben einer radikalen Strukturreform dafür die Lehrerbildung zu nennen: Solange auch in der Lehrerausbildung im Wesentlichen doch noch immer die Vorstellung der Trichterpädagogik vorherrscht, ist die notwendige Neue Lernkultur nicht zu haben. Ein Kernstück der Lehrerausbildung müßte pädagogische Psychologie sein, die bisher – wenn überhaupt – nur am Rande vorkommt. In einer professionellen pädagogischen Ausbildung wäre von den angehenden Lehrern ausführlich zu lernen, wie der Mensch überhaupt lernt. Stattdessen wird meist nur gelernt, wie man heutzutage unterrichtet. Das eine hat mit dem anderen wenig zu tun.
Ebenso wichtig ist die Erkenntnis: Einen Tanker bei voller Fahrt zu wenden, ist äußerst schwierig. Um eine umfassende Neukonstruktion des Bildungswesens zu ermöglichen, sind darum hohe Investitionen aufzubringen, in erster Linie eine radikale Erhöhung der Personalressourcen, die für die notwendige Besinnung und Fortbildung des Personals unerlässlich ist. Wer 30 Stunden pro Woche unterrichten muss, kann nicht über sein Lernverständnis reflektieren, seine bisherigen Lehrstrategien radikal infrage stellen und neue Unterrichtskonzepte, geschweige seine ganze Schule (mit-)entwickeln. Er kann unter solchen Bedingungen seinen Betrieb nur aufrechterhalten, wenn er genauso weitermacht, wie bisher. Daher der verständliche Widerstand vieler gestresster Lehrer gegen dauernde Top-Down-Reformprojekte. Die große Schulreform in Finnland hat darum vor mehr als 15 Jahren die Unterrichtsverpflichtung und die Klassengrößen jahrelang so stark reduziert, dass es den Lehrern nicht nur möglich war sondern auch eine Freude sein konnte, Bisheriges kritisch infrage zu stellen und neugierig neu und umzulernen, was professionelles Pädagogesein heute heißt.

Donnerstag, 12. Juni 2008

Yrjö Engeström: Entwickelnde Arbeitsforschung - Eine Hilfe auf dem Weg in die Wissensgesellschaft

Das Buch des finnischen Lerntheoretikers und Entwicklungsforschers Yrjö Engeström, gibt es jetzt auch auf Deutsch:
Yrjö Engeström, Entwickelnde Arbeitsforschung. Die Tätigkeitstheorie in der Praxis. (Übersetzt und herausgegeben von Lisa Rosa), Berlin 2008, Lehmanns Media.
Es ist ein Buch, das einen bedeutenden Beitrag für das Verständnis organisationaler Lernprozesse in Umbruchzeiten liefert. Und es ist gleichzeitig ein Buch über die Möglichkeiten einer Interventionsmethodologie – der Entwickelnden Arbeitsforschung Yrjö Engeströms –, mit der Schulen und andere Organisationen auf den notwendigen Veränderungsweg für die Erfordernisse der Wissensgesellschaft gebracht und bei ihrem Entwicklungsprozess dabei kompetent und erfolgversprechend begleitet werden können.
Vor etwa 4 Jahren begab ich mich auf die Suche nach Modellen, die mir nach 20 Jahren Lehrertätigkeit an der Schule die unerträglich gewordenen Widersprüche in meiner Arbeit erklären könnten, also nach einer Praxiserklärungs-Anleitung. Und ich suchte außerdem nach Möglichkeiten, etwas in meiner Arbeit so entscheidend zu ändern, dass ich meine Arbeit wieder als sinnvoll erleben könnte – also nach einer Praxisveränderungs-Anleitung. Beides fand ich in Engeströms Ansatz gleichermaßen.
Dieses Buch erklärt in 18 Kapiteln sowohl die dahinterstehende Lerntheorie des Expansiven Lernens auf dem Hintergrund der kulturhistorischen Psychologie als auch an verschiedenen Fallstudien die Wirkungsweise der Interventionsmethodologie der Entwickelnden Arbeitsforschung. Für Lehrer Schulentwickler und Bildungspolitiker eine nicht nur hoch interessante Lektüre sondern ein Muss!

Yrjö Engeström ist Professor für Kommunikation an der Universität Kalifornien in San Diego und Prof. für Erwachsenenbildung an der Universität Helsinki und dort Direktor des Zentrums für Tätigkeitstheorie und Entwickelnde Arbeitsforschung. Mit seinem Modell wird inzwischen in vielen Ländern an der Entwicklung von Organisationen und an der Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Organisationen gearbeitet – in England etwa zur besseren Zusammenarbeit zwischen Bildungsorganisationen und Sozialhilfe-Einrichtungen; in Japan entstand ein eigenes Institut zur Schulentwicklung mit diesem Ansatz und gerade läuft ein Projekt zur Einführung der Neuen Medien in den Schulunterricht in Botswana.

Montag, 17. Dezember 2007

Von der Seele geschrieben

hat sich auf den Nachdenkseiten eine Bremer Lehrerin ihre Frustration über die krassen Widersprüche, die die Lehrkräfte im System Schule heutzutage aushalten müssen - nicht nur in Bremen natürlich, sondern in der ganzen Republik. Ich gebe ihr Recht - in allen Aspekten, die sie an diesen Widersprüchen beschreibt. Ich fasse sie mal so zusammen:

Es gibt einen eklatanten Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer radikalen Neukonstruktion des Bildungssystems einerseits und der fehlenden Bereitschaft bzw. Fähigkeit eben dieses Systems zur Einsicht in diese Notwendigkeit und zur Überwindung von Veränderungsängsten, von Borniertheit und Milchmädchenrechenmentalität andererseits. Kurz: Es soll alles anders werden, aber es soll bitte gleichzeitig nicht weh tun, und möglichst alles so bleiben, wie es ist.
Wie schafft es ein System nur, so blöde zu sein?

Einige Antworten versucht die Bremer Kollegin, zusammengefasst lauten sie: Die Manager des Systems (Schulbehörde, Bildungspolitiker) wollen mit demselben Mechanismus - der administrativen Anweisung und Kontrolle von oben auf Deubel komm raus etwas erreichen, was mit diesem Instrument eben nicht zu erreichen ist: Die Herstellung - oder Wiederherstellung - des Vertrauens in und die Bereitschaft zur konstruktiven Mitwirkung an "unserer Demokratie". Vertrauen und Bereitschaft haben sich verflüchtigt - nicht nur bei den Schülern, die ihrer Schul- und Lernpflicht nicht nachkommen und sich weigern, sich auf ein Leben in dieser "unserer Demokratie" vorbereiten zu lassen.

Ich stimme der Kollegin unbedingt zu: Vertrauen sowie Bereitschaft und Fähigkeit zu kreativer Innovation sind nicht durch Anordnung, Druck, Kontrolle und Entmündigung herstellbar. Natürlich nicht. Aber was kann man denn tun als engagierter Lehrer, Schulleiter, Elternvertreter, wenn diese Dummbeutel da oben ihre Angst vor Kontrollverlust einfach nicht überwinden können - vielleicht die ganze "Leistungsträgerschaft" ab Gehaltsklasse B auf die Couch schicken?

Die Widersprüche erfahren und aufzeigen ist das eine. Das ist der Bremer Lehrerin gelungen. Aber man muß nicht dabei stehen bleiben - die Folgen wären Resignation, Burnout, Zynismus, eben all das Unglück, das auf dieser Stufe den Praktiker ereilen kann.
Daß man aber nicht immerfort den Kopf einziehen muss, wenn man sich die Nase an der Systemgrenze angeschlagen hat, sondern Spielräume finden, testen, erweitern kann, um nicht passives Opfer sondern aktiver Gestalter/Gestalterin zu werden, zeigt folgende Geschichte, die Schul-Um- und -Neugründerin Enja Riegel kürzlich erzählte:

Die Schule in Wiesbaden fand es pädagogisch sinnvoll, einen Theaterregisseur einzustellen. 'Kein Geld, gibts nicht, wo kämen wir denn da hin ... usw.' die Schulbehörde.
Die Schule fand es pädagogisch richtig, dass die Schüler ihre Räume selbst sauber halten anstatt ihren Dreck den Putzfrauen zu überlassen. 'Kommt nicht in Frage, die Putzfrauen müssen putzen, wo kämen wir denn da hin ... usw.' die Schulbehörde.
Die Schüler putzten trotzdem - wer hätte es verbieten können? - Die Putzfrauen hatten nichts mehr zu tun und meldeten das der Behörde, da war ja schließlich Geld zu sparen! Die Behörde erlaubte die Einsparung, nachdem sie sie begriffen hatte, es kam schließlich sogar im nächsten Jahr dazu, dass die Schule wenigstens einen Teil des Putzgeldes zur eigenen Verwendung erhielt ... natürlich wurde sofort davon endlich der Regisseur bezahlt ... usw.

Aber jetzt kommt der Clou: Der Schulrat wurde zur Theaterpremiere eingeladen - natürlich als VIP in die vorderste Reihe. Nach dem letzten Vorhang stellten sich die schauspielenden Schüler auf die Bühne, zeigten auf den Schulrat in der ersten Reihe und dankten ihm herzlich dafür , dass er diese tolle Theateraufführung möglich gemacht hat. Der Schulrat stutzte - war ihm doch bewusst, daß er im Gegenteil alles dazu getan hatte, sie zu verhindern. Nun: Durch die Wiederholungen dieses Vorgangs im nächsten und spätestens übernächsten Jahr hatte er sich so dran gewöhnt, sich als der Mäzen dieser Theaterereignisse fühlen zu dürfen, daß er tatsächlich davon überzeugt war, hinter dieser Innovation zu stehen. Und selbstverständlich ist seitdem Selbstputzen und einen Theaterregisseur in der Schule haben völlig konform mit den Systemregeln.

Eval'd Il'enkov machte deutlich, daß Geschichte als fortwährende Veränderung überhaupt nur möglich ist durch individuelle Abweichung vom Üblichen und Erlaubten :

"In der Realität geschieht es immer wieder, dass ein Phänomen, das später universell wird, ursprünglich als ein individuelles, partielles, spezifisches Phänomen, als eine Ausnahme von der Regel auftritt. Es kann tatsächlich nicht auf andere Art und Weise auftreten. Andernfalls wäre Geschichte [als Entwicklungsprozess] eine ziemlich mysteriöse Angelegenheit. Darum taucht jeder neue Arbeitsfortschritt, jede neue Form menschlicher Handlung in der Produktion zuerst als eine gewisse Abweichung von den bisher akzeptierten und kodifizierten Normen auf, ehe sie allgemein akzeptiert und anerkannt wird. Nachdem die neue Form als eine individuelle Ausnahme von der Regel in der Arbeit eines oder mehrerer Menschen aufgetaucht ist, wird sie dann von anderen übernommen und wird mit der Zeit eine neue universelle Norm. Wenn die neue Norm ursprünglich nicht exakt auf diese Weise in Erscheinung träte, würde sie niemals eine wirklich universelle Form werden, sondern lediglich in der Fantasie, im Wunschdenken existieren."
(Eval'd Il'enkov, The dialectics of the abstract and the concrete in Marx's 'Capital'. Moskau 1982, S. 83f, Übersetzung aus dem Englischen LR)

Dienstag, 2. Oktober 2007

Administrative Antworten

Gerade ging mir wieder der gute Satz von Einstein durch den Kopf:

"Probleme können nicht mit den gleichen Denkweisen gelöst werden, die sie verursacht haben."

Da finde ich bei Hokey ein krasses Beispiel aus der Praxis, das diesen Satz aufs beste bestätigt. Der Referendar, von dem die Bildungsadministration einiges zu lernen hätte, weist auf den Widerspruch hin, den das System mit seiner Logik beim Lösungsversuch der selbstgemachten Probleme erzeugt: Einerseits werden zur Lösung des Problems ungeeigneter Lehrer (selbst erzeugt durch schlechte Lehrerausbildung) Eignungstests für Lehramtsstudenten gefordert - andererseits versucht man, den Lehrermangel (selbst erzeugt durch Rotstiftpolitik) zu beheben durch Einstellung nicht ausgebildeter Lehrkräfte. Wer solche Widersprüche in der Problemlösung erzeugt, der darf nicht mehr an der Lösung beteiligt werden! Und der Einsteinsatz wäre zu ergänzen: Probleme können nicht mit den gleichen Systemstrukturen gelöst werden, mit denen sie geschaffen wurden.
An der Problemlösung beteiligt werden müssen stattdessen die eigentlichen Lösungsprofis: die Akteure der Praxis, nämlich die Lehramtsstudenten, die Referendare und die Lehrer.

Sonntag, 23. September 2007

Leidensdruck der Praxis und lustvolles Lernen - ein schönstes Wochenende auf dem Kongreß der Schulerneuerer

AdZ_Kongress-003

In der Hamburger Hochschule für Musik tagten auf Einladung des Archivs der Zukunft - Netzwerk an diesem herrlichen Wochenende auf dem Kongreß Treibhäuser & Co, dem "Ersten Treffen der Schulerneuerer", einige hundert Menschen, die sich professionell mit dem Lernen beschäftigen: Lehrer, Schulleiter, Hirnforscher, Erziehungswissenschaftler, Pädagogen aus dem "außerschulischen" Leben, Autoren, Philosophen, Künstler und Eltern aus der ganzen Republik, einige aus der Schweiz und aus Finnland.

Lustvoll war das Lernen nicht nur, weil die Tagungsorganisation für ein herrliches Sommerwetter gesorgt hatte, in dem der dichte und vielstimmige informelle Erfahrungsaustausch so gut gedeihen konnte. Es gab auch den Raum und die Zeit für diese so wichtigen Kontakte und Diskussionen in der ästhetischen Umgebung der Räume und des Geländes der Musikhochschule.

Viele Highlights!
Meine Highlights waren die Rede des pädagogischen Großmeisters Hartmut von Hentig; der Vortrag von Enja Riegel, der (Um-)Gründerin der Helene-Lange-Schule Wiesbaden; die "Arena" zum Thema Lehrerteams mit Experten aus teamerprobten Schulen, in der unter der Moderation von Wolfgang Harder, dem ehemaligen Schulleiter der Odenwaldschule und Herausgeber von Blick über den Zaun, die Teilnehmer mit den Experten in ein intensives Gespräch kommen und ihre Praxisprobleme diskutieren konnten; ein interessanter Vortrag von Andreas Weber, Biologe und Philosoph, zum Thema "Selbstorganisation und Autopoiesis" und die daran anschließende lebendige Diskussion; das Buch von Jesper Juul "Das kompetente Kind", in das ich gestern Abend versank, weil ich seinen Vortrag verpaßt hatte; die überraschenden Begegnungen mit einem Vertreter von Krätzä, mit Lehreraus- und Fortbildnerinnen und mit mir bisher unbekannten lokalen Kollegen, mit denen sofort Kooperationen verabredet werden konnten.

Das ganz besondere unter all meinen Highlights war jedoch der hinreißende Vortrag des Neurobiologen Gerald Hüther "Kinder und Jugendliche brauchen Herausforderungen - Die Schulen auch". Beeindruckend war vor allem die Entfaltung der Argumentation anhand einer Fülle von empirischen harten Fakten der Hirnforschung, die belegen, daß wir eine radikal neue Lernkultur in der Schule brauchen: eine Schule, die Wachstumsbedürfnis und Autonomie respektiert statt zu demütigen; eine Schule, die den Schülern Herausforderungen und echte Probleme zu lösen erlaubt, statt sie mit "Stoff" vollzuschütten; eine Schule, die sich als Lernzentrum in ihrer Kommune versteht, von wo aus die Schüler an ihrem Wohnort problemlösend intervenieren und ihn mitgestalten können; und eine Schule, in der die Schüler befriedigende, wertschätzende Beziehungen erleben.
Für alle, die das Unglück hatten, diesen Vortrag zu verpassen:
Die vielen Powerpointfolien sind zwar nicht der Vortrag. Aber ein spannender Teil davon. Es gibt sie auf der Website des AdZ-Netzwerkes sofort zum Runterladen.
Aussagen auf dem Kongreß, die mein Gehirn die nächste Zeit umtreiben werden:

"Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben."

"Alles Leben ist Problemlösen."

"Probleme können nicht mit den gleichen Denkweisen gelöst werden, die sie verursacht haben."

"Der Kernpunkt für eine neue Schule ist die neue Arbeit der Lehrer"

"Gute Pädagogik muß beides zusammenbringen: Fähigkeiten zum Überleben einerseits - und Wissen, wozu, andererseits."

"Die Verwaltung nie um Erlaubnis fragen, sondern machen!"

"Wettbewerb bringt keinen Fortschritt, keine Entwicklung, keine Neuschöpfung - auch nicht in der Biologie. Wettbewerb bringt nur Hochspezialisierung und Verengung in Nischen."


Und wie - so fragt die Lehrerfortbildnerin - kriegt man jetzt die Lehrer dazu, sich all diese bahnbrechenden neuen Erkenntnisse anzueignen, die alte Praxis zu verlassen und die pädagogische Wende zu vollziehen?
Im Einklang mit eben diesen Erkenntnissen: Bestimmt nicht, indem man es ihnen von oben (Schulbehörde, Ministerium) befiehlt oder von der Seite (beständiges Kritisieren und Beschimpfen in den Massenmedien) erzwingt. Sondern nur, indem man es ihnen ermöglicht, einen Schritt aus ihrem bisherigen Tätigkeitssystem hin zu einer selbstbeobachtenden Distanz zu tun, indem man ihnen die Zeit gibt, zur Besinnung zu kommen. Und zwar zur Besinnung in erster Linie nicht darüber, wie schlimm sie doch mit den Kindern umgehen, sondern zu der Frage: Wie geht es eigentlich mir mit meiner Arbeit? Was habe ich mal gewollt, welche Visionen (angeblich alles Illusionen und Traumtänzereien) hatte ich und könnte ich wieder entdecken? Wie müßte Schule sein, damit ich mich als Lehrer darin wohlfühlen kann?
Diese letzte Frage zum Ausgangspunkt von Veränderung zu machen, war zum Beispiel eines der wichtigsten Geheimnisse, die hinter der erfolgreichen Erneuerung der Helene-Lange-Schule Wiesbaden stecken. Und viele erfolgreiche Reformschulen, das zeigte sich im Erfahrungsaustausch mit ihren Vertretern, bekundeten übereinstimmend: Unser Motiv zur pädagogischen Wende war der Leidensdruck.

Und wie kann eine Veränderung beginnen?
Reinhard Kahl hatte in seinem Schlußwort das Bild des Seiltänzers im Angebot: Es kommt auf zwei Dinge entscheidend an:
Kleine, sorgfältige, präzise Schritte und dabei den Blick zum Horizont. Wenn man den Blick auf die Füße richtet, stürzt man ab, und ebenso, wenn man die Füße nicht genau fühlend voreinander setzt.

Die gute Nachricht: Der Kongreß war die notwendige Face-to-Face-Begegnung so vieler Experten der Praxis. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Tagungen ist das Ende der Veranstaltung keineswegs das Ende des Prozesses, miteinander zu sprechen, miteinander zu arbeiten, voneinander zu lernen: Die Netzplattform der Schulerneuerer sorgt für Anschluß und Kontinuität - Das Internet ist ein Segen. Aber das Medium tut es nicht von alleine. Man muß es aktiv benutzen.

Donnerstag, 5. Juli 2007

"Eine Schule für Alle" e.V. in Hamburg

In Hamburg hat sich der Verein "Eine Schule für Alle" als Träger der Volksinitiative gleichen Namens gegründet. Er beruht auf der hamburger_erklaerung (pdf, 141 KB) vom Oktober 2006.
Hier die Pressemitteilung zur Gründung des Vereins:

Am 28. Juli [Juni?] 2007 hat sich der Verein "Eine Schule für Alle" e.V. als
gemeinnütziger Verein konstituiert. Zur 1.Vorsitzenden wurde Karen
Medrow-Struss, zur 2. Vorsitzenden wurde Elke Andresen gewählt.
Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt die Selektion im Hamburger
Schulwesen zu beseitigen und einen gemeinsamen Schulbesuch aller
Kinder in einer Schule anzustreben. Wir nehmen die Mahnung des
Sonderbotschafters der Uno, der Unicef und der OECD ernst, dass in
Deutschland das Menschenrecht auf Bildung verletzt wird, da
hierzulande nicht die Leistungsfähigkeit eines Menschen sondern seine
soziale Herkunft über seine Bildungschancen entscheiden. Das
gegliederte Schulwesen des 19. Jahrhunderts entspricht der
Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts. Eine demokratische
Gesellschaft, in der alle Staatsbürger gleichberechtigt sind, braucht
eine moderne demokratische Schule.. Das geplante Zwei-Säulenmodell in
Gymnasium und Stadtteilschule entspricht einer Spaltung der
Gesellschaft, die wir nicht wollen.
Deshalb setzt sich der Verein für eine Schule für Alle ein, in der
alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Die Erfahrungen aus dem
Ausland zeigen, dass eine solche Schule möglich ist, dass sie
leistungsfähig ist und dass sie Bildungschancen gerecht verteilt.
Der Verein wird die Volksinitiative "Eine Schule für Alle" unterstützen.
Am 30. Oktober 2007 wird es zum Start der Volksinitiative eine
Auftaktveranstaltung geben, die vom Verein zusammen mit den
Bündnispartnern ausgerichtet wird. Aufgrund der umfangreichen
Unterstützung, die wir bereits schon erfahren haben, sind wir sicher,
dass wir mit unserer Initiative Erfolg haben werden.

Erfolg ist der Initiative unbedingt zu wünschen. Wer dem Verein in Hamburg beitreteten möchte, kann hier einen aufnahmeantrag_verein (pdf, 16 KB) stellen.
Nur in 17 Ländern der Welt existiert noch ein selektives Bildungssystem. 16 davon liegen in der Bundesrepublik Deutschland. Inzwischen schießen die Initiativen zur Überwindung des überkommenen Systems wie Pilze aus dem Boden. Die Hoffnung, daß dessen Tage endlich gezählt sind, ist darum vielleicht keine Illusion mehr.

Aktualisierung 13.2.08: Hier die Website des Vereins Eine Schule für Alle

Montag, 2. Juli 2007

Die Intelligenz der pädagogischen Praxis stärken

Eine Verbesserung der Schulen stellen sich viele häufig so vor, daß geeignete Anweisungen "von oben" das Schiff herumreißen, indem diese von den Praktikern unten einfach ausgeführt werden. Daß das nicht funktioniert, beweist der relative Misserfolg solcher jahrzehntelanger Reformbemühungen - oft widersprüchliche zudem - in der Praxis. (Mal ganz abgesehen davon, ob und wann diese Maßnahmen überhaupt "geeignet" sind.) Organisationslernen bzw. Schulentwicklung ist keine Top-Down-Veranstaltung, die durch Implementation von neuen Instrumenten und "Methoden" per ordre de Mufti in Gang gebracht und gemeistert wird. Echte Transformation geschieht von unten. Sie wird durch die gemeinsamen Bemühungen der Praktiker eines Tätigkeitssystems - hier also einer Schule - in Gang gebracht und in vielen Jahren Arbeit vollendet - und auch das niemals ganz. Dabei wird jede Schule im Prozeß ihrer Neugestaltung gleichsam neu erfunden.
Das heißt natürlich nicht, daß jede Schule, die sich verändern möchte, das Rad neu erfinden und alle Erfahrungen der Reformpädagogik selbst erlebend wiederholen müßte. Denn "Neue Schulen" gibt es in Deutschland viele - und manche davon sind sogar schon recht alt (Blick-über-den-Zaun, die Website, auf der diese Schulen sich organisieren, ist das Nachschlagwerk dazu.) Andererseits funktioniert es offenbar auch nicht so, daß die großen Vorbilder - die "Treibhäuser der Zukunft", wie Reinhard Kahl sie nennt - einfach per Nachahmung transferiert werden könnten. Weder Strukturen noch Instrumente und schon gar nicht das Erfahrungswissen und die innere Einstellung der Lehrer sind unmittelbar und direkt transferierbar. Es braucht Raum für die eigene Erfindung ebenso wie geeignete Strukturen, in denen Erfahrungswissen gesammelt und kommuniziert werden kann. Die Strukturen für einen solchen organisierten Erfahrungsaustausch bietet nun das vor zwei Wochen gegründete Archiv der Zukunft - Netzwerk.

"Die Gründungsversammlung wählte Reinhard Kahl zum Vorsitzenden des Vereins. Das Netzwerk wurde nach längerer Vorarbeit von gut 30 Gründungsmitgliedern ins Leben gerufen. Sein Ziel ist es, die Intelligenz der pädagogischen Praxis zu stärken. Dazu gehören diese Internetplattform sowie Arbeitstreffen und große Veranstaltungen. Die Plattform www.adz-netzwerk.de wird als Archiv pädagogischer Erfahrungen und nützlicher Materialien ausgebaut. Sie wird ein Ort für den Austausch und für Debatten sein. Dort wird auch über aktuelle Ereignisse informiert. Schließlich werden Porträts und Profile von Akteuren präsentiert. Der Verein versteht sich als Netzwerk von Akteuren und legt großen Wert auf seine Unabhängigkeit. Die Finanzierung soll daher über Vereinsbeiträge, Spenden und Sponsoren erfolgen"

Es lohnt sich für alle Schulerneuerer, an diesem Austausch mitzuwirken, indem sie Mitglieder des Netzwerks werden und/oder an dem vom Netzwerk ausgerichteten Kongress Treibhäuser & Co vom 21. - 23. September in Hamburg teilnehmen.
Aus Reinhard Kahls Feder stammt der nicht nur dem Inhalt, sondern auch der Form nach wunderbar zu lesende Text Die Intelligenz der pädagogischen Praxis anläßlich der Gründung des Netzwerks.
"Was also ist diese Intelligenz der Praxis? Sie ist ein endloses Gewebe aus Geschichten und Gesprächen, aus Vorschlägen und Erfahrungen."

Freitag, 4. Mai 2007

Appell SCHULE IST UNSERE SACHE - lesen, unterzeichnen, weiterverbreiten

Der Verbund reformpädagogischer Schulen Blick über den Zaun hat in seiner Erklärung von Hofgeismar das Leitbild einer guten Schule und einen Appell an die Öffentlichkeit formuliert.
Hunderte Bildungsakteure, die im letzten halben Jahr in der Virtuellen Akademie eine lebhafte Debatte über die notwendigen Veränderungen der Schule in Deutschland führten, haben sich diesem Appell angeschlossen.
Der Unterstützertext kann hier eingesehen und unterzeichnet werden.

Dienstag, 13. März 2007

„Haupt“-Schule?

Ein Anachronismus zwischen 3 bildungspolitischen Optionen

Das soeben erschienene erste Jahresgutachten des „Aktionsrates Bildung“ – gebildet 2005 auf Initiative des Bayerischen Wirtschaft unter dem Vorsitz von Prof. Lenzen, Präsident der FU/Berlin – bringt neuen Wind in die Strukturdebatte um die „Rest-Schule" der Nation.

Die vor allem von Praktikern geforderte Auflösung der Hauptschule zieht nur Konsequenzen aus einer schon lange sichtbaren Tendenz: In diesem Jahr besuchten in Deutschland nur noch 950 000 Schüler eine Hauptschule, das sind 10% der Schüler an allgemeinbildenden Schulen. Im Saarland waren es 0,3%, in Mecklenburg/Vorpommern 0,7%, in Berlin 4%, in Baden-Württemberg 14 % und nur in Bayern 30%. „Die Hauptschule ist faktisch tot“, „sie ist nur noch eine Restschule“, „niemand will sie mehr als eigene Schulform“ – zitiert Gisela Kirschstein in der Berliner Morgenpost die Urteile von Schulleitern der Hauptschule. Äußerst bedenklich sind aber die von ihr zusammengetragenen Ursachenanalysen: Auf Grund der sinkenden Schülerzahlen steigt der Anteil der Schüler aus problematischen Elternhäusern. Gewalt, Diebstahl, Sachbeschgädigung und permanente Unterrichtsstörungen nehmen immer mehr zu. Die Deklassierung des Abschlusses tut ein Übriges: So sank die Zahl der Ausbildungsberufe für Hauptschüler auf katastrophale Werte. „Das Schulmilieu wird kritisch“, zitiert Kirschstein einen Hauptschulleiter – nicht etwa in Berlin-Neukölln, sondern im pfälzischen Schifferstadt. Dort hatten sie die ganze Palette der Reformmaßnahmen bereits durchprobiert: mehr Praxisorientierung, kleinere Klassen, Ganztagsbetrieb, Betriebspraktika, Schulsozialarbeit – „es hat uns überhaupt nichts genutzt“, so der Schulleiter. Seine Option: Auflösung der Hauptschule.

Das alles berührt die Bildungspolitiker wenig. Ihnen ist eine Verbesserung der Förderung, also eine Weiterführung der Reform, wichtiger als jede Strukturdebatte. In seltener Einmütigkeit erklären sie von Hessens Roland Koch (CDU) bis Berlins Schulsenator Zöllner (SPD), dass die Abschaffung der Hauptschule kein Thema sei. In geradezu grotesker Missachtung der Realität erklärt z.B. Zöllner: „Es kommt immer auf das individuelle Wechselspiel zwischen Schüler und Lehrer an.“ Seine Option: Reform statt Strukturdebatte – so Christa Beckmann in der Berliner Morgenpost.

Da sind offenbar sogar die 7 Weisen des Bayerischen Aktionsrates realistischer - und mutiger. Ihre Forderungen: Rechtsanspruch auf einen kostenlosen Krippenplatz, 2jährige verbindliche Vorschule, Hochschulausbildung für Erzieher, nach einer insgesamt 6jährigen Grundschule eine Aufgliederung des Schulsystems in Gymnasium und Sekundarschule, staatliche Schulen in privater Trägerschaft, um ihre Autonomie zu stärken; Grundfinanzierung und eine Berechnung weiterer Zuschüsse pro Schüler; befristete Verträge und leistungsabhängige Gehälter für Lehrer, die von den Schulen festgesetzt werden. Lehrer mit zwei Korrekturfächern sollen mehr verdienen und die Übernahme zusätzlicher Aufgaben honoriert werden. Diese Option für eine radikale Strukturveränderung bedeutet zwar eine Abschaffung der Hauptschule, aber auch eine Verhinderung der Einheitsschule. Auf die Reaktion der GEW darf man gespannt sein.

Donnerstag, 8. Februar 2007

Vernichtung durch Arbeit

Dieser Satz war für mich bislang reserviert für die systematische und bewußte Ausrottung von Zwangsarbeitern in deutschen Lagern der NS-Ära. Ich bin überhaupt nicht geneigt, die verschiedentlich so beliebten "Vergleiche" anzustellen wie: "Hühner-KZ", Saddam = Hitler, Milosevic oder Bush = Hitler, und schon gar nicht die nicht selten anzutreffende Gleichsetzung israelischer Politik gegenüber den Palästinensern mit dem deutschen Völkermord an den Juden. Aber es gibt Sätze, die stimmen auch anderswo. Und es geht nicht um "Vergleiche" und Gleichsetzungen.

Vernichtung durch Arbeit - ist einfach das, was mir zuerst als allgemeiner Kommentar einfällt, wenn ich Martin Spiewaks Bericht in der heutigen ZEIT-Ausgabe lese: "Ende einer Dienstzeit. Eine Lehrerin stirbt." Gestorben ist Petra Sperfeld, Grundschullehrerin an der Mariannen-Schule in Essen, am Herzinfarkt. Sie wurde 51 Jahre alt und hatte 24 Arbeitsjahre hinter sich.

Spiewak geht der Geschichte der Lehrerin nach und findet vor allem dies: Daß sie gestorben ist an der Vernichtung ihres Selbstwertgefühls. "Zerbrach sie unter dem Druck der Reformen?", fragt Spiewak im Untertitel seines Artikels. Diese Frage ärgert mich, denn sie suggeriert zunächst, daß es die - endlich in Gang kommenden - Reformen sind, denen die älteren Lehrer nicht gewachsen sind. Aber im Artikel selbst wird es dann genauer: Die Reformen werden ohne die Beteiligung der Lehrer gemacht, von oben aufgepropft, anstatt die Hauptakteure mitzunehmen. Ich weiß, wovon die Rede ist - denn ich war nicht nur selbst über 20 Jahre Lehrerin, ich weiß auch, wie "Schulreform" zuweilen beinahe gewalttätig "gemacht" wird, um vermeintlich endlich schneller Ergebnisse willen - wir wissen, es sind Milchmädchenrechnungen! -, wenn das gerade wieder neu ausgerufene Reformmodell das Ruder bei laufendem Betrieb herumreißen soll, wenn die Entwicklung nichts kosten darf, wenn den Lehrern weder die Initiative, noch Mitsprache, noch überhaupt Zeit dafür eingeräumt wird. Zeit ist vielleicht das wichtigste, was fehlt. Die Kollegien sollen im alten Modus weitermachen wie bisher und gleichzeitig das Neue entstehen lassen, aber rucki-zucki jetzt! Und dann bitte zu den Vorstellungen der Bildungsadministration, die nicht immer weiß, was in der Schule eigentlich los ist, und die meist nur sehr vage, häufig sogar falsche Vorstellungen von "guter Schule" hat.

Nicht umsonst hat man in Finnland zu Beginn der großen Bildungsreform den betroffenen Lehrern die Unterrichtsverpflichtung gekürzt und die Klassen verkleinert, - bei gleicher Bezahlung versteht sich! -, damit sie das Neue lernen, erproben und selbst mitenwickeln konnten. Hier aber versteht man offenbar unter Veränderung immer noch etwas Militärisches. Neuer Befehl: Kehrt marsch! angeordnet und zack! Selbst in der Entwicklung zu Neuem zeigt sich noch das alte preußische System von Befehl und Gehorsam. Was die Schulräte und Inspektoren und andere Vorgesetzte und Administratoren - die vermutlich nicht deshalb auf ihrem Posten sitzen, weil sie selbst besonders gute Lehrer waren - in besagter Schule angerichtet haben, sollte man unbedingt in Martin Spiewaks Artikel nachlesen.

Ich möchte dazu nur soviel sagen: Jeder halbwegs verständige Organisationsentwickler weiß inzwischen: Wirkliche Entwicklung gibt es nur MIT den Subjekten eines Tätigkeitssystems. Und: Transfer von Innovationen durch Kopieren von einer Organisation in die andere funktioniert nicht.
Nicht die Reform tötet - sie wird ja dringend gebraucht, denn auch das Alte ist ja nicht mehr auszuhalten. Was tötet, das ist der Mix aus Überforderung durch ein irres Arbeitspensum (wie es für Lehrer sonst in keinem anderen Land gilt), durch dysfunktionale Systemstrukturen und durch eine absolut veraltete Vorstellung vom Lernen und von der Lehrerrolle, wie sie nun mal in der Ausbildung gelernt wurde. Daß LehrerInnen, wie die verstorbene Petra Sperfeld, trotzdem beliebte und gute Lehrerinnen waren, ist ihr Verdienst. Sie haben ihre Expertise in ihrer Arbeitspraxis selbst erworben. Wenn dann also zu all diesen schwierigen Bedingungen, die einen Lehrer in Deutschland bis zum Übermaß und Zusammenbruch fordern, noch Mißachtung und Abwertung durch die Obrigkeit kommt, wie es im Falle der Petra Sperfeld geschehen ist, dann muß man sich eher wundern, wenn nicht dauernd solche frühen Tode im Dienst vorkommen. Und sie kommen vor. Erst letzte Woche ist in meinem Bekanntenkreis ein Lehrer - auch erst Anfang 50 - an einem Schlaganfall gestorben. Kein Wunder, daß gerade jetzt, denn diese Zeit um die Halbjahrszeugnisse + Abitur herum ist die stressigste Lehrerzeit überhaupt.
Zu fordern, die Lehrer müßten eben eine "robuste Psyche", ein "dickes Fell" haben - zu testen vor dem Lehrerstudium -, ist oberzynisch. Woher soll dann ihre Sensibilität für die Kinder kommen? Und: Ist es nicht eine wunderbare Tätigkeit, anderen beim Lernen und ihrer Entwicklung zu helfen? Wieso braucht man dazu eine ruppige Konsistenz? Da stimmt doch in der Vorstellung vom Lernen und Lehren irgendwas nicht!

Unsere jetzige Schule macht kaputt. Schüler, Lehrer, auch Mütter. Und mich macht sie außerdem wütend. Noch wütender macht mich aber, daß alle Erkenntnisse und Einsichten, alle Ratschläge von echten Experten, sei es zur Lerntheorie oder zum Organisationslernen, in der Bildungspolitik in Deutschland genauso ankommen, als hätte man einen Ochs ins Horn pfetzt, wie die Schwaben sagen, was heißt: gar nicht. Einfach unbelehrbar. Nur leiden und sterben müssen daran nicht die, die es verbocken, leider.
Bild: Ivan Montero / fotolia

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