Schulentwicklung

Sonntag, 4. Februar 2007

Nachhaltig und demokratisch! Schule zukunftsfähig gestalten

Unter diesem Motto fand am 30. und 31. Januar 2007 eine gemeinsame Tagung der beiden BLK-Programme Transfer 21 (Bildung für nachhaltige Entwicklung) und Demokratie lernen & leben im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg (LI) statt. Der Einladung der Projektleiter Regina Marek und Wolfgang Steiner sowie des Projektkoordinators Charly Nobis waren rund 300 Bildungsakteure gefolgt:
"Beide Programme haben das Ziel, Schülerinnen und Schüler als Subjekte ihres eigenen Lernens zu aktivieren sowie ihre demokratische Handlungskompetenz und ihre Bildung für nachhaltige Entwicklung zu fördern. Im Sinne der Initiative 'Hamburg lernt Nachhaltigkeit' zur UN-Dekade 'Bildung für nachhaltige Entwicklung' (2005-2014) wollen wir die Transferstrate-gien beider Programme weiterentwickeln", hieß es in der Einladung zur Tagung.

Auf der Tagung ging es nicht mehr darum, zu klären, worin die Zukunftsfähigkeit von Schule besteht – denn darüber waren sich Veranstalter und Teilnehmer im Wesentlichen einig. Stattdessen bestand die Besonderheit der Tagung einerseits in der Zusammenführung zweier Säulen der internationalen Entwicklungsanstrengungen in der Bildung – der "education for sustainable development" und der "civic education" – und andererseits im Fokus auf die komplizierte Aufgabe des Transfers von Entwicklungserfahrung. Gute Modelle, kluge Konzepte, gelungene Praxisbeispiele gibt es in Hülle und Fülle. Die Herausforderung besteht darin, die Konzepte und Instrumente der beiden Schulentwicklungsprogramme, die in den vergangenen Jahren an zahlreichen Schulen erprobt und institutionalisiert wurden und jetzt zusammengenommen eine umfangreiche Schatzsammlung an "good practices" bilden, zu verbreiten und im Regelsystem – also in allen Schulen – zu implementieren. Wie aber sieht ein gelungener Transferprozess aus? Wie vervielfältigt man "gute Schule"? Oder genauer: Wie bringt man Schulen – und Lehrer – dazu, sich zu verändern?

weiter Tagungsbericht_Januar07 (pdf, 589 KB)

Samstag, 27. Januar 2007

Bewertung und Zertifikat in der Schule

Kürzlich gab es bei Robert Nitsch anläßlich der nationalen Halbjahreszeugnisse eine Diskussion über Zensurengerechtigkeit.
Schülern muß zuweilen die Bewertung ihrer Leistungen zurecht als willkürlich und ungerecht erscheinen, wie Robert, dessen Leistungen im gleichen Fach von dem einen Lehrer mit "gut", von einem anderen mit "mangelhaft" bewertet wurden. In meinem ausführlichen Kommentar habe ich das Problem der Gerechtigkeit - neben dem Faktum der Subjektivität aller Bewertung - auch als eine der Folgen der Paradoxie des Schulwesens dargestellt: Einerseits soll die Bewertung Aufschluß über den Lernstand des Schülers geben - also pädagogische Funktion haben -, andererseits ist Bewertung verknüpft mit Zugangsberechtigung zu weiteren Lern-, bzw. Ausbildungs- und damit Lebensschancen - also eine Zuteilung von sozialen Möglichkeiten.

Die virtuelle Akademie der Friedrich-Naumann-Stiftung beginnt am nächsten Freitag (2.2.07) mit ihrem 5. Thema aus der Reihe "Mythen oder Fakten? - Bildungspolitik auf dem Prüfstand". Die These, die wie immer der Ausgangspunkt der online-Diskussion sein soll lautet diesmal:

„Ziffernoten sind ein besseres Beurteilungsinstrument als Verbalbeurteilungen!“

Wie schon in den vier Diskussionsrunden davor, trifft auch diesmal die etwas bemüht provozierende Behauptung gar nicht den Stand der Debatte. Denn ob Zensuren oder Berichtszeugnisse - an dem Problem der Zertifizierung als Zugang für weitere Bildungs- und Lebenschancen ändert sich durch diese Alternativen gar nichts, und die Diskussion ist längst anderswo.
Trotzdem ist auch diesmal zu hoffen, daß durch die Community der Diskutanten - einer bunten Mischung aus Bildungsakteuren, Eltern und anderen Interessierten - die Diskussion wieder das gewohnte aktuelle Niveau erreichen wird. Nicht zuletzt auch mit dem für dieses Thema engagierten Experten (im traditionellen Sinne: einem Hochschullehrer) Prof. Hans Brügelmann, der zum Glück nicht so verschnarcht ist wie die "Thesen" der Akademie, mit denen zwar Kernprobleme der Schulmisere angesprochen waren (Klassengröße, Migrationshintergrund, Sozialkompetenz vs. Fachkompetenz, Frühe Bildung, Bewertung, Unterricht), die jedoch auf Stammtischniveau formuliert zuweilen anstatt Diskussion wirklich in Gang zu setzen, manchmal eher hinderlich waren. Nur die Entscheidung der Diskutanten, die Fragestellungen nicht so ganz ernst und wörtlich zu nehmen und stattdessen weit über sie hinaus zu gehen, ermöglichte bisher eine ertragreiche Diskussion.

Das Bewertungsproblem wird seit einiger Zeit in der Schulentwicklung auf einer ganz anderen Stufe diskutiert, als es die obige "These" nahelegt. So geht es einerseits darum, Möglichkeiten zu finden, wie sich Schüler selbst zu bewerten lernen - und damit die pädagogische Funktion der Bewertung von Lernergebnissen in die eigenen Hände nehmen. Im Institut Beatenberg ("Eigentlich wäre Lernen geil") existieren dafür eigens ausgearbeitete überzeugende Instrumente, die schon viele Jahre erprobt wurden und die sich bewährt haben. Die Max-Brauer-Schule in Hamburg hat Elemente des Systems Beatenberg übernommen und wurde kürzlich erst mit dem Deutschen Schulpreis des Bundespräsidenten ausgezeichnet. Eines der wichtigsten pädagogischen Prinzipien dieser Gesamtschule: Die Schüler "übernehmen die Verantwortung" für ihren Lernprozess, wie das heute so schön heißt, und dazu gehört, daß sie sich nach gemeinsam bestimmten Kriterien selbst bewerten.
Eine zweite wichtige - aber überhaupt nicht neue Idee - gewinnt zunehmend an Wirklichkeit in der Schulpraxis: Das Portfolio als Ersatz für Zeugnisse oder wenigstens als "Anlage" an Zeugnissen. Ein Portfolio (im pädagogischen Sinne) ist eine Sammlung von dokumentierten Leistungen, die sich der Schüler im Laufe seiner Schulzeit - oder begrenzt: der Zeit der Sekundarstufe - erarbeitet hat. Schon seit einiger Zeit sind weder die Ausbildner und Arbeit"geber" am freien Markt noch die Universitäten und Fachhochschulen an Zeugnisnoten interessiert, sondern vielmehr daran, was ein Schüler während seiner Schulzeit "gemacht" hat. Dabei sind sogar häufig Kompetenzen und Leistungen, die neben und nicht in der Schule erworben wurden, viel wichtiger als die Note in Deutsch oder in Mathematik - wie etwa die ehrenamtliche Tätigkeit als Jugendgruppenleiter im Sportverein oder die Redaktion der Schülerzeitung, über die im Zeugnis nichts steht.
Über die Vorzüge von Portfolios als Leistungsnachweis und Zertifikat gegenüber dem Zeugnis liest man z.B. bei Thomas Rihm beitragrihm_neu1 (pdf, 147 KB) und bei Thomas Häcker haecker-lernvertraege01 (pdf, 75 KB), beide dem "subjektwissenschaftlichen Ansatz" zur Schulentwicklung verpflichtet.

Der Diskussion in der Online-Akademie der FNSt ist zu wünschen, daß sie zumindest diesen Standard berücksichtigt.

Aktualisierung: Die FNSt hat den Beginn des 5. Themas Der "Mythen-Fakten"-Diskussion wegen Bauarbeiten an der Plattform um eine Woche auf Freitag, den 9.2. verschoben.

Sonntag, 15. Oktober 2006

Selbstständige Schule

Die Zeitschrift der GEW, Erziehung und Wissenschaft, beschäftigt sich in ihrer akutellen Ausgabe mit der "Selbstständigen Schule". Hans-Günther Rolff, Direktor em. des Instituts für Schulentwicklung in Dortmund, leitet das Thema mit einem Gastkommentar "Chance oder einfach nur 'ne Mogelpackung?' ein, in dem er die Janusköpfigkeit einer von der Verwaltung angordneten Selbstverantwortung erläutert, die die nötigen Rahmenbedingungen (Strukturen, Ressourcen) verweigert, was möglicherweise zur Folge hat,
"dass Eigeninitiative und interne Evaluation gerade nicht aufblühen sondern verwelken", wenn "Entstaatlichung nicht Entbürokratisierung meint, sondern auf Privatisierung hinausläuft: etwa Schulhäuser verkauft werden und sich der Staat von Fortbildung lossagt. Sehr fragwürdig ist außerdem die Verlagerung ordnungspolitischer Aufgaben auf die Einzelschule (...). Das kann nicht nur zur Fragmentierung führen, sondern auch zum Stillstand..."


In verschiedenen Artikeln zum Schwerpunktthema des Heftes sind außerdem interessante Praxiserfahrungen einzelner Schulen verschiedener Bundesländer mit der "Selbstständigen Schule" zu finden, die je nach Bundesland mal "Selbstverantwortete Schule" (Hamburg), mal "Selbstständige Schule" (NRW, Hessen) heißt. In diesen Berichten wird deutlich, daß die Sorge, mit der Autonomie könne unter diesen Umständen auch eine Entdemokratisierung und Überreglementierung einhergehen, nicht unberechtigt ist. Der gemeinsame Titel der Erfahrungsberichte lautet darum auch "Selbstverantwortung nach Vorschrift", womit das Paradoxon benannt ist, das entsteht, wenn Entwicklungsprozesse vowiegend Top-Down und unter Ignorieren der Stimmen der Akteure vor Ort durchgesetzt werden sollen. Ohne Vertrauen der Politik- und Verwaltungssysteme in die Selbststeuerungsfähigkeit der einzelnen Schulen in Kooperation mit Gemeinden- und Stadtteilinstitutionen und -initiativen wird es nicht gehen.

Freitag, 13. Oktober 2006

Online-Debatte zur Schulentwicklung - Hear all voices!

Seit dem 6. Oktober läuft ein Online-Seminar "Mythen oder Fakten? Schulentwicklung auf dem Prüfstand" der Friedrich-Naumann-Stiftung.
Man muß absolut kein FDP-Fan sein, um den Wert dieser Aktion zu erkennen: Das Projekt mit einem außerordentlich professionellen Design auf allen Ebenen scheint schon kurz nach Durchführungsbeginn zu zeigen, daß es in der Lage ist, eine bundesweite Plattform zu bieten, die nicht nur geeignet ist, Multiperspektivität aus dem Kreis der schulischen Bildungsakteure zu sammeln und darzustellen und damit eine Möglichkeit, der katastrophalen Fragmentierung der Schulentwicklung durch die Föderalismusreform entgegenzuwirken, sondern auch dem Elend der populistischen öffentlichen Bildungsdebatte in den Massenmedien mit avancierten interaktiven Web-Instrumenten etwas an konkreter Diskussionskultur entgegenzusetzen.
Die Themen der Diskussion:
  1. Klassengröße
  2. Migration
  3. Fachkompetenzen
  4. Frühe Bildung
  5. Zensuren
  6. Unterricht
knüpfen an "heiligen Kühen" einer schon ewig währenden Debatte an, versuchen jedoch mit der Bereitstellung von Informationsmaterial und einer umsichtigen Moderation, die Diskussion auf ein höheres Niveau zu heben. Eine kluge Zusammenfassung (pdf, 218 KB) des Zwischenstands zum ersten Thema durch den Moderator Jöran Muuß-Merholz wurde den Diskutanden per mail zugeschickt; während die Diskussion auf dieser Ebene weiterläuft, kann sie ab dem Wochenende gleichzeitig auch mit von der online-akademie ausgewählten Experten weitergeführt werden. Nicht ganz auf der Höhe des demokratischen Systementwicklungsverständnisses scheint hier die Anwendung des Begriffs "Experte" zu sein, denn Experten sind in der Wissensgesellschaft eben nicht nur Wissenschaftler, sondern alle Akteure eines Tätigkeitssystems - hier also Lehrer, Schulleiter, Sozialpädagogen - und eben auch die Betroffenen - Schüler und Eltern. Das mag sicher damit zu tun haben, daß die FDP eher zu denen gehört, die an dem kranken, was der Systemtheoretiker und Steuerungswissenschaftler Helmut Willke mit dem "zyklopischen Blick" (Willke, Atopia) bezeichnet, einem einäugigen, ausschließlich aus einer Perspektive gewonnenen Steuerungsblick, dem für die Anforderung des Zusammenwachsens von Selbststeuerung und Kontextsteuerung - anders: von Bottom-up-Prozessen und Top-Down-Vorgaben - eben das zweite Auge fehlt.

Ob die (demokratisch verstandenen) Experten des Tätigkeitssystems Schule gehört und ihre Stimmen Gewicht für politische Entscheidungen bekommen, liegt jedoch auch an ihnen selbst. Denn die erste Voraussetzung ist, daß sie überhaupt öffentlich sprechen. Und dafür ist hier ein öffentlicher Raum angeboten. So möchte ich dafür werben, sich an dieser Online-Diskussion zu beteiligen, - denn mit der Initiative der FNSt ist immerhin ein Partizipationsangebot gemacht. Und ebenso wie bei den bildungspolitischen Aktionen und Projekten der Bertelsmannstiftung muß man sehr genau prüfen, ob diese Partizipationsangebote jeweils "zyklopisch" sind oder brauchbare Instrumente zur Entfaltung einer politischen Beteiligung bieten.

Sonntag, 8. Oktober 2006

Eine Schule für Alle – eine Initiative für das Bundesland Hamburg

Am Sonnabend, dem 7. Oktober 2006, fand in der Hamburger Klosterschule die Tagung "Hamburg braucht eine Schule für alle – Welche Schritte gehen wir jetzt?" statt. Als Veranstalter hatten nicht Organisationen sondern Personen geladen – der Hamburger GEW-Vorsitzende Klaus Bullan, die Vorsitzende des ELTERNVEREIN HAMBURG e.V. Karen Medrow-Struß, die Fraktionsvorsitzende der GAL Christa Goetsch, die SPD-Abgeordnete Sabine Boeddinghaus, die Vorsitzenden der Lehrerkammer, der Elternkammer und der SchülerInnenkammer Hamburg, der Vorsitzende des DGB Hamburg, Erhard Pumm; Wolfgang Rose, Landesbezirksleiter der Gewerkschaft ver.di, Norman Paech, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, der Bezirksamtsleiter Hamburg Nord, Mathias Frommann, sowie Erziehungs- und Politikwissenschaftler der Universität Hamburg und weitere mehr.

I. Neue Stufe der Entwicklung

Der Titel der Tagung sowie die Veranstalterliste zeigten schon vorab: Hier sollte es nicht zum x.ten Male eine Debatte um die Frage 'gegliedertes Schulwesen – ja oder nein' geben. Auch würde man nicht zum x.ten Male bloß eine Nachweisveranstaltung für die Notwendigkeit der Überwindung des gegliederten Schulsystems geboten bekommen – hieße die neue Schule nun Einheitsschule, Gesamtschule oder eben "Eine Schule für Alle". Was mich hier am Samstag früh aus dem Bett und aufs Fahrrad trieb, war das Neuartige dieser Veranstaltung: Ein Bündnis verschiedener Kräfte auf Landesebene hatte sich gebildet – vorerst noch auf der Personen-, nicht auf der Organisationen-Ebene –, und nun konnte zum ersten Mal auf einem kooperativen Level gefragt und abgetastet werden, wie eine geeignete Strategie zur Durchsetzung des Ziels "Eine Schule für Alle" aussehen könnte.
Ein Bündnis über Parteien- und Institutionengrenzen hinweg braucht eine gemeinsame Plattform, ein Manifest. In der Hamburger-Erklaerung (pdf, 204 KB) des Hamburger Bündnisses für "Eine Schule für Alle" heißt es:

Länger gemeinsam lernen – Hamburg braucht eine Schule für alle Kinder!

(...) Unser Schulsystem aus dem vorletzten Jahrhundert basiert auf früher Auslese statt auf Chancengleichheit durch individuelle Förderung. Es gibt nicht drei oder vier Typen von Kindern – jedes Kind ist einzigartig in seinen Stärken und Schwächen, seinen Begabungen und Interessen. Manche sind schneller und starten früher durch, andere brauchen mehr Zeit und Hilfe. Wenn unterschiedliche Kinder zusammen kommen, lernen sie voneinander und gemeinsam mehr. Es geht um die Anerkennung von Unterschieden. In den erfolgreichen Ländern gibt es deshalb eine Schule, in der jedes Kind individuell gefördert wird, ohne Sortieren, Sitzen bleiben und Abschulen. Dafür werden die Lehrkräfte auch ausgebildet, motiviert und in ihrem Arbeitsumfeld gut ausgestattet.
Auch in Deutschland wächst die Unterstützung für eine grundlegende Reform des Schulwesens: bei Eltern und Lehrkräften, in Betrieben und Verbänden, in Wissenschaft und Politik.
Die Erfahrungen, die Hamburg in hohem Maß mit integrativen Schulen hat – vor allem mit Grundschulen und Gesamtschulen – bieten eine gute Grundlage für unsere Vorstellungen einer Schule für alle Kinder. Die Trennung der Schüler/innen nach Klasse vier, die Aufteilung in höhere und geringerwertige Bildungsgänge, die soziale Selektion in Schulformen ist nur aufzuheben, wenn alle Kinder und Jugendlichen in eine integrative Schule gehen."


II. Orientierung
Vier Vorträge sorgten auf der Tagung für eine Orientierung, die alle Beteiligten mit wesentlichen Argumenten für die Bedeutung der Zielsetzung ausstattete, sowie über die Strategie des GEW-Bundesvorstands und über den Stand in der Enquète-Kommission Schulentwicklung der Hamburgischen Bürgerschaft zum "Zwei-Säulen-Modell" der Hamburger Schulbehörde informierte.

Matthias von Saldern, Prof. für Erziehungswissenschaft an der Universität Lüneburg, leitete die Notwendigkeit des Strukturwandels zu einer Schule für Alle von dem überwältigenden analytischen Befund des Versagens des bestehenden Bildungssystems vor den gesellschaftlichen Herausforderungen ab. Sein überzeugender Vortrag "Eine Schule für Alle – warum eigentlich?" war mit einer großen Zahl beeindruckender Fakten und Argumente – und vor allem höchst interessanter Zitate aus dem Bereich der Ökonomie angereichert. Hier sollen stellvertretend nur drei davon stehen:
Jürgen Hogeforster, Chef der Hamburger Handwerkskammer begründet die Notwendigkeit einer 9-jährigen gemeinsamen Schulzeit:
"Unser System verspricht Förderung durch Selektion. Ich glaube, Selektion bewirkt genau das Gegenteil. Wenn wir Schüler zusammen lassen, wenn sie mehr von einander lernen und wir uns um Schwierigkeiten kümmern, ermöglichen wir mehr Selbstständigkeit und Zusammenarbeit. Darauf kommt es im Beruf an."
Rita Süssmuth erkannte 2005:
"Wir haben in Deutschland ein ständisches Schulwesen. Die Hauptschule entspricht der früheren Volksschule fürs gemeine Volk. Die Realschule nimmt die Mittelschicht auf, das Gymnasium wendet sich an eine Bildungsoberklasse. So sieht, wenig überzeichnet, die heutige Schulstruktur aus. Und die reicht nicht mehr für eine Wissensgesellschaft mit einer dramatisch sich beschleunigenden Alterung. Wir müssen jeden einzelnen Schüler voranbringen, weil wir jeden später als Bürger und als Finanzier des Sozialsystems brauchen. Wir können uns die dreigliedrige Schule schlicht nicht mehr leisten. Die Ersten, die das erkannt haben, sind die Unternehmen."
Und das Ifo – Institut for Economic Research at the University of Munich – befand:
"In Bezug auf die frühe Mehrgliedrigkeit zeigt sich, dass der familiäre Einfluss umso größer ist, je eher die Selektion in unterschiedliche Schultypen erfolgt. Das mehrgliedrige Schulsystem wird oftmals mit angeblichen positiven Niveaueffekten, insbesondere für leistungsstarke Schüler, verteidigt. Die vorgelegten Befunde legen aber nahe, dass eine frühe Selektion der Schüler in verschiedene Schultypen nicht nur die Chancenungleichheit erhöht, sondern auch das gesamte Leistungsniveau sogar eher senkt als erhöht. Damit ergibt sich in diesem Bereich eher kein Zielkonflikt zwischen Gleichheit und Effizienz in der Organisation des Schulsystems."
Alle Zitate, sowie die Langfassung des Vortrags und seine Kurzfassung in Power Point auf von Salderns Homepage.
Sein Fazit: Die IGLU-Untersuchung hat erwiesen, daß ca. die Hälfte der Empfehlungen der Grundschule für den Übergang auf eine Schulform der Sekundarstufe sich im Nachhinein als falsch herausstellen. Damit ist die Schichtabhängigkeit der Grundschulempfehlung bewiesen: Wer mit hohem/niedrigem Niveau in die Grundschule aufgenommen wird, kommt mit hohem/niedrigem Niveau aus der Grundschule heraus.
Wie ist aber die jetzt geplante Umformung in ein zweigliedriges Modell in Hamburg zu beurteilen? Von Saldern: Der Plan der Hamburger Schulbehörde (BBS) zur Einführung eines zweigliedrigen Schulsystems – hie Gymnasium, da Stadtteilschule – ist nicht die adäquate Antwort auf die Notwendigkeit der Umgestaltung zu einer zukunftsfähigen Schule. "Unser Schulsystem produziert Parallelgesellschaften" – so von Salderns Diagnose. Die Ablösung der Dreigliedrigkeit durch eine Zweigliedrigkeit würde daran überhaupt nichts ändern und überdies das System noch verteuern.

Ulrich Vieluf, Leiter der Abteilung Qualitätsentwicklung und Standardsicherung am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg, fesselte mit seiner packenden grafischen Präsentation und der klaren und einleuchtenden Interpretation der Daten der KESS-Studie (pdf, 246 KB), in der die Korrelationen zwischen sozialer Stadtteilentwicklung und Schulentwicklung beleuchtet wurden. "Schulentwicklung ohne soziale Entwicklung vor Ort ist kaum möglich", so Vieluf. Der Gymnasialbesuch ist gekoppelt an die soziale Zugehörigkeit. Zunehmend findet eine soziale Segregation auf verschiedene Stadtteile statt – in Metropolen wie München ebenso wie in Hamburg. Das kulturelle Umfeld in den Außenbezirken verelendet zusehends, bietet keine Kulturressourcen und verdoppelt damit die Auswirkung des Fehlens grundlegender Bildungsmedien (Bücher, Computer, Musikinstrumente) in den sozial benachteiligten Familien. Dabei ist festzustellen, daß das Niveau der Gymnasien in den armen Stadtteilen dem Niveau der Hauptschulen in den reichen Stadtteilen entspricht. "Es ist also festzustellen" – so betont Vieluf -, "daß eine Entkopplung der Schulform von der Leistung stattgefunden hat." Eindrucksvoll ist auch die Korrelation von Kompetenzen mit dem Indikator: "Kinder, deren Eltern die Freunde kennen/nicht kennen". Kinder, deren Eltern die Freunde ihrer Kinder nicht kennen, - d.h., die nachmittags auf der Straße leben und nicht betreut sind, also in prekären sozialen Verhältnissen leben -, weisen in allen Kompetenzbereichen (Lesen, Mathematik, ...) mindestens eine Standardabweichung auf. Eine Standardabweichung entspricht zwei Schuljahren. Das führt zur Abwanderung aus den Stadtteilen und zu einem fortschreitenden Prozess sozialer Segregation. Inzwischen gibt es "gymnasialfreie" Regionen einerseits und "hauptschulfreie" Regionen andererseits. Das Bildungsangebot ist es also und nicht die Schulwahl ("Elternwille"), was für den Bildungserfolg entscheidend ist.

III. Politische Strategie
Der Vortrag von Marianne Demmer zeigte eine erfreuliche Entwicklung der Debatte in der Bildungsgewerkschaft: Der jahrzentelange ideologische Streit um Gesamtschule oder Gymnasium als "die richtige" Schulform scheint überwunden zu sein. "Viele Wege führen nach Rom", so Demmer. In der zersplitterten foederalen Bildungslandschaft der Republik, in der die einzelnen Länder die Debatte zur Strukturreform völlig unterschiedlich führen, werden die Wege zu einer Überwindung des gegliederten Schulwesens verschieden sein müssen. Für Berlin erwartet Demmer eine Strategie in Richtung Gemeinschaftsschule. In Hamburg wird von der Regierung der Weg über eine Zweigliedrigkeit gedacht und muß diskutiert werden. Anknüpfungspunkt in Hessen, NRW und Niedersachsen scheint die Stärkung der Hauptschule zu sein. Ein Fortschritt sei immerhin, daß das alte Tabu "Schulstrukturreform" generell gefallen ist und eine offensive Verteidigung des dreigliedrigen Systems nirgendwo mehr stattfindet.
Wichtig sei bei allen unterschiedlichen Strategien jedoch als Rahmenvorgabe das Ziel eines integrierten Systems, das sich aus den bestehenden Schulen entwickeln muß. Voraussetzung ist, daß die zwangsweise Abschulung in eine minderwertige Schulform abgeschafft wird.
Aus einer Begegnung mit finnischen Lehrern und Bildungsakteuren berichtete Marianne Demmer ein für die Entwicklung in Hamburg nicht unwesentliches Detail: Für die Umstellung des Bildungssytems in Finnland vor ca. 15 Jahren vom – ehemals deutschen! – Modell auf das heutige so erfolgreiche verkleinerte man in der ersten Phase die Klassenfrequenz drastisch. Ohne eine immense Investitionserhöhung in personelle und materielle Ressourcen ist ein echter Wechsel nirgends zu haben.
Die GEW fordert von den Landesregierungen, die rechtlichen Möglichkeiten zu schaffen, damit Einzelschulen sich in einer Schulentwicklung von unten zu einer integrativen und inclusiven Schule entwickeln können.

Dieter Wunder, ehemaliger langjähriger GEW-Vorsitzender und derzeit Mitglied der Enquète-Kommission Schulentwicklung der Hamburgischen Bürgerschaft, stellte seinen Standpunkt zur Strukturreform dar. Er machte vor allem klar, daß eine Strukturreform ohne die Berücksichtigung der betroffenen (Eltern) nicht möglich sei. Vor allem sei ein Konsens mit den Eltern des Gymnasiums unerläßlich. Unter der Voraussetzung eines Abschulungsverbots setzt Wunder dabei auf die Lernfähigkeit des Gymnasiums. Für ein "Zwei-Säulen-Modell" sei auch Voraussetzung, daß auch die nichtgymnasiale Säule zum Abitur führen müsse. Ungeklärt schien für ihn selbst auch noch die Frage zu sein, ob eine "große" Lösung (Gemeinschaftsschule) oder eine "kleine" Lösung (Zwei-Säulen-Modell) der für Hamburg gangbare Weg ist. Die heilige Kuh "Elternwille" (die politische Sprachfigur für die Notwendigkeit der Beibehaltung des Gymnasiums) schien dabei in Wunders Statement noch nicht ausreichend gedanklich hinterfragt, weshalb er reichlich Einwände aus dem Auditorium erntete.

Mit dem Problem des "Elternwillens" beschäftigte sich jedoch der Workshop "Stadtentwicklung, Schulentwicklung – Stadtteilschule", in dem daran erinnert wurde, daß der "Elternwille" zur Durchsetzung der Gesamtschule geführt hatte – mithin also historisch, wandelbar und beeinflußbar ist. Klar wurde hier auch, daß sich hinter dem "Elternwillen", der sich derzeit als Wahl des Gymnasiums zeigt, nicht mehr, aber auch nicht weniger, verbirgt, daß alle Eltern die bestmögliche verfügbare Förderung ihrer Kinder anstreben. Auch mit dem derzeitigen Gymnasium sind nicht alle Eltern zufrieden und würden eine Gemeinschaftsschule, die ihre Kinder besser fördern könne, vorziehen, wie Frieder Bachteler, Schulleiter eines ehemaligen Gymnasiums, das sich in eine Gesamtschule verwandelt hat, betonte.
Sabine Boeddinghaus, SPD-Abgeordnete in der Harburger Bürgerschaft, faßte im Abschluß-Plenum die Ergebnisse des Workshops zusammen: Das "Zwei-Säulen-Modell" sei nicht der richtige Weg zur "Schule für Alle" in Hamburg. Überdies müsse der Begriff "Stadtteilschule", den die Behörde zunächst nur als schön klingende Worthülse für die nichtgymnasiale Säule aus der Schulreform-Kultur übernommen hat, wieder mit den konkreten zukunftsfähigen Inhalten der "Just Community-School" gefüllt und positiv besetzt werden. Mit Jürgen Dege, der als Leiter der Koordinierungsstelle "Bildungsoffensive Elbinsel" mit der konkreten Ausgestaltung des Begriffs "Stadtteilschule" beschäftigt ist, hat der Arbeitsbegriff "Bilden, Beraten, Betreuen" in die Planung Einzug erhalten, der für eine quartiersbezogene Vernetzung von Schule und Stadtteilinstitutionen und –initiativen steht.

Der Workshop "Volksinitiative für eine Schule für Alle – (Wie) Geht das?" eruierte die Möglichkeiten und Voraussetzungen für das Gelingen einer politischen Strategie, die die Institution der außerparlamentarischen Mitbestimmung "von unten" nutzt. Wolfgang Rose, Landesbezirksleiter der Gewerkschaft ver.di, erläuterte vor allem die Bedeutung des richtigen Zeitpunkts, nämlich den Zusammenhang mit den beiden laufenden Volksinitiativen in Hamburg. Die Hamburger Regierung hatte den letzten Volksentscheid ignoriert, in ihrer Politik konterkariert und zudem das Gesetz über Volksinitiativen dahin verändert, daß keine Unterschriften mehr öffentlich gesammelt werden dürfen, sondern die Bürger ins Rathaus kommen müssen, um ein Begehren zu unterschreiben. Die beiden laufenden Volksinitiativen fordern erstens, daß wieder "auf der Straße" gesammelt werden darf, und zweitens, daß das Gesetz einen Passus aufnehmen muß, der die Regierung zwingt, einem Volksentscheid Rechnung zu tragen oder – wenn sie dies nicht gewillt ist - , eine neue Initiative gegen den Entscheid durchzuführen. Gekoppelt mit diesen beiden Initiativen hätte eine Volksinitiative für "Eine Schule für Alle" einen konkreten Gegenstand, damit der Entscheid "Eine Schule für Alle" auch einen strategischen Ort, der seine Erfolgsaussichten verbessern könnte.

Den Workshop "Integration von MigrantInnen in der Schule für Alle" moderierte kompetent die Schülerin einer 13. Klasse Kübra Yücel, Vorstandsmitglied der SchülerInnenkammer Hamburg. "Ich habe zum ersten Mal Erwachsene moderieren müssen und darum etwas Lampenfieber gehabt", erklärte sie. Mit Geschick und Routine stellte sie im Abschlußplenum außerdem die Arbeitsergebnisse des Workshops vor. Sie führte damit auch beispielhaft vor, welches Niveau an demokratischen Kompetenzen Schüler in der Hamburger Schule entwickeln können, die an dem Bund-Länder-Kommissions-Programm "Demokratie lernen und Leben" beteiligt sind. Mit dem Schildbürgerstreich der Bundesregierung zur Föderalismusreform sind solche Bundesprogramme zur Schulentwicklung in Zukunft leider nicht mehr möglich.

IV. Ausblick
Ein Schulstrukturrwandel zu "Einer Schule für Alle" kann nur gelingen, wenn auch die innere Struktur der Schule sich wandelt: Die Schule muß sich vom Stoff"Lernen" im Gleichschritt des frontalunterrichteten undifferenzierten Klassenverbands, der die Form des 19. Jahrhunderts mit den Anforderungen einer militarisierten Industriegesellschaft war, zu einem völlig neuen Lernverständnis und einer völlig veränderten Lernorganisation wandeln. Diese innere Umstrukturierung der Schule sollte und konnte die Tagung natürlich nicht behandeln.
Manches davon wurde jedoch nebenbei deutlich:

Wie eine Schulentwicklung in Richtung einer Gemeinschaftsschule an einer Einzelschule in Hamburg gehen kann, erläuterte mir in einem Pausengespräch die Schulleiterin der Schule Beim Pachthof, Heilke von der Ahe. Die GHR-Schule, in Hamburg-Horn gelegen, einem Stadtteil mit hohem Anteil an "Risikoschülern" hat ihre Schulentwicklung mit einer Erweiterung der Grundschule begonnen: Zunächst wurde die Beobachtungsstufe 5/6 in die Grundschule integriert, die Klassen 7 und 8 der Sekundarstufe I sollen nach den positiven Wirkungen dieser Maßnahme jetzt in der Integration folgen. Mit der Leitidee "Förderung statt Wiederholung" hat die Schule das Sitzenbleiben praktisch abgeschafft. Mit welchem Lernverständnis und welchem pädagogischen Instrumentarium zum selbstständigen Lernen die Schule beeindruckende Erfolge der Integration von Heterogenität und Inklusion aller im Stadtteil lebender Schüler erzielt und damit ein beispielgebendes Modell für andere Schulen sein kann, ist detaillierter vor allem im Schulprogramm auf der Homepage der Schule zu erfahren.

Mit lang anhaltendem Beifall bedankten sich die Teilnehmer der Tagung bei den SchülerInnen des integrierten Berufsvorbereitungsjahrs der Gewerbeschule 12, die uns den ganzen Tag über mit einem köstlichen Catering versorgten und damit nicht unwesentlich zum Gelingen der Veranstaltung beitrugen. Auch dieses Detail der Tagung ist ein Beispiel für die Emergenz einer neuen Schulkultur: Das Catering ist ein sogenanntes Service-Learning, eine Methode zum selbstständigen Lernen und ein Bestandteil des vielfältigen Methodensets von "Demokratie lernen und leben".

Der Anfang ist gemacht. Die Tagung hat gezeigt, daß die Forderung nach einer Bildungs-Strukturreform, die das gegliederte Schulwesen überwindet, von einer Vielzahl von Akteuren im Bildungswesen, in der Politik und nicht zuletzt von den Betroffenen unterstützt wird. Jetzt gilt es, für das gemeinsame Ziel eine politische Strategie zu entwickeln und diese in
konkrete Aktionen zu gießen. Der Aufbau einer interaktiven Internetplattform zur kommunikativen Bündelung aller beiteiligten Akteure sowie zur Vernetzung mit Geschwister-Initiativen und Expertise in anderen Ländern wird sicher eine der nächsten Aufgaben sein!

Mittwoch, 12. April 2006

Wasch mir den Pelz ...

In Hamburg macht Schule, das teilweise als Organ der Hamburger Schulbehörde fungiert, formuliert Dieter Lenzen "Perspektiven zur Reform des Schulsystems". "Grundlegende Änderungen" verspricht er im Titel seines Aufsatzes (S. 6ff). Aha, jetzt geht es endlich zur Sache!, freue ich mich, und wie gut, daß sich Lenzen der überfälligen Transformation dieses hinterwäldlerischen deutschen Systems annimmt. Lenzen ist einer der wenigen deutschen Erziehungswissenschaftler, die international überhaupt zur Kenntnis genommen werden - immerhin hat er eine Seite in der deutschen Wikipedia und in der englischen taucht er als Referenz beim Stichwort Education im Abschnitt History auf – und Lenzen hat Luhmanns Erziehungssystem der Gesellschaft herausgegeben und seine Schriften zur Pädagogik editiert, und so hege ich frohe Erwartung, daß endlich ein Ende damit gemacht wird, daß sich die deutschen Bildungspolitiker an der Selektionsstruktur ihres Schulwesens bis zum Untergang festklammern, wie die Titanicmusiker an ihren Instrumenten.

Die Hoffnung wird jedoch schon irritiert, wenn Lenzen im zweiten Abschnitt seines Artikels zu den Mängeln des deutschen Bildungssystems folgendes bemerkt: "Will man heute das Bildungssystem verändern, so geht es darum, ökonomische und soziale Trends sowie Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die sich bis in die Zeit des Jahres 2020 erstrecken." Moment! Wieso nur bis 2020? Das ist doch schon bald. Und wieso genau bis dahin? Und was ist im Jahre 2021 nun wieder los, wovon Lenzen schon weiß, wir jedoch nicht? Und welche sozialen Trends und Rahmenbedingungen, die wir berücksichtigen sollen, meint er überhaupt? Leider sagt er es uns nicht. Aber ich bin mißtrauisch geworden, denn die Tendenzen, die ich sehe, werden vermutlich nicht im Jahre 2021 schon wieder enden.

Aber vielleicht war es ja nur ungeschickt formuliert, also sehen wir weiter: "Die Beteiligung im Bildungssystem ist unzureichend und sozial ungleich verteilt: Die Leistungselite ist zu klein, die Zahl der Leistungsschwachen und Benachteiligten zu groß." Immerhin richtige Diagnose. Aber die kennen wir schon und hatten sie auch schon konkreter. Jetzt hoffen wir auf Lenzens Therapieplan:
"In der Primarschule werden Kinder bis zum vollendeten vierzehnten Lebensjahr gemeinsam unterrichtet." Gut. Wenigstens acht Jahre gemeinsame Schule für alle. Aber wieso 8, warum nicht 9 wie in Finnland oder 10 wie in der DDR? Und dann: "Heterogene Lernvoraussetzungen sollten in der Sekundarstufe I zu einer Differenzierung führen. Diese Stufe wird angeboten als Sekundarschulform in Form einer kombinierten Haupt- und Realschule ... für das zweite und dritte Leistungssegment; als Gymnasium ... für mindestens den obersten Leistungsbereich." Aber warum gibt es nach der gemeinsamen Schulzeit noch relevante heterogene Lernvoraussetzungen? Zu kurze Zeit? Verfehlte Lernkultur? Schlechte Lehrer, mangelhafte Förderung? Irgendwie kann sich Lenzen offenbar doch nicht von dem Gedanken einer für Haupt-, Real- und Gymnasialbildung anscheinend biologisch differenziert befähigten Menschheit (zumindest in Deutschland) verabschieden. In welche Tüte der junge Mensch gehört, zeigt sich für ihn dann am Ende des 14. Lebensjahrs in "Leistungstests ..., die zum Beispiel [?] weitgehend [?] darüber mit [?] entscheiden, ob ein Jugendlicher auf ein Gymnasium gehen kann."
"Darüber hinaus müssen Sonderschulen für Kinder mit Behinderungen und Spezialschulen für Kinder mit besonderen Begabungen geschaffen werden." Wie? Geschaffen werden? Sonderschulen? Diese hatten wir doch schon immer, nur daß sie mittlerweile schamhaft Förderschulen genannt werden. Also doch die guten Lerner und die schwierigen früh absondern, damit es homogen zugeht?

Und schließlich: "Die Einführung einer undifferenzierten Einheitsschule, die das Wahl- und Bestimmungsrecht der Eltern ins Leere laufen ließe, wäre verfassungswidrig und ist strikt abzulehnen." Im GG der BRD steht nirgendwo etwas zum gegliederten Schulsystem, das aufzuheben verfassungswidrig wäre. Welche Verfassung meint er? Was wählen die Eltern denn da? Ich dachte, die Tests sollen "zum Beispiel weitgehend" die Eintütung in die Sekundarschulform "mit"bestimmen? Es können also doch wieder nicht alle Eltern wählen, nur die, deren Kinder die Tests bestanden haben und sowieso auf Gymnasium dürfen? Die sollen dann die Erlaubnis haben, für ihr Kind trotzdem freiwillig die Hauptrealschule zu wählen? Toll! Wäre da nicht in Lenzens unergründlicher Logik doch eher diese Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium "verfassungsfeindlich"? Und die gemeinsame Primarschule bis 14 scheint auch nicht ernst gemeint, denn in der dazugehörigen Grafik auf S. 7 sind ab ca. dem 10. Lebensjahr zwei parallele Schulformen - Sekundarschule und Gymnasium angesagt. Und selbst, wenn man noch in Rechnung stellt, daß nach dieser Grafik die Einschulung in die Primarstufe mit 4 Jahren erfolgt, käme trotzdem nur die in Berlin(West) schon seit 50 Jahren betriebene 6-jährige Grundschule heraus. Danach würden die Schüler auf zwei verschiedene Schulformen verteilt - nach Elternwillen? - , nämlich aufs Gymnasium und aufs Nichtgymnasium, um anschließend mit 14 Jahren eine Aufnahmeprüfung für die gymnasiale Oberstufe zu machen. Mit Chance nach vier Jahren Haupt- und Realschule?
Das kann doch nicht ernst gemeint sein!

Ich hätte lieber nichts erwarten sollen.

"Grundlegende Änderungen"? "Perspektiven zur Reform"? - Nichts dergleichen. Stattdessen Variation X der bekannten Melodie, die mitsamt der Posaune und dem Schiff untergehen wird!

Donnerstag, 6. April 2006

Schulentwicklung oder Schulkollaps – das sind die Alternativen

"Es klingt wie eine Nachricht aus dem Bürgerkrieg", beginnt der Bericht von zeit-online über die Rütlischule, deren Schulleitung die Verantwortung über die Schule letzte Woche an die Behörde zurückgegeben hatte. Schulehalten kann nur noch mittels Polizeigewalt stattfinden: Lehrer müssen durch die Polizei vor Schülern und Schüler vor sich selbst geschützt werden; andererseits müssen Schulschwänzer gegen ihren Willen von der Polizei zum Schulbesuch verhaftet werden. Schule ist wieder da, wo sie im 19. Jahrhundert begonnen hat: Als Kopie von Kasernen und Fabriken. Während Politiker sich überrascht und erschrocken darüber geben und mit hilflosen oder hektischen adhoc-Maßnähmchen reagieren, wissen Lehrer und Bildungsexperten, die diesen Namen verdienen, nicht erst seit dem ersten Schulkollaps, wohin die jahrzehntelange Verweigerung und das Unvermögen der Bildungspolitiker, die deutsche Schule aus den Strukturen des Industriezeitalters in eine Schule der Informationsgesellschaft weiter zu entwickeln, führt. Erst wenige Wochen liegt die empörte Reaktion unserer sich selbst entmachtenden Bildungsministerin angesichts der Warnungen des UN-Sonderbauftragten Munos Vilalobos zurück.

Dabei sind nicht nur Zusammenbruch und Clash des deutschen Schulsystems längst und vielfältig prognostiziert worden (Erfurt schon vergessen?): Es liegen auch schon seit langem genügend Vorbilder und Instrumente für die überfällige Rekonstruktion des Bildungswesens bereit, die aus dem Desaster des heruntergekommenen selektierenden Systems herausführen würde. Um einmal nicht vom finnischen, schwedischen oder kanadischen Modell zu sprechen – denn so langsam kommt man sich dabei wie eine tibetische Gebetsmühle vor - : Vielversprechende Ansätze gibt es auch in Deutschland selbst. Jeder engagierte Elternvertreter kennt die anschauliche DVD-Dokumentation von Reinhard Kahl – "Treibhäuser der Zukunft". Auch die dort dokumentierten Ansätze sind beileibe keine neuen Erkenntnisse, denn sie setzen nur fort, was schon vor 15 Jahren – zur Zeit des finnischen Reformbeginns – von Kahl in seinen Videodokumentationen "Lob des Fehlers" vorgeführt worden war: Lernen für die Gegenwart und Zukunft muß im Informationszeitalter unter ganz anderen Bedingungen stattfinden: individualisiert, kollektiv, selbstbestimmt, projektförmig forschend und mit dem Computer. Und das nicht nur für die Kinder der gesellschaftlichen Eliten, sondern für alle.


Administrative Schulentwicklungsversuche nach dem beliebten deutschen Top-Down-Implementations-Modell – die Bildungspolitik beschließt, die Behörde "bricht in Maßnahmen herunter" und befiehlt den Lehrern, was sie und wie sie ab jetzt ihre Tätigkeit auszuführen haben – sind beinahe jedes Schuljahr neu auf die Schulen heruntergeregnet. Bewährt hat sich davon kaum etwas, stattdessen hat es Resignation und Verbitterung erzeugt. Die einzige Alternative besteht darin, daß sich die Schulen selbst entwickeln.
Ein Beispiel für einen potenten Ansatz zur Selbstentwicklung – einer Rekonstruktion von Schule durch diejenigen, die in ihr arbeiten - konnte man gestern in Hamburg kennen lernen:

Schüler, Eltern, Lehrer entwickeln ihre Schule:

Aushandlungsgruppe und Schülerfeedback


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Max Wolter und Franz Kißig, zwei der vier Gründer der ONO-Systems stellen ihre Erfindung vor

Mehr als 80 Eltern, Lehrer, Schulleiter, Lehrerfortbildner und Schüler aus Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen kamen am 5.4.06 in der Aula des LI zusammen, um sich über Funktionsweise und Erfolge zweier neuer Instrumente zur demokratischen Schulentwicklung zu informieren.
Zwei Schüler der Otto-Nagel-Oberschule (ONO) in Berlin-Biesdorf waren mit ihrem Schulleiter, Lutz Seele, und dem Berliner Schulentwicklungsberater Dr. Marcus Hildebrandt auf Einladung des Referats Gesellschaft aus Berlin angereist, um das Produkt ihrer Schülerfirma 'ONO-Systems' vorzustellen: eine Software zur Selbstevaluation der Schule durch Schülerfeedback. Die Schüler ließen ihr hochleistungsfähiges Instrument, das in schnellster Zeit Hunderte von digitalen "Fragebögen" aufnehmen und in einer Grafik auswerten kann, direkt vom begeisterten Publikum testen. Die beeindruckende Erfindung, die preisverdächtig im Jugend forscht–Wettbewerb sein dürfte, ist das Ergebnis eines demokratischen Schulentwicklungsprozesses durch das Instrument der Aushandlungsgruppe des Otto-Nagel-Gymnasiums.
Die Aushandlungsgruppen, - so erläuterte der Schulentwicklungsberater Hildebrandt - sind paritätisch zusammengesetzte Arbeitsgruppen aller Beteiligten einer Schule: Schüler, Lehrer, Eltern und auch der sonstigen Mitarbeiter einer Schule. Sie beruhen auf freiwilliger Mitarbeit ihrer Teilnehmer, sind nicht mit Gremien zu verwechseln, sondern arbeiten diesen zu, indem sie Vorschläge zur Problemlösung und zur Lösung von Entwicklungsaufgaben – wie etwa die Formulierung eines Schulleitbilds - unter den Gruppen einer Schule aushandeln. Wichtig ist dabei die Rolle einer Beratung von außen, die professionell bei der Aushandlung hoch konsensfähiger Lösungen hilft. Die Vorschläge der Aushandlungsgruppe werden nach einer breiten Diskussion der Schulgemeinde meist von den Gremien in Beschlüsse verwandelt. Der große Erfolg in der Umsetzung der Entwicklungsmaßnahmen liegt in deren Zustandekommen als Produkt eines von allen funktionalen Gruppen getragenen aktiven Prozesses, in dem alle Stimmen ernst genommen werden.
Auch in Hamburg gibt es an einzelnen Schulen eine Kultur des Schülerfeedback, vor allem in beruflichen Schulen. Die Ausgabe der Zeitschrift 'Hamburg macht Schule' 05/03 ist mit mehreren Aufsätzen und Berichten dem Thema Schülerfeedback gewidmet. Ein Teil dieser Texte kann vom Hamburger Bildungsserver herunter geladen http://www.hamburger-bildungsserver.de/innovation/thema/feedback/ oder im Landesinstitut beim Referat Gesellschaft gedruckt bestellt werden.
Die ONO-Schülerfirma http://www.ono-systems.de ist unter kontakt@ono-systems.de erreichbar und gibt auf Anfrage gerne die Software zum Schülerfeedback sowie Support.

In der Diskussion über den Zusammenhang zwischen Aushandlungsrunde und Feedback-Instrument, entwickelt durch die jungen Erfinder der Schule, stellten sich einige entscheidende Faktoren für ein Gelingen der Schulentwicklung heraus. Dazu muß der Prozeß, in dem sich das Schülerfeedback als das wichtigste Produkt des ONO-Entwicklungsbeginns herausstellte, kurz skizziert werden:
Die Aushandlungsrunde war unter den Prinzipien Konsens und Weiterentwicklung von Stärken begonnen worden. Gerade nicht Probleme, Schwierigkeiten und Konflikte sollten der Ansatzpunkt sein, sondern das Anknüpfen an bestehenden Stärken der Schule und die Entwicklung von Ideen, über die unter allen funktionalen Gruppen der Schulcommunity schnell Einigkeit zu erziehlen war. In einer ersten "Wunschlistenrunde" wurde daher die Idee der Eltern, ein Instrument zum regelmäßigen Schülerfeedback zu entwickeln, als nicht konsensfähig aussortiert, da die Lehrer sich bis auf zwei Ausnahmen dagegen aussprachen. Andere, konfliktfreie Instrumente – aber wohl gerade deswegen auch die mit geringem Entwicklungspotential – wurden stattdessen favorisiert, wie etwa die Einrichtung eines Kummerkastens.
Dabei wäre es vermutlich geblieben, hätte nicht der Erfinder der Methode der Aushandlungsgruppe, Marcus Hildebrandt, als externer Begleiter und kluger Supervisor des Aushandlungsprozesses ein Unbehagen darüber verspürt, daß der dringende Wunsch der Eltern durch die Ablehnung der Lehrerschaft übergangen worden war. Er unterstützte die Eltern, ihren Wunsch nach Schülerfeedback aufrechtzuerhalten und eine Lobbytätigkeit zur Umstimmung der Lehrer zu entfalten. Dies bedeutete, daß die Eltern die Motive für die Ablehnung der Lehrer eruieren und Vorschläge dazu machen mußten, wie Schülerfeedback stattfinden könnte, ohne daß die Lehrer Angst vor einem Ranking (gute Lehrer-schlechte Lehrer) haben müßten. In diesem längeren Prozeß konnten die Lehrer schließlich umgestimmt und zur Annahme des Schülerfeedbacks als wichtigstem Outcome der Aushandlungsrunden bewegt werden, nachdem ihnen zugesichert wurde, daß kein Lehrer gezwungen sei, Schülerfeedback zu seinem Unterricht einzuholen, daß die Ergebnisse eines Feedbacks nicht an die Schulöffentlichkeit oder in die Hand der Schulleitung gelangen würden und daß der einzelne Lehrer darüber alleine entscheiden dürfe, was mit den Feedback-Ergebnissen anschließend geschehen solle. Das Feedback-Instrument konnte in die Entwicklung gehen.
Inzwischen nehmen immer mehr Lehrer am Schülerfeedback teil, und die erleichterten Stimmen dieser Lehrer, daß Schülerfeedback entgegen ihren anfänglichen Ängsten für sie selbst zu einem wichtigen Instrument zur Verbesserung ihres Unterrichts und ihrer Kommunikation mit den Schülern geworden sei, häufen sich.

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Zu lernen ist aus diesem Vorgang folgendes: Das Schülerfeedback als wichtigstes und potentestes Ergebnis der Aushandlungsgruppe war nicht durch Vermeidung von Problemen, Widersprüchen und Konflikten zu erhalten, sondern ist gerade aus den Widersprüchen, ihrer Artikulation und Kommunikation und einem offensiven Umgang mit ihnen entstanden. Damit die Aushandlungsrunden nicht zu relativ nutzlosen "Friede-Freude-Eierkuchen"- Runden werden, die sich aus Vermeidung von Konflikten nur mit dem Unproblematischen der Schule beschäftigen (Wozu wären sie dann überhaupt nötig?), ist eine kluge Methodologie und eine kompetente Begleitung von außen nötig, die hilft, die auftauchenden Widersprüche zur Sprache zu bringen, die nötige Konfrontation produktiv zu begleiten und den Prozeß zur Erfindung eines intelligenten Instruments, das gerade an den Widersprüchen ansetzt, um sie auf einer entwickelteren Stufe zu bearbeiten, mit den Beteiligten durchzustehen.
In dem Konzept der Aushandlungsrunde wurde dessen Schwachstelle – daß in ihm nur die Seite des Konsenses und der Stärken betont werden – ausgeglichen durch die kluge Beaufsichtigung und Gegensteuerung des Konzepterfinders in der praktischen Anwendung. Damit ist das Gelingen eines Prozesses nach diesem Konzept jedoch an die Person gebunden.
In einem Gespräch mit dem Konzeptentwickler Marcus Hildebrandt stellte sich heraus, daß die Methode der Aushandlungsgruppen sich noch in der Phase der Praxiserprobung befindet und zu einer organisierten Reflexion – von einer theoretischen Ausarbeitung ganz zu schweigen – noch gar keine Zeit war und bisher auch keine Ressourcen dafür akquiriert werden konnten. Da aber schon mehrere gelungene Schulentwicklungsprozesse in der Praxis und unter der Anleitung von Hildebrandt damit durchgeführt wurden, wäre dieser vielversprechenden Methode eine Weiterentwicklung und theoretische Unterfütterung sehr zu wünschen.
Dafür bietet sich ein schon seit vielen Jahren in Finnland in der Praxis bewährter und auch in der Theorie schon weit entwickelter Ansatz an, der gerade die Widersprüche zum Ausgangspunkt des Lernens – und auch des Organisationslernen – gemacht hat: Yrjö Engeström, Professor an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Helsinki entwickelt nach dem von ihm gefundenen Konzept des Expansive Learning und der Methodologie der Developmental Work Research an einem eigenen Institut, dem Center For Activity Theory And Developmental Work Research seit 15 Jahren erfolgreich Betriebe, Schulen, Krankenhäuser, Teile des finnischen Postwesens, u.a. Organisationen und Institutionen mehr. Gleichzeitig werden die Entwicklungsprojekte von ihm und seinem Mitarbeiterstab – weiteren Professoren und jeweils ca. 50 Doktoranden – mit wissenschaftlicher Forschung begleitet, daran die Theorie und Methodologie selbst weiter entwickelt und deren Ergebnisse wieder in die praktischen Entwicklungsprojekte zurückgespeist. In Engeströms Ansatz werden die Widersprüche eines Tätigkeitssystems als Triebkraft von Veränderungen aufgespürt, modelliert und analysiert, sodaß im kollektiven Entwicklungsprozeß mithilfe der Berater/Forscher bewußt damit umgegangen werden kann.
Die überaus anschaulichen Forschungsberichte der einzelnen Projekte, die gleichzeitig zur Darstellung und Erläuterung der Theorie des Expansiven Lernens dienen, sind in zwei Bänden mit 36 Aufsätzen in englischer Sprache in Deutschland zu haben. Ein MUST für alle, die im Bereich der Schulentwicklung praktisch oder/und theoretisch arbeiten und auf die avanciertesten international renommierten Konzepte nicht verzichten wollen. In Vorbereitung befindet sich eine deutsche Übersetzung der beiden Aufsatz-Bände, dessen erster Band mit 18 Aufsätzen 2007 in der Schriftenreihe von ICHS erscheinen soll.

Mittwoch, 22. Februar 2006

UN - Schulinspektion

Obwohl die Kultusministerien sich bemüht hatten, dem UN-Sondergesandten für Bildung auf seiner Inspektionsreise durch Deutschland nur die potemkinschen Dörfer deutschen Schulen zu zeigen, die irgendwie besonders und alternativ sind, war es Vernor Munoz Villalobos nicht zu verheimlichen, daß hierzulande keine Chancengleichheit im Schulwesen herrscht. Im Interview mit der TAZ bescheinigt der UN-Schulinspektor aus Costa Rica: "Es geht nicht nur um Sprachförderung. Es handelt sich um eine soziale Diskriminierung. Die Aufstiegschancen der Bevölkerungsgruppen sind sehr unterschiedlich verteilt. Darum geht es, man muss jetzt entschieden dagegen vorgehen." Keinen Zweifel läßt er daran, daß er das gegliederte Schulsystem und die frühe Auslese nicht für geeignet hält, die Lernpotenziale aller Kinder auszuschöpfen. Auch die vielen Sonderschulen hält er nicht für sinnvoll. "Man muss sich jetzt entscheiden, was man will: Kindern aller Begabungen eine Chance geben - oder sie als Last empfinden. Und dann sollte Deutschland unbedingt die Vorbehalte zurückziehen, die es immer noch gegen die UN-Kinderrechtskonvention hat."

Hören Sie, Frau Schavan? Hören Sie, Frau von der Leyen, Frau Dinges-Dierig, Herr... Frau...? Jetzt wird's aber wirklich Zeit. Wer soll denn noch zu Ihnen sprechen, damit Sie's endlich ernst nehmen und ihre Truthiness aufgeben?

Im Küchenkabinett
gibt es einen schönen Beitrag dazu.

Mittwoch, 1. Februar 2006

Evaluation und Feedback

Evaluation ist das Lieblingswort der Schulentwickler geworden. Richtig: Man muß den Stand einer Sache kennen, wenn man sie weiterentwickeln will. Man muß herausfinden, was schief läuft, und warum, wenn man Hindernisse für eine positive Entwicklung aus dem Weg räumen möchte.
Nun ist es vom Testen dessen, was bei den Schülern nach erfolgtem Unterricht an Leistung "hinten rauskommt", noch ein weiter Weg bis zum Auffinden der Ursachen für die schlechten Leistungen der deutschen Schüler, und erst Recht bis zum Auffinden und Einsetzen der richtigen Lösungen zur Beseitigung dieser Ursachen.

Inzwischen ist man wenigstens soweit, daß auch dem Schüler das Wort zur Sache erteilt werden soll. Schülerfeedback hat bei uns allerdings keine Tradition. Und so kommt dieses für Schulqualitätsmessung unverzichtbare Instrument erst neuerdings ganz vorsichtig in der Praxis an - zunächst begrenzt auf direktes Feedback zum Unterricht und zum Lehrer. Einige schon etwas ausgebildetere Modelle zum Schülerfeedback, die nicht nur den einzelnen Unterricht, sondern darüberhinaus auch das Schulleben insgesamt betreffen, findet man z.B. hier oder im Otto-Nagel-Gymnasium
Diese Schule praktiziert außerdem die Aushandlungsrunde / Schüler-Eltern-Lehrer-Forum, ein Demokratie-Instrument, das auch als Bestandteil des Schulprogramms festgeschrieben ist. Das SELF ist ein gemeinsames Forum für Schüler, Lehrer und Eltern, das "Probleme erfasst und durchdenkt, nach Lösungsansätzen sucht und diese in den entsprechenden Gremien einbringt. Ergebnis dieser Arbeit sind der digitalisierte Fragebogen für Lehrer und Schüler zur Unterrichtsevaluation, Weiterbildungsveranstaltungen für die Schülersprecher, die Umstrukturierung der Schülervertretung, die Veränderung der Pausenzeiten, die Einrichtung eines Kümmerkastens für die Eltern und das Projekt "Schüler unterrichten Schüler"".

Die Feedbacksoftware, die von Schülern der Otto-Nagel-Schule entwickelt wurde, kann unter der Telefonnummer Tel: 030/5143864 nachgefragt werden.

Wie halten es eigentlich die Finnen, die Sieger der PISA-Evaluation mit Evaluation und Feedback?

"Das finnische Schulsystem ist durchdemokratisiert" nannte Pekka Arinen, Projektmanager des Evalutionszentrums für Bildung der Universität Helsinki
in seinem Vortrag (ppt, 146 KB) im Finnlandinstitut in Berlin am 25.11.2005
als den ersten Grund für den Erfolg der finnischen Schüler. Dazu gehört, daß sich jede Schule jedes Jahr neu selbst evaluiert. (Dafür wurde die Schulinsprektion – die bei uns nun gerade erst Recht eingerichtet wird – als überflüssig, ja kontraproduktiv erachtet und abgeschafft.) Die Schule – das ist die Schulcommunity, - führt also die Evaluation unter und mit Schülern, Lehrern und Eltern anhand hoch ausdifferenzierter Fragebögen durch, die nicht nur die Qualität des Unterrichts, sondern die des gesamten Schullebens betreffen. Dass es sich dabei nicht um unhistorische, punktuelle Feedbacks ohne Nachhaltigkeit handelt, kann man z.B. an folgender Frage aus dem Schülerbogen erkennen: "Hat sich der Lehrer aufgrund der Kritik aus dem letzten Feedback verbessert?"
Für eine maximale Wirkung auf nationaler Ebene werden sie im Evaluationsrat wissenschaftlich ausgewertet, deren Mitglieder neben renommierten Erziehungswissenschaftlern aus allen am Erziehungsprozess direkt oder indirekt beteiligten Gruppen bestehen.

Das Geheimnis für den Erfolg des finnischen Schulwesens:
Ein radikaler Systemwechsel (ppt, 208 KB) zu Beginn der 90er Jahre von dem bis dahin auch in Finnland geltenden traditionellen, dreigliedrigen aus Preußen stammenden Schulsystem der zentralisierten externen Entscheidungen und Kontrollen zu dem selbst bestimmten, sich selbst steuernden und sich selbst evaluierenden System, das es heute ist. Dieser radikale Systemwandel ist ein mindestens zehnjähriger Prozess gewesen und bis heute nicht abgeschlossen. Aber er hat nur stattgefunden, weil er seinerzeit als radikaler Wandel beschlossen wurde. Radikal, das gesamte nationale Bildungssystem umfassend, geplant und in allen seinen vielleicht auch schwierigen Konsequenzen gewollt und durchgeführt.

Beim Mittagessen traf ich einen Kollegen, der sich mit dem hiesigen Geschäft der Schulentwicklung gut auskennt. Ich fragte ihn, warum denn die deutschen Entwickler, wenn sie denn überhaupt aus ihrem Land und nicht bloß aus ihrem Bundesland herausschauen wollen, immer so gerne in die Schweiz und nach Österreich als Vorbilder gucken. Liegt das daran, daß sie des Englischen nicht mächtig sind?
Nein, sagt er, das liegt daran, daß die beste Lösung, nämlich die aus Skandinavien, einen so fundamentalen Wandel erfordert, davor fürchtet man sich, denn es könnte Konsequenzen haben und weh tun. Drum nimmt man lieber die nächstbesten Lösungen, wo man nicht so viel verändern muß und das meiste beim Alten bleiben kann.

Tja, dann werden wohl auch die Schülerleistungen beim Alten bleiben.

Montag, 14. November 2005

Hamburger Bildungsexperten in Finnland

Eine Reisegruppe hochkarätiger Bildungsexperten aus Hamburg besuchte im April diesen Jahres Jyväskylä, eine Stadt in Zentralfinnland, um das finnische Schulsystem und besonders die finnische Lehrerbildung kennenzulernen. Zu der sechsköpfigen Gruppe gehörten Professoren der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Hamburger Universität ( Prof. Dr. Karl Dieter Schuck, Prof. Dr. Eva Arnold, Prof. Dr. Reiner Lehberger), der Finnougrist Prof. Dr. Holger Fischer sowie der Direktor des Instituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg, Peter Daschner und der Leiter der Reform der Lehrerbildung am LI, Oberschulrat Aart Pabst.
Der bisher unveröffentlichte Reisebericht (pdf, 939 KB) ist sehr informativ und spannend zu lesen, zeigt er doch die Unterschiede in der Bildungsstruktur sowie in Inhalt und Organisation der Lehrerausbildung zum hiesigen System, die entscheidend für den Erfolg des finnischen Bildungswesens sind. Prof. Schucks Fazit im Anhang des Reiseberichts:
"Im Ganzen folgt das finnische System meinem Eindruck nach viel mehr den individuellen Bedürfnissen nach sozialer Anerkennung, umfassender Unterstützung und gesellschaftlicher Teilhabe. In einem solchen System Schüler und Lehrer sein zu dürfen, halte ich schon für attraktiv, vor allem dann, wenn das Schulleben in der realen Schule tatsächlich alltäglich so gestaltet wird, wie es in einer Folie der Schulverwaltung von Jyväskylä heißt: 'Today we are growing together into the future'".
Das muß man sich als deutscher Lehrer oder Schüler mal auf der Zunge zergehen lassen: Es ist attraktiv, Lehrer zu sein - es ist attraktiv, Schüler zu sein. Traumhaft!
Bild: Ivan Montero / fotolia

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