Schulentwicklung

Montag, 31. Oktober 2005

Bericht von der Fachtagung

„Demokratieerziehung in Hamburg“ vom 25.-29.10.05 am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg

In seinem öffentlichen Gespräch mit Reinhard Kahl am Abend des 25. Oktober machte Prof. Wolfgang Edelstein zum Auftakt der Tagung deutlich, daß Demokratie nicht bloß eine Sache der Institutionen und Gremien ist, sondern eine Lebensform, die nur gelernt werden könne, indem sie stattfindet.
Seine Aufforderung, Verbündete zu suchen für die Entwicklung der Hamburger Schule zu einer demokratischen Schule für Alle, stellte sich als Hintergrund-Motto der gesamten Tagung heraus.
Tatsächlich boten die intensiven Arbeitstage im Landesinstitut mit drei Referaten und daran anschließenden Diskussionsforen, einem Vortrag, mit über 30 Workshops und ebensovielen Infoständen sowie einer abschließenden Talkrunde zum ersten Mal überhaupt die ausgezeichnete Gelegenheit, Kommunikations- und Kooperationspartner – Verbündete also – in allen Gruppen innerhalb der Institution Schule sowie in der außerschulischen Jugendpädagogik an einem zentralen Ort kennen zu lernen, dabei Kontakte zu knüpfen, sich über die Grenzen des eigenen Praxisraums hinweg auszutauschen und Verabredungen für eine Zusammenarbeit zu treffen. Diese Chance war der Hauptgewinn der Tagung, und sie wurde reichlich genutzt. Ein weiterer wichtiger Erfolg der Tagung ergab sich aus der Bereitstellung einer offenen Atmosphäre, in der öffentlich kontrovers diskutiert und produktiv gestritten werden konnte. Dabei wurden die Kernprobleme und –fragen deutlich, die gelöst werden müssen auf dem Weg zu einer demokratischen Lernkultur und einer Schule für Alle.

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Schüler einer 10. Realschulklasse präsentieren das „Textil-Projekt“, eines der Projekte "Sozial macht Schule", initiiert und begleitet durch Rainer Micha vom Arbeiter Samariter Bund.


Die Workshops und Infostände spiegelten die Vielfalt dessen wider, was in Hamburg an Projekten in Schulen, Stadtteilinitiativen und Verbänden mit Kindern und Jugendlichen im Bereich demokratischen Engagements existiert. Dabei haben sich auch beeindruckende Kooperationsprojekte entwickelt, wie beispielsweise das Projekt „Dialog der Urenkelinnen und Urenkel“, ein Projekt der Initiative „Sozial macht Schule“ des Arbeiter Samariter Bunds. Eine Klasse der Schule „Charlottenburger Straße“ hatte in Hamburger Archiven über tschechische Zwangsarbeiter geforscht, mit den Überlebenden in Tschechien Kontakt aufgenommen und einen Dialog begonnen, der auch zu gegenseitigen Besuchen geführt hatte. Seit 2002 wird das Projekt außerdem von Prof. G. Mitchell und Studierenden der Hamburger Universität wissenschaftlich begleitet und ist in einem Film dokumentiert worden. Dies ist nur eines der Beispiele, daß Schule, Jugendhilfe und Universität erfolgreich kooperieren können.

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Infostand des Projekts „Kinderrechte und Stadtteilradio“ in der Initiative "Nachbarschaft und Schule Eimsbüttel (NaSchEi)“ mit Ragna Riensberg und Yvonne Vockerodt


An manch anderen Projekten – die darum jedoch nicht weniger gelungen und beeindruckend sind – wird aber auch deutlich, wie mühsam und schwierig es ist, eingefahrene, sich sperrende Strukturen aufzubrechen, um Kooperation zu ermöglichen und die nötige Unterstützung zu gewinnen. Ragna Riensberg und Yvonne Vockeroth, die mit Workshop und Infostand ihr überaus erfolgreiches Projekt Kinderrechte – Stadtteilradio präsentierten, wünschen sich beispielweise eine bessere Zusammenarbeit mit der Lehreraus- und Fortbildung, damit die Initiative an mehr Schulen bekannt und genutzt werden könnte. Auch die nötige finanzielle Förderung ergibt sich nicht von selbst. Weiterentwickelt zu einem Service-Learning-Projekt könnten hier auch ältere Schüler mit den Kindern im Stadtteilradio arbeiten. Das „Radio von Kindern für Kinder“ ist ein Projekt von und für Vorschul- und Grundschulkinder. In bisher über 80 Sendungen haben Kinder über ihre Themen gesprochen und Hörszenen gespielt. Kinderrechte, Gewalt, Gesundheit, Spielmöglichkeiten, Zukunft, Ernstgenommenwerden von den Erwachsenen - das sind die Themen, die in der „Kinderanhörung“ zur Sprache kommen. (Freies Senderkombinat 93,0 khz, jeden 3. und 4. Donnerstag im Monat.) Beeindruckend ist, wie professionell die Kinder dabei nicht nur mit dem Medium Radio umgehen, sondern auch, wie souverän sie Politik machen, indem sie ihre Meinungen artikulieren, begründen und argumentieren. „Kinder sind Experten für ihre Bedürfnisse“, sagt Ragna Riensberg, und die überzeugenden Radiospots der Kinder geben ihr Recht. Diese Einsicht muß in der Schule erst noch ankommen!

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Im Workshop für Schulleitungsmitglieder von Claudia Wetterhahn und Dr. Gabriele Kandzora stellten sich 40 Teilnehmer dem Paradoxon "Schule demokratisch leiten". Es war der Workshop mit der höchsten Teilnehmerzahl. Trifft sich hier besonderer Problemdruck mit hoher Veränderungsbereitschaft?


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Nachgespräche am Ende eines Forums

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Demokratische Streitkultur

In ihrem spannenden Vortrag machte Prof. Anne Sliwka die großen Chancen des Service-Learning nicht nur für den Erwerb sozialer Kompetenzen, sondern auch für Wissenserwerb überhaupt deutlich: Service-Learning setzt an echten Bedürfnissen der sozialen Umwelt – inner- oder außerhalb der Schule – an. Die Schüler arbeiten und lernen zugleich und sind durch die Identifikation mit ihrer – meist selbstgewählten – Aufgabe, hochmotiviert. Sie erleben, daß sie wirklich gebraucht werden. Unterricht ist hier keine simulierte Welt, in der nur für später trainiert wird, und die Schüler werden zu Experten dessen, was sie tun. Daß sie dabei auch noch lernen, im Team und eigenverantwortlich zu lernen, versteht sich dabei schon fast von selbst. Anne Sliwka erläuterte das Prinzip an einer Fülle von Beispielen. Eines sei hier stellvertretend genannt, weil es besonders deutlich macht, daß es sich bei Service-Learning nicht um caritative Projekte herkömmlicher Art handelt: „Philadelphia Math Trail“ ist ein Service-Lerning-Projekt von Schülern einer 10. für Schüler der 9. Klasse. In einer Stadtrallye müssen anhand städtischer Objekte mathematische Aufgaben gelöst werden, wie z.B. die Berechnung der Höhe einer Riesenskulptur. Ob die Schüler dabei das Service-Learning-Projekt erst selbst (er)finden oder in schon bestehende Projekte nachwachsen, oder ob Service-Learning generell freiwillig sein müßte oder gerade als Unterrichtsprinzip in der Schule verpflichtend gemacht werden sollte – das scheint eine müßige Diskussion zu sein, denn – wie in der Diskussion zum Vortrag deutlich wurde - , wichtig ist, daß die Schüler eine Aufgabe finden, die sie als ihre eigene Aufgabe begreifen können, mit der sie einen persönlichen Sinn verbinden können. Diese Art des Lernens funktioniert deshalb mit hohen Ergebnissen, weil sich der persönliche Sinn des einzelnen Schülers mit der gesellschaftlichen Bedeutung einer Arbeit/Lernaufgabe deckt. In anderen Ländern – z.B. in Kanada – ist diese Form des Lernens darum seit vielen Jahren etabliert und die Ergebnisse sind wissenschaftlich evaluiert. Etliche Schulen arbeiten ausschließlich auf der Basis des Service-Learnings. Daß die Schüler dabei vieles, was sie für die erfolgreiche Durchführung ihrer Projekte brauchen, auch in Trainings, im Lesen von Papieren oder Internetseiten lernen oder sich auch mal einen Vortrag anhören müssen, kann man sich vorstellen. „Alte“ Lernmethoden haben dadurch also keineswegs ausgedient, denn: Form follows function!

Die Frage ist also längst nicht mehr die, ob Service-Learning als Unterrichts-Prinzip in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen muß, um die Probleme der Hamburger Schule zu lösen und die Lernergebnisse aller Hamburger Schüler deutlich zu verbessern. Das Problem besteht vielmehr darin, wie man diese Form einer neuen Lernkultur in die Hamburger Schule implementieren kann. Die Schwierigkeit, all diese vorgestellten Projekte in der Schule zu etablieren, ist immer dieselbe: Sie rein additiv zum bestehenden Unterrichtsprogramm zu ergänzen, ist selbst dann, wenn es Sinn machen würde, schwierig. Besonders deutlich wurde dies im Diskussionsforum „Ehrenamtliche Tätigkeit – eine Bildungsressource“. Die Vertreter der Verbände klagten darüber, daß mit der flächendeckenden Einführung der Ganztagsschule einerseits Probleme auftauchen, die ehrenamtliche Tätigkeit außerhalb der Schule unterzubringen. Hier wünscht man sich eine bessere Kooperation zwischen den Institutionen.
Andererseits sind Jugendliche aber zu einem erstaunlich hohen Prozentsatz bereit, etwas Sinnvolles für ihre soziale Umgebung zu tun. Hier zeigt sich auch, daß sie durchaus nicht Demokratie- oder Politik-müde sind. Deutlich wurde auch, daß Jugendliche sich zunehmend lieber in kurz- oder mittelfristigen besonderen Projekten engagieren wollen anstatt ein Ehrenamt im traditionellen Sinne als Lebensaufgabe in der Freizeit anzunehmen. (Dies spricht ebenso sehr für die Form des Service-Learning.) Die Frage lautete also, wie können unter den bestehenden Strukturen der Institution Schule Handlungs-Spielräume genutzt und erweitert und die Strukturen so umgebaut werden, daß die Erfordernisse der Gesellschaft – z.B. soziale Bedürfnisse im Stadtteil – mit den Lernbedürfnissen und –erfordernissen der Schüler in Einklang gebracht werden? Darüber, wie diese Aufgabe mit dem Ziel der Demokratieerziehung in Einklang zu bringen sei, wurde zum Teil kontrovers und heftig debattiert.

In der abschließenden Talkrunde stellte sich dieses Problem dank der provozierenden Auftaktfrage des Moderators Herbert Schalthoff besonders zugespitzt: „Wie können Sie sich im Landesinstitut eine Tagung zum Demokratielernen leisten, wo wir doch seit der Veröffentlichung der schlechten PISA-Ergebnisse weiß Gott ganz andere Bildungsprobleme haben?“, fragte Schalthoff und löste damit eine höchst lebendige und fruchtbare Diskussion unter den Teilnehmern im Podium sowie mit dem Auditorium aus.
In den vielfältigen Beiträgen von Lehrern, Fortbildnern, Eltern- und Schülervertretern, sowie der Vertreter von Stadtteil-Initiativen, wie z.B. Rüdiger Winter vom „Billenetz“ für lebenslanges Lernen, wurde klar, daß Schule vor der Aufgabe eines grundlegenden Wandlungsprozesses steht. „Schüler haben traditionell in Deutschland eine große Distanz zur Schule“, befand Dr. Gabriele Kandzora, Didaktische Leiterin der Erich-Kästner-Gesamtschule. „Wenn es uns nicht gelingt, eine Schule zu schaffen, die die Schüler viel mehr beteiligt an allem, was mit ihnen in der Schule geschieht, dann wird es auch keine Verbesserung der Lernergebnisse geben“, urteilte sie und machte damit deutlich, daß ohne demokratische Partizipation innerhalb der Schule (Schul-„Innenpolitik“) Schüler weder zu demokratisch handelnden noch zu wissens- und leistungsstarken Persönlichkeiten heranwachsen können. Das eine sei ohne das andere nicht zu haben. Kurt Edler vom Landesinstitut stellte dagegen fest, daß Schüler die bestehenden Strukturen zur Mitbestimmung gegenwärtig nicht ausnutzen und wenig Interesse an der Arbeit in den Mitbestimmungsgremien haben. Die Vertreterin der SchülerInnenkammer, Sappho Beck, fand die Ursache dafür darin, daß die bestehende Schulkultur offenbar nicht in der Lage sei, Demokratie als Wert zu vermitteln. Gabriele Kandzora stellte klar, daß dies bei der bestehenden Reduktion von Demokratie auf die bloße Beteiligung an den institutionalisierten Mitbestimmungsgremien auch kein Wunder sei. Schüler müßten stattdessen von Anfang an und in allen Belangen - auch in denen des Unterrichtsgeschehens - ein weitgehendes Mitspracherecht erhalten. Ebenso wie der Vertreter der Elternkammer forderte sie eine Zusammenarbeit aller funktionalen Gruppen der Schule "auf Augenhöhe". Ein Schüler aus dem Publikum erklärte die Resignation von Schülern als eine Reaktion auf die Schulwirklichkeit und sah darin eine besondere Form der „Rebellion“. Während Kurt Edler noch weithin unausgeschöpfte Möglichkeiten innerhalb der bestehenden Strukturen sah, wie z.B. die Möglichkeit, zusätzlich zu den bestehenden Mitbestimmungsorganen weitere Gesprächs- und Entscheidungsgremien in der jeweiligen Schule zu schaffen und mit alten Gewohnheiten und Traditionen zu brechen, beurteilten andere in ihren Beiträgen die Chancen einer grundlegenden Veränderung unter den bestehenden Rahmenbedingungen eher skeptisch: Wo sollten die Zeiten und Räume für die Entwicklung gemeinsamer Aktivitäten bei Schülern und Lehrern herkommen, die nötig sind, um ein demokratisches Innenleben der Schule (Sappho Beck) sowie eine Öffnung der Schule zu einem „Kommunikations-Zentrum des Stadtteils“ (Rüdiger Winter) zu schaffen, wenn die Ganztagsschule nur eine Verlängerung des Unterrichtsvormittags in den Nachmittag hinein bedeutete und Lehrer mit voller Stelle inzwischen bis zu 30 Unterrichtsstunden pro Woche erteilen müssen?

Eine weitere Kontroverse entwickelte sich an Herbert Schalthoffs Forderung nach einem öffentlichen Schul-Ranking. Während einerseits die Auffassung vertreten wurde, eine solche Veröffentlichung von Schulevaluationsergebnissen sei ein Gebot der Demokratie (Kurt Edler), wurde andererseits von einigen Diskussionsteilnehmern daraufhingewiesen, daß die Entwicklung in den angelsächsischen Ländern gezeigt habe, daß eine demokratische Schule für Alle entweder auf dieses „Wettbewerbs-Instrument“ oder auf das Recht der freien Schulwahl verzichten müsse, wenn sie eine weitere Verschärfung der Exklusion benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen vermeiden wolle. Claudia Wetterhahn fragte darüberhinaus nach Kriterien eines Rankings, die nicht bloß die kongnitiven, sondern auch die sozialen und politischen Lernleistungen der Schüler bewerten könnten. Rüdiger Winter forderte von einem demokratischen „Schul-TÜV", daß auch das Feedback von Schülern, Eltern und außerschulischen Kooperationspartnern abzufragen sei.

Insgesamt lieferte die Tagung vielfältige Impulse für die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer demokratischen Schule für Alle.

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Jazzmusik des Sinti Weiss Ensembles


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und das hervorragende Büffet der Schüler-Cateringfirma der Förderschule Pröbenweg

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boten die passende Atmosphäre für Erfahrungsaustausch und Diskussion im „World Café“.

Mittwoch, 26. Oktober 2005

Demokratische Schule

Prof. Wolfgang Edelstein (rechts) im Gespräch mit Reinhard Kahl am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg: "Für eine Schule der Inklusion aller müssen Sie sich Verbündete suchen - alleine kämpfen ist absolut tödlich."

prof. wolfgang edelstein

Freitag, 21. Oktober 2005

Keine Gnade für anachronistische Bildungspolitik

Mal wieder ist der Bildungsnotstand Aufmacher in der ZEIT, und das ist gut so. Was erzählen uns die meisten Medien denn immer, die Bildung sei ein "weiches" Politikthema, und daß die CDU das Bildungsressort in der Koalition hätte, sei politisch nicht viel wert? - So ein Quatsch! Die sture Fortsetzung des deutschen selektiven Schulsystems - wider alles empirische nationale und internationale Wissen - ist ja wohl das Härteste überhaupt!
Und was erfahren wir heute von Martin Spiewak und Jörg Lau? Eltern und Lehrer bekämpfen sich aufs Schärfste. Lau fordert "Gnade für die Pauker" und Vertrauen der Eltern. Na klar, das ist ja richtig. Richtig ist auch - damit sind wir in Spiewaks Artikel -, daß die Lehrer auf vieles, was die Schülerrealität bietet, nicht angemessen antworten können, z.B. stellt er fest: "Noch immer geht die Schule von Schülern aus, die zu Hause sowohl lernen, Deutsch zu sprechen als auch stillzusitzen. Das jedoch ist häufig nicht mehr der Fall. Auf diese soziale Veränderung sind Lehrer häufig nicht eingestellt."
Mein lieber Herr Spiewak: Mit diesem Satz können Sie den neuen "deutschen Klassenkampf" , wie Sie das nennen, wunderbar anheizen! Denn es klingt danach, als wäre es bloß eine Frage der persönlichen Einstellung, der individuellen Kompetenz des einzelnen Lehrers, dieses Problem - und es ist ja eines der größten - in Ordnung zu bringen. Und genau das ist die Vorstellung, die Eltern dazu bringt, von "ihrem" Lehrer ganz persönlich die Lösung aller Widersprüche des anachronistischen Bildungssystems zu erwarten, ja aggressiv zu fordern. "Der Lehrer wird zum Angeklagten" - richtig und bedauerlich, Herr Lau. Aber er braucht keine Gnade, und schon gar nicht, wenn er ein "Pauker" ist. Die Lehrer brauchen Hilfe, und zwar von den Eltern. Ich meine hier nicht die Hausaufgabenhilfe (sehr gut übrigens das Interview dazu mit Ulrich Trautwein: "Die beste Hilfe ist gar keine Hilfe" in derselben Ausgabe!). Ich meine, daß es hier nötig gewesen wäre, dazu aufzurufen, daß Eltern, Lehrer und Schüler zusammenarbeiten müssen, um ihre Schule zu erneuern. Es kann doch nicht wahr sein, daß man sich hier seitenweise am Eltern-gegen-Lehrer-Kampf delektiert und so tut, als habe das alles gar nichts mit Politik zu tun! Die meisten Lehrer wären gerne gute Lehrer - was denn sonst? - wenn sie es denn dürften! Viele Lehrer, die tatsächlich für die Kinder gut sind, sind es nämlich nicht im Sinne der Strukturen und Vorschriften, denn diese müssen sie, um für die Kinder gut zu sein, ständig unterlaufen, umgehen, beugen. Es ist natürlich nicht jedermanns Sache, die damit einhergenden Konflikte auszuhalten. Schon gar nicht die mit dem Arbeitgeber. Verständlich. Und so haben die Lehrer keine Chance: Sie können allenfalls entscheiden, mit wem sie den Konflikt haben wollen: Mit den Schülern, mit den Kollegen und Vorgesetzten oder mit sich selbst. Und das bleibt solange so, bis Eltern, Lehrer und Schüler die Abschaffung des selektiven Schulwesens gemeinsam erzwungen haben und zusammen ihre Schule umgestaltet haben zu einer zeitgemäßen Schule. Also, Kollegen von der ZEIT: Das war wohl nix. Nochmal machen, oder andere ran lassen!

Donnerstag, 20. Oktober 2005

Buchempfehlung

Rudolf Leiprecht, Anne Kerber (Hrsg.), Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Ein Handbuch, Wochenschau Verlag 2005, 480 Seiten, 34,80 Euro

Wie: 480 Seiten lesen? Welcher Lehrer hat denn dafür Zeit, wo ihm doch das tägliche Unterrichts- und Korrekturgeschäft bis zum Halse steht?
Warum es trotzdem sinnvoll ist, sich für dieses Buch Zeit zu nehmen, erhellt das Editorial der Herausgeber, das die Bundesrepublik Deutschland als eine „pluriforme Einwanderungsgesellschaft“ charakterisiert, der gegenüber das deutsche Bildungssystem in so „erhebliche(r) Schieflage“ steht (9), dass jeder Lehrer Probleme damit haben muß, diese in seiner Praxis auszugleichen. Genau dazu bietet dieses Buch wertvolle Hinweise. Buchempfehlung1 (pdf, 82 KB)

Sonntag, 3. Juli 2005

Schulinspektoren

"Wenn der Inspektor zweimal kringelt", betitelt Martin Spiewak in der ZEIT Nr. 27 sein "Protokoll einer Begutachtung". (In der Online-Ausgabe heißt es "klingelt", weil der "Setzer" den Text nicht gelesen oder nicht verstanden hat.) Die Inspektoren haben eine Schule besichtigt, indem sie viel schlechten und guten Unterricht gesehen und beurteilt, Eltern und Schüler befragt und die Schule insgesamt bewertet haben. Gesamturteil über die begutachtete Schule: "Sie sind eine gute Schule!" Aber "Inspektor Wilken graut etwas davor, wenn er statt 'zum Vorbild geeignet' 'schwere Mängel' in (einen) Abschlußbericht schreiben muß. In den benachbarten Niederlanden stehen für solche Fälle Tausende Mitarbeiter - Pädagogen, Psychologen, Trainer - bereit, um schwachen Schulen auf die Beine zu helfen (...) Jeder Direktor verfügt dort über ein üppiges Fortbildungsbudget, das er eigenständig ausgeben darf. Diese Architektur der Unterstützung fehlt in Deutschland." So Martin Spiewaks Beobachtung. Mein Kommentar zur Beobachtung der Beobachtung: Die Lehrer wurden von den beobachteten deutschen Inspektoren auch - aber zuletzt - gefragt: "Wenn Sie sich etwas wünschen dürften: Was wäre das?". "Zeit", antworteten die Lehrer. Mir scheint das das wichtigste Inspektions-Ergebnis zu sein. Aber aller Erfahrung nach wird gerade dieses Ergebnis am wenigsten beachtet werden von denen, die über die Konsequenzen der Inspektion zu befinden haben. Und so wird möglicherweise das mit großem Aufwand an Zeit- und Geldressourcen betriebene Schulentwicklungstool "Schulinspektion" in Deutschland etwas zutage fördern, was die, die Schule machen, sowieso schon wissen, aber es wird nicht zu der notwendigen Konsequenz führen, die wäre: die Lehrer von dem unerträglichen Druck zu befreien, eine vierundzwanzig Stunden am Tag funktionierende eierlegende Wollmilchsau sein zu müssen. Mein eigener Einsatz zuletzt: 29 Stunden Fachunterricht pro Woche mit insgesamt 400 Schülern, dazu die Vorbereitung, Abitur, Konferenzen, Klausurkorrekturen, Elterngespräche, Schülergespräche Fortbildungsverpflichtungen ... "Die Lehrer kommen doch allenfalls noch dazu, ab und an das Hamburger Abendblatt zu lesen, und danach sind sie völlig fertig", sagte kürzlich der Direktor eines Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung , und er hat völlig Recht mit seiner Beobachtung. Anders als hierzulande mit den Inspektoren scheint es in Finnland bei der Schulentwicklung zuzugehen, wenn die Mitarbeiter des Instituts "Activity Theory and Developmental Work Research" von Yrjö Engeström, Universität Helsiniki, in eine Schule kommen und zum Auftakt der gemeinsamen Entwicklungsarbeit erst einmal mit den Lehrern zusammensitzen und fragen: "Was ist euer Problem?" Einen spannenden Bericht darüber gibt es in dem Aufsatz von Yrjö Engeström, Can a School Community Learn to Master its own Future? An Activity-Thoretical Study of Expansive Learning among Middle School Teachers, in: ders., Developmental Work Research. Expanding Activity Theory In Practice, hrsg.v. Georg Rückriem, Berlin 2005

Sonntag, 19. Juni 2005

"Schulautonomie"

Wenn Luhmann Recht hat - und er hat ja, leider - mit seiner Beschreibung, daß Pädagogik - nicht Sozialisation - so funktioniert, daß sie, statistisch gesehen, zur Hälfte gelingt, zur Hälfte scheitert, - wenn man das Wirken der Kontingenz mal so darstellen darf -, dann

- - ist die pädagogische Arbeit für den Lehrer nur zu ertragen, wenn er das Scheitern als zum Funktionieren gehörig, also auch als zum Gelingen beitragend interpretieren kann (denn wer arbeitet sich sonst freiwillig krumm unter der Prämisse, daß die Hälfte seiner Bemühungen Ausschuß produziert?),

- - bedeutet das gegenwärtige Optimierungskonzept der Schulaufsicht, genannt "Outputsteuerung", "Standardsicherung" und "Ziel-Leistungs-Vereinbarung", den Versuch, mit administrativem Befehl das notwendig zum Funktionieren des Systems gehörige "Scheitern" zu eliminieren, also ein Verbot, die Scheiternsfälle als normale Produkte insgesamt gelungener Arbeit zu verbuchen. Die Schulaufsicht lastet also in einem Ausmaß wie nie zuvor, die unerwünschten Konsequenzen des Systemdefizits den einzelnen Schulen, dem einzelnen Lehrer an. (Früher wurden sie den Schülern selbst zugeschrieben.) Das ist, was sie meint mit "selbstverantworteter Schule" - ihrem Begriff für Schulautonomie. Damit die Autopoiesis des Erziehungs-Systems durch diese systemblinde Vorgabe nicht zum Erliegen kommt, oder anders gesagt, sich nicht alle Lehrer aus Verzweiflung über ihr Scheitern aus den Fenstern der Schulen in den Tod stürzen, wird die Administration die Standards so setzen müssen, daß sie in der Regel - also auch in den Scheiternsfällen - erreichbar sind. Ob dadurch die Generation der Jungen lernt, was sie lernen muß, um ihre Gegenwart und Zukunft zu gestalten, ist eine ganz andere Frage. Aber immerhin ermöglicht die Systemadministration dann in ihrem kostenverschlingenden Aufwand des Planens und Neuformulierens der Systemcodes wenigstens, was sowieso und auch ohne diesen Aufwand stattfindet: die Praxis des Schulemachens in Form von Unterricht als einem Lavieren von einem Kommunikationsereignis zum nächsten. Rausgeschmissenes Geld also? Vielleicht wird schließlich an diesen Kosten der Administration das Erziehungssystem in seiner gegenwärtigen strukturellen Verfassung zugrunde gehen, weil es nicht mehr zu finanzieren ist.
Bild: Ivan Montero / fotolia

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