Das Dilemma der deutschen Lehrer

Marianne Demmer hat in einen bemerkenswerten Aufsatz die Widersprüche des deutschen Schulsystems beschrieben, die die Verwirklichung des Rechts auf Bildung verhindern und Lehrerinnen und Lehrer vor ein für sie individuell unlösbares Dilemma stellen, unter dem vor allem engagierte Lehrer und Lehrerinnen leiden. "Verwirklichung des Rechts auf Bildung: Die schwierige Rolle der Pädagogen und Pädagoginnen", in: Overwien, Bernd und Hannelore Prengel (Hgg.): Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland, Opladen und Farmington Hills 2007, S. 157-179
In ihrer Analyse wird ausführlich erläutert, was der UN-Sonderberichterstatter Munoz in seinem Bericht zusammenfassend so erklärt: "Wir haben wahrgenommen, dass die Erwartungen an die Lehrkräfte in vielen Fällen ihre realen Gestaltungsmöglichkeiten übersteigen."

Demmer führt dazu aus:

"Diese Feststellung des UN-Sonderberichterstatters Munoz bezeichnet das Dilemma eines Bildungssystems, das auf einer widersprüchlichen Bildungsphilosophie beruht und frühe Selektion und individuelle Förderung zu verbinden trachtet."
"Lehrerinnen und Lehrer müssen ihren Beruf in einem Schulsystem ausüben, das es ihnen nahezu unmöglich macht, sich ausschließlich und bedingungslos am Wohl des Kindes zu orientieren. Sie sind vielmehr ständig gezwungen, ihr pädagogisches Handeln mit den Anforderungen eines Systems in Übereinstimmung zu bringen, das nicht auf Inklusion sondern auf 'Aufteilung als Bildungsstrategie' ausgerichtet ist. Wo Homogenisierung durch Klassenwiederholung und Aufteilung in verschiedene Schulformen bereits als 'begabungsgerechtes Förder-Instrumentarium' deklariert wird, fehlen dementsprechend Unterstützungssysteme für die individuelle Förderung ohne Aussonderung."


Die Bildungspolitik setzt statt Analyse des Gesamtsystems und Identifizierung der komplexen Problemlage auf monokausale Erklärung des Problems: Die Lehrer sollen individuell kompensierend in Ordnung bringen, was systembedingt nicht gelingen kann:

"Die verantwortlichen Politiker nehmen mehrheitlich nicht zur Kenntnis, dass das deutsche Bildungssystem der umfassenden Verwirklichung des Rechts auf Bildung aus strukturellen Gründen entgegensteht. Sie versuchen den Eindruck zu erwecken, in Deutschland werde das Recht auf Bildung durch ein 'begabungsgerechtes Schulsystem' umfassend gewährt. Sie sind mehrheitlich zu einer ehrlichen Analyse der Gründe und Ursachen für Ungerechtigkeit, Benachteiligung und Diskriminierung im und durch das Bildungssystem nicht bereit. Sie versuchen vielmehr, das traditionelle Bildungswesen trotz sich mehrender gegenläufiger empirischer Befunde als reformierbar und in Übereinstimmung mit dem Recht auf Bildung im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention darzustellen. folgerichtig werden Mängel, die das System erzeugt, dem pädagogischen Personal angelastet. Entsprechend wird dann auch von den Pädagoginnen und Pädagogen die Beseitigung der Mängel verlangt und erwartet."

Konsequenterweise fordert Marianne Demmer, endlich in Deutschland die Geisterfahrt des selektierenden Schulwesens aufzugeben und - wie es in (fast) allen Ländern schon längst geschehen ist – auf ein mindestens neunjähriges gemeinsames Lernen für Alle umzustellen, ob die Institution, in der dies geschieht, nun Einheitsschule, Gemeinschaftsschule, Stadtteilschule, Eine Schule für Alle, oder einfach Schule geheißen wird.

Der ganze Aufsatz: Demmer-2007_kinderrecht-auf-Bildung_Munoz_Bericht (pdf, 798 KB)

Ich höre schon die altbekannten Einwände:
1. Die äußere Schulstruktur zu ändern, verbessert die Lernergebnisse nicht. 2. Es gäbe auch erfolgreiche Bildungssysteme mit selektierender Struktur.
Der zweite Einwand ist schnell beantwortet: Alle hoch erfolgreichen Schulsysteme sind Gemeinschaftsschulsysteme. (Nachzusehen bei PISA-verstehen_Motivation_Kontext_Interpretation-der-Ergebnisse- (ppt, 2,635 KB)).
Zum ersten Einwand: Ja. Ein einziges Element in einem dysfunktionalen System zu verändern, verbessert nicht nur nicht automatisch das System, sondern vermutlich gar nicht. Nun ist die äußere Differenzierung nicht bloß ein Element, sondern der Rahmen des ganzen Systems, der seinerseits eine lange Reihe weiterer Elemente determiniert. Und selbstverständlich ist die Veränderung dieses strukturellen Rahmens nur die Voraussetzung dafür, dass das ganze System nachhaltig umgestaltet werden kann. Eine Reduktion der Klassenfrequenz alleine verbessert ja auch nicht automatisch den Unterricht. Aber auch hier wäre die Folgerung, die Anzahl der Schüler in der Klasse bzw. die Anzahl der Schüler eines Lehrers spiele dann also keine Rolle, ein fundamentaler Denkfehler. Immer wieder stößt man auf das hartnäckig sich äußernde Bedürfnis, komplexe Probleme monokausal zu erklären und zu lösen. Es sind jedoch komplexe Systeme, die radikal umgestaltet werden müssen, und dies geht nur mit einem Masterplan, der mit einem Bündel von aufeinander bezogenen Veränderungen auf eine systemische, polykausale Ursachendefinition von Problemen reagiert.
Als wichtigstes wäre neben einer radikalen Strukturreform dafür die Lehrerbildung zu nennen: Solange auch in der Lehrerausbildung im Wesentlichen doch noch immer die Vorstellung der Trichterpädagogik vorherrscht, ist die notwendige Neue Lernkultur nicht zu haben. Ein Kernstück der Lehrerausbildung müßte pädagogische Psychologie sein, die bisher – wenn überhaupt – nur am Rande vorkommt. In einer professionellen pädagogischen Ausbildung wäre von den angehenden Lehrern ausführlich zu lernen, wie der Mensch überhaupt lernt. Stattdessen wird meist nur gelernt, wie man heutzutage unterrichtet. Das eine hat mit dem anderen wenig zu tun.
Ebenso wichtig ist die Erkenntnis: Einen Tanker bei voller Fahrt zu wenden, ist äußerst schwierig. Um eine umfassende Neukonstruktion des Bildungswesens zu ermöglichen, sind darum hohe Investitionen aufzubringen, in erster Linie eine radikale Erhöhung der Personalressourcen, die für die notwendige Besinnung und Fortbildung des Personals unerlässlich ist. Wer 30 Stunden pro Woche unterrichten muss, kann nicht über sein Lernverständnis reflektieren, seine bisherigen Lehrstrategien radikal infrage stellen und neue Unterrichtskonzepte, geschweige seine ganze Schule (mit-)entwickeln. Er kann unter solchen Bedingungen seinen Betrieb nur aufrechterhalten, wenn er genauso weitermacht, wie bisher. Daher der verständliche Widerstand vieler gestresster Lehrer gegen dauernde Top-Down-Reformprojekte. Die große Schulreform in Finnland hat darum vor mehr als 15 Jahren die Unterrichtsverpflichtung und die Klassengrößen jahrelang so stark reduziert, dass es den Lehrern nicht nur möglich war sondern auch eine Freude sein konnte, Bisheriges kritisch infrage zu stellen und neugierig neu und umzulernen, was professionelles Pädagogesein heute heißt.
rip (Gast) - 29. Sep, 01:11

"... dem pädagogischen Personal angelastet"

Vielen Dank für den Hinweis auf diesen interessanten Text und das Referieren und Diskutieren der wesentlichen Aspekte!
Ich befürchte nur, dass die "hohen Investitionen", die als nötig angemahnt werden, nicht möglich sein werden, solange notleidende Banken mit Steuergeldern saniert werden müssen, um nur ein Beispiel zu nennen.
---
Ansonsten und ganz allgemein: Gratuliere zu diesem reichhaltigen Blog :)

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