Lars Becker (Gast) - 21. Aug, 02:13

Schule historisieren?

Liebe Lisa Rosa,

der letzte Absatz lässt mich aufhorchen. Leider ist er mir, der Borries Buch nicht gelesen hat, nicht verständlich. "Schule historisieren" - das soll was heißen? Entschulung a la Illich? Oder geht es um konkrete Unterrichtsformen und Modelle? Mich würde ehrlich interessieren, worauf Du hinaus willst. :-)

Was die These betrifft, Wissensgenerierung verlagere sich zunehmend vom Formellen ins Informelle, ich bin diesbezüglich skeptisch. Verlagert hat sich der Fokus. *Endlich* wird auch das informelle Lernen, dass schon immer eine große Rolle gespielt hat, zunehmend stärker in den Blickpunkt gerückt. Dieser Bedeutungswandel betrifft m.E. aber im wesentlichen nur die Metaebene, die Forschung, nicht aber das Lernen selbst.

Liebe Grüße
Lars (der gerne an Wieters Geschichtsunterricht zurückdenkt und dort tatsächlich etwas gerlernt hat)

Lisa Rosa - 21. Aug, 11:15

Lieber Lars,

unter Historisieren verstehe ich, eine Sache analytisch in ihrem historischen Kontext eingebettet zu sehen, nicht mehr und nicht weniger. "Entschulung" ist ja etwas Normatives, eine Forderung, und zudem - bei allem Respekt gegenüber Illich - eine rebellische. Rebellion gehört zur bestehenden Schule wie Unterrichtsstörung und Schwänzen der Schüler zur Schule gehört wie der Teufel zum lieben Gott - qua Systemdefekt bzw. als Kehrseite der Medaille sozusagen. Es geht um etwas anderes: Die allgemeinbildende Schule des Industriezeitalters bzw. der Gutenberggalaxie, die wir immer noch haben, steht m.E. im Widerspruch zu den postindustriellen gesellschaftlichen Entwicklungen spätestens seit Durchsetzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, sprich Internet als Leitmedium. Empfunden wird das zunächst als Krise. Das formelle, also institutionelle Lernen muß seine Rolle (Bedeutung und Funktion) unter diesen neuen Bedingungen ganz neu definieren (wie z.B. auch das Politiksystem!). Schule als bisheriger Kern des formellen Lernens erst Recht. Es gibt unübersehbare Anzeichen für die Verflüssigung von Institutionen der Bildung. Lebenslanges Lernen, vernetztes Lernen, selbstgesteuertes (= im systemtheoretischen Sinne selbstbestimmtes) Lernen ... Das und viele andere Merkmale der Herausbildung einer Neuen Lernkultur hat es vielleicht vereinzelt "schon immer" gegeben. Wichtig ist aber die Tendenz, dass diese Erscheinung(en) zum Hauptmerkmal der Gesellschaft und seiner Subsysteme werden. Und auf diesem Wege sind sie m. E. sehr deutlich. (Es ist nicht nur eine Frage des Blickpunkts.) Das System Schule muss sich anpassend an diese Entwicklung, die m. E. vor allem damit zu tun hat, dass Wissen zur Hauptproduktivkraft geworden ist, radikal transformieren - tatsächlich bei Strafe des eigenen Untergangs. Weil die staatliche Schule das bisher noch nicht geschafft hat, der Transformationsdruck aber gewaltig ist, werden ja ständig neue Privatschulen gegründet. Wie radikal sich Schule verändern muss und wird, ist ja noch gar nicht abzusehen. Ob man später zu dem Produkt dieses Transformationsprozesses dann überhaupt noch "Schule" sagen kann, wird man sehen! Das Ersetzen des Begriffs Schule in Reformkonzepten durch den Begriff "Haus des Lernens" reflektiert jedoch schon deutlich, dass es sich bei dem Veränderungsprozess wohl um einen weitreichenden Systemwandel handeln wird. (Und vieles in der Borriesschen Didaktik weist eigentlich in der Konsequenz auf diesen Systemwandel im Gesamtsystem Schule hin, aber als Fachdidaktiker will er wohl nicht über seine Disziplingrenzen hinausgreifen. Verständlicherweise.)

Wissensgenerierung: Konstruktivistisch und auch tätigkeitstheoretisch gesehen ist Lernen immer auch Wissensgenerierung, nie nur Aneignung von schon Bekanntem. Praktisch (wieder-) entdeckt wurde: Lernen ist nicht nur Internalisierung sondern auch Externalisierung. Externalisierung ist aber auch immer Neukonstruktion. Was machen wir hier im Netz bei unserer Diskussion z.B.? Lernen wir "bloß"? Oder "lernen" wir nicht?
Alte, für selbstverständlich gehaltene (also nicht historisierte) Trennungen lösen sich auf, z.B. eben auch die zwischen Forschung und Lernen oder Arbeit und Lernen. Das Lernkonzept "Theoprax" z.B., das v.a. in Bayern genutzt wird, verbindet Forschung und Lernen ganz praktisch: Schüler lernen Mathe und Naturwissenschaften, INDEM sie Forschungsleistungen für die Industrie liefern: http://www.theo-prax.de/

Wieters' guter Geschichtsunterricht: Sag ihm das! Er wird sich freuen. Ich bin auch weit entfernt davon zu behaupten, dass es in der Schule überhaupt nichts zu lernen gäbe oder dass der konkrete Geschichtsunterricht eines bestimmten Lehrers unter den derzeitigen Bedingungen notwendigerweise schlecht sein muss.

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