Flic Flac, persönlicher Sinn und Schule

Neulich sah ich während der Mittagspause einer Gruppe von zehn bis zwölf Jugendlichen im Park von Planten & Blomen beim Training auf der Wiese zu. Sie übten Flic Flacs und Saltos, vorwärts und rückwärts, gehockt, gestreckt und geschraubt, aus dem Stand und mit Anlauf, kombiniert mit Bodenkippe und Handstand. Stundenlang, unermüdlich. Sie gaben sich Tipps und filmten sich gegenseitig, aber es schien keinen Trainer zu geben. Niemand hatte das Sagen. Sie hatten auch keinerlei Vereinskleidung, trugen weder Sportsachen noch Schuhe. Als sie anfingen, bestimmte Bewegungsfolgen zu üben, nahm ich an, dass sie für einen Auftritt oder eine Veranstaltung trainierten, vielleicht eine Choreografie für ein Musical, bei dem sie damit etwas Geld verdienten.
Später meinte der Sohn einer Bekannten, das sei doch nichts Neues. Na klar hätten die keinen Trainer. Es ist eine von selbst zusammengewachsene Gruppe von Jungen, denen es Spaß macht, solche Leistungen zu bringen. Sie trainierten sich selbst. Er habe schon Jungen gesehen, die das auf der Straße machen. Mit noch größeren Schwierigkeiten, z.B. ein Salto rückwärts auf einen Poller zu landen! Mit einem Auftritt oder einer Choreographie hätte das nichts zu tun, mit Geld schon überhaupt nicht. Sie stellten sich ihre Aufgaben selbst und der Sinn besteht einzig darin, diese Aufgaben zu meistern.
Im Moment sei es ganz neu und in, daß Jugendliche (alles Jungs) in der Stadt folgendes machen: Sie ziehen auf dem Stadtplan eine Luftlinie von Standort A nach B. Dann heißt die Aufgabe, diese Linie zu gehen, ohne Hindernissen auszuweichen. Häuser, die in der Linie stehen, müssen überklettert werden. Dabei habe es auch schon Abstürze und Tote gegeben. Dabei gehen die Jugendlichen nachgerade generalstabsmäßig vor. Sie bestimmen die Schwierigkeitsgrade, die in dieser Aufgabe vorkommen, d.h. sie analysieren die Aufgabe und „gehen“ die Linie erst, wenn sie alle einzelnen Hindernisprobleme vorher an vergleichbaren Objekten trainiert haben. Ziel ist, diese bestimme Linie dann beim ersten und einzigen Mal der "Begehung" zu schaffen.

Warum machen sie das? Diese Jugendlichen stellen sich selbst Aufgaben, deren Ziele und deren Regeln sie selbst bestimmen, mit denen sie sich – trotz oder vielleicht sogar wegen des tödlichen Risikos – selbst herausfordern und für die sie mit ungeheurer Ausdauer trainieren. Die Aufgaben selbst scheinen von der Gesellschaft her betrachtet "sinnlos". Sie bringen keinen Nutzen und fallen nicht in die Kategorie "soziales Engagement". Es sind aber auch keine bloßen Mutproben.
Hier werden offenbar Fähigkeiten trainiert, die die Schule nicht beibringen will, weil die institutionelle Bildung sie als gesellschaftliche Aufgabe gar nicht auf dem Zettel hat, und die in den herkömmlichen institutionellen Zusammenhängen wie Sportvereine auch nicht geliefert werden: die Fähigkeit sich selbst Aufgaben stellen und sie unter Ernstfallbedingungen und in selbstbestimmter Gemeinschaft kooperativ lösen zu können, dabei Spiel und hartes Training zu kombinieren und Selbsterfahrung, Selbsterziehung, Selbstkontrolle und persönliche Sinnbildung zu üben. Die Bereitschaft, dabei auch ein – im Extremfall tödliches – Risiko einzugehen, zeigt, wie wichtig dieses Motiv für sie ist und wie ernst sie es nehmen. Daß sie ihre Tätigkeit im Park und auf der Straße öffentlich ausführen (und sie damit zugleich präsentieren!) und nicht auf Matten in einem geschlossenen Trainingszentrum mit Trainern, die die Aufgaben, den Präsentationsanlaß und die Ausführungsregeln institutionell vorgeben, paßt genau darauf.

Darf Schule eigentlich auf die Ausbildung solcher Fähigkeiten verzichten? Ist es richtig, das dem Zufall oder dem riskanten Engagement Einzelner zu überlassen? Warum sind die Fähigkeiten, fließend lesen, korrekt schreiben und selbst rechnen zu können wichtiger, als sich selbst Aufgaben stellen und sie in professionell organisierten Projekten lösen zu können? Wichtiger als die Fähigkeit zu persönlicher Sinnbildung? Was rechtfertigt die Schule überhaupt noch, wenn der persönliche Sinn der Lernenden missachtet wird?
Robert Nitsch (Gast) - 7. Apr, 12:34

Noch vor ein paar Jahren gab es eine Zeit, zu der ich wahnsinnig viel Inlineskating betrieben habe. (Für alle, die das jetzt möglicherweise missverstehen würden: Ich meine nicht das "Skateboardfahren", sondern das "Inlineskaten" - also das Rollschuhfahren mit diesen modernen, meist mit 4 Rollen ausgestatteten "Skateschuhen".
siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Inlineskating)

Ich bin meistens mit einem guten Freund umhergefahren. Wir haben uns Wettrennen geleistet und ziemlich komisch anmutende Manöver erlernt und uns in ihrer Ausführung geübt. Unter anderem kann ich aus diesem Grunde solange auf einem Bein fahren, bis schlicht und einfach keine Geschwindigkeit mehr da ist. Vorher falle ich nicht um, wenn ich mir etwas Mühe gebe. (Zur Information: normalerweise fällt man als Anfänger/Fortgeschrittener ab einer gewissen Geschwindigkeit um, wenn man nur auf einem Bein fährt. Man muss also etwas Anlauf nehmen. Erst nach viel Übung schafft man es dann tatsächlich, bis zum Ende - also bis man fast auf der Stelle "steht" - auf einem Bein zu "fahren" ("stehen" tut man dann erst am Ende.).)

Es tut mir leid, wenn meine Schilderungen nicht ausreichen, um jedem hier ein klares Bild zu vermitteln.

Aber es sei so viel gesagt: ich sehe mich durchaus in diesen Jugendlichen wieder, die im Text beschrieben wurden.

Jedoch muss ich widersprechen, wenn es heißt, diese Jugendlichen hätten irgendein Motiv oder wollten sich irgendetwas beweisen. Zumindest bei mir und meinem Freund war es nicht so, dass wir uns etwas beweisen wollten. Es war ein Zeitvertreib - nicht mehr und nicht weniger.
Damit beziehe ich mich vor allem auf den Absatz "Warum machen sie das?". Es geht nicht - oder zumindest nicht zwingend (mehr dazu im nächsten Satz) - darum, sich selbst Aufgaben zu stellen und diese zu meistern. Ich kann natürlich auch nur meine Sichtweise darstellen bzw. meine Beweggründe von damals. Jedoch fällt es mir schwer zu glauben, dass diese Jugendlichen sich bewusst irgendein Ziel gesetzt haben - es ist einfach nur ein Zeitvertreib.
Bei mir und meinem Freund war es so, dass wir bestimmte "Stunts" einfach irgendwann mal ausprobiert haben. Zum Beispiel:
Von unserer Terrasse kann man prima eine 3stufige Treppe herabspringen. Dann landet man in der Einfahrt, die gepflastert ist. Eines Tages, das war am Anfang meiner "Inlineskating"-Zeit, haben wir uns gefragt, ob man da runterspringen kann. Und dann haben wir - trotz einer gewissen Angst - es einfach probiert: wir haben viel Anlauf genommen und sind gesprungen. Wie man sich vorstellen kann war das ein tolles Gefühl, wenn man nicht hingefallen ist. (Zweifellos habe ich mich einige Male "hingelegt", aber wenn man jung ist, hält man unglaublich viel aus.)

Wir haben also immer wieder nach neuen Stunts gesucht. Und auch die Treppen, von denen wir sprangen, wurden immer höher. Alle Stunts wurden bis zu einem Maximum ausgetestet. Aber auch als junger Mensch kennt man seine Grenzen - wir sind also nicht vom Haus gesprungen oder dergleichen. ;) Und trotzdem sage ich, dass es eher ein Zeitvertreib war. Es macht keinen Spaß, immer wieder dieselbe Treppe herunterzuspringen. Deswegen sucht man sich etwas Neues: eine noch größere Treppe. Oder man entdeckt eine ganz neue Art von "Stunt": z.B. in gebückter Haltung zu fahren (das war eines der lustigsten Manöver :D ).

Primär ist es aus meiner Sicht ein Zeitvertreib. Aber es fällt mir auf, dass in diesem Alter viele Jugendliche derartige Erfahrungen machen. Viele Brüder von Freunden sehe ich heute noch Skateboarden und Inlineskaten - sie sind im Alter von 12-14 Jahren. Vllt. ist es eine Phase im Leben, in der man sich tatsächlich etwas beweist. Aber keiner dieser Jugendlichen denkt nach dem Schema "so ich möchte mir jetzt etwas beweisen und deswegen springe ich da vorne von der Treppe" oder "wenn ich das schaffe bin ich ein Mann" oder dergleichen. Es ist eher die Frage "Kann ich es schaffen, dort vorne von der Treppe zu springen und aufrecht zu landen?"
Und kann "ich auch von der noch größeren Treppe springen?".

Es ist eine Frage nach den eigenen Grenzen. Das ist für mich etwas anderes, als wenn man sich etwas beweisen will.

Und die Formulierung "die Fähigkeit sich selbst Aufgaben stellen und sie unter Ernstfallbedingungen und in selbstbestimmter Gemeinschaft kooperativ lösen zu können" halte ich für völlig überzogen. Das wird dir jeder Jugendliche sagen, den du diesbezüglich ansprichst. Vielleicht wird diese Fähigkeit unterbewusst bzw. nebenläufig mittrainiert. Aber der Schwerpunkt liegt auf dem Ausloten der eigenen Grenzen. (Es gibt natürlich auch die Möglichkeit, dass du es anders gemeint hast.)

Das wars erstmal, ich freue mich auf Antworten und eine kleine Diskussion. :)

Lisa Rosa - 7. Apr, 16:33

Es macht eben einfach Spaß

Die Auskunft der Akteure sagt häufig wenig über die Bedeutung aus, die das hat, was sie tun. "Ich konnte nicht anders", ist z.B. alles, was die meisten Menschen als Motiv angaben, die im Nationalsozialismus Juden unter dem Einsatz ihres eigenen Lebens zum Überleben geholfen haben. "Es macht halt Spaß", sagt mein Sohn, wenn ich ihn frage, warum er sich mit Ausdauer in eine anstrengende Sache stürzt. Und von Mozart ist bekannt, daß er über sein Komponieren und seine Kompositionen nicht mehr sagen konnte, als daß er sie eben machen mußte. Dahinter verbirgt sich aber das, was Leont'ev den "persönlichen Sinn" nennt. Es muß nicht gleich der Sinn fürs ganze Leben sein und auch nicht zu heroischen genialen Leistungen führen.
Solche Sinnbildungsmöglichkeiten verweigert die Schule. Denn Sinn hat mit Autonomie zu tun. Die eigene Autonomie wächst nicht gut in einem System, das immer schon weiß, was für einen gut ist.
Und auch nicht da, wo auf die Frage nach Sinn häufig geantwortet wird: "Das brauchst du im "richtigen" Leben, später, nach der Schule, da begreifst du, daß es sinnvoll war, das zu lernen." Aber Leben ist immer in der Gegenwart. Und Lebenssinn muß jetzt sein. Und die in Aussicht gestellte Perspektive "später" muß vor allem WAHR sein. Das ist sie aber nicht. Denn die heutigen Schüler müssen ihre Perspektive selbst konstruieren.
Wo die oben in Corredors Beitrag beschriebenen Sinnbildungsmöglichkeiten verweigert werden, da kommt es zu Schulabsentismus oder im Extremfall zu kollektivem Widerstand gegen die Institution. Ein frisches Beispiel von 6.Klässlern, die ihre Lehrer regelrecht bekämpfen und kaputt machen WOLLEN, kann man im knill blog ausführlich nachlesen: http://knill.blogspot.com/2007/04/ohnmchtige-schule-was-tun-wenn-behrden.html

Wirkliche Abhilfe gibt es nur dadurch, daß die Schule sich radikal verändert, indem sie die Fähigkeit der Schüler zur Sinnproduktion als Lernziel auf ihre Agenda setzt. Dazu muß sie ihre Lern- und Lehrorganisation, ihr Bild vom Schüler und die Rolle des Lehrers neu bestimmen und umkrempeln. Die Projektform, das selbstgewählte Projekt, ist das übergreifende Lernformat, auf das sich Schule einzurichten hat. Fließend lesen, korrekt schreiben sowie die Fähigkeit des Kopf- und Papier-Rechnens, ordnen sich diesem Format unter und werden gelernt, wenn sie fürs eigene Projekt wichtig werden. Nur so bekommen diese Fähigkeiten ihre Legitimation. Diese sogenannten grundlegenden "Kulturtechniken" werden jetzt zu nachgeordneten Hilfs-Fähigkeiten, weil die jetzige grundlegende "Kulturtechnik" Sinnbildung heißen muß.
Im Moment weiß eher die Wirtschaft als die herrschende Pädagogik davon, daß die in Corredors Text beschriebenen Fähigkeiten die grundlegenden Fähigkeiten sind, die in Zukunft gebraucht werden.

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Bild: Ivan Montero / fotolia

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