Dienstag, 25. März 2008

Widersprüche

betrifft: Wolfgang Meseth, Matthias Proske, Frank-Olaf Radtke (Hg.), Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, Frankfurt/New York 2004
Darin: Der Einleitungsaufsatz der Herausgeber und ihr Bericht über die Pilotstudie ("Erste empirische Befunde und theoretische Schlussfolgerungen")


Da habe ich mich mit großer Vorfreude in die Lektüre eines Aufsatzes gestürzt, der so vielversprechend einen bislang unbenutzten analytischen Zugang zum Problem der Vermittlung von Holocaust und NS im Unterricht versprach. Aber was soll ich dazu sagen?
Die Autoren haben ja einerseits vollkommen Recht, und es ist sehr gut, daß die systemtheoretische Perspektive endlich auch zur Geschichtsdidaktik durchdringt. Andererseits aber sind sie über Luhmann nicht recht hinausgekommen. Am Ende bleibt nicht viel mehr als die Erkenntnis, die wir früher den "heimlichen Lehrplan" nannten: Die Schüler lernen, was der Lehrer hören will, und wie sie sich trotzdem den Zumutungen entziehen können, die sie nicht akzeptieren. Das ist nicht viel neue Erkenntnis, ich hätte mehr erwartet. Ganz abgesehen von den inneren Widersprüchen in der Argumentation der Autoren.

So schreiben sie am Ende ganz entgegen ihren eigenen empirischen Befunden aus den Unterrichtsbeobachtungen der Pilotstudie, daß es schon viel wäre, wenn die Schüler durch den Geschichtsunterricht auf den Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema kämen, um kompetent an den gesellschaftlichen Debatten partizipieren zu können. Jaa meine Güte, das ist doch das Höchstziel von Geschichtsunterricht überhaupt! Ach, was sage ich: eines ganzen Geschichtsstudiums! Was ist denn das für eine Wunschpädagogik! Wie sollen die Schüler denn dahin kommen??? Eine Seite vorher hatten die Autoren nämlich gerade erst festgestellt, daß man alle Ansprüche an den Geschichtsunterricht zurücknehmen müsse, denn er könne nichts weiter, als sich selbst aufrechtzuerhalten, indem er die Form Unterricht durch entsprechende Kommunikationen immer weiter reproduziert. Dies ginge aber nur, wenn der Unterricht gespalten wäre in einerseits eine pc-konforme offizielle Kommunikation und in andererseits beiseite gesprochene Kommentare der Schüler, also eine inoffizielle Kommunikation aller Widerstände dagegen (ich würde das auch Tacheles nennen), auf die der Lehrer im Interesse der Aufrechterhaltung des Systems Unterricht jedoch nicht reagieren dürfe. Hier beschreiben sie ja wunderbar, wie der traditionelle Unterricht, den sie untersucht haben, funktioniert. Aber sie kommen aus ihrer selbst gestellten Falle nicht heraus, denn sie bleiben dabei: Unterricht kann nicht anders sein. Und ob er kann! Natürlich kann man gerade das "Beiseitegesprochene" in die offizielle Unterrichts-Kommunikation hinein nehmen! In meinen eigenen Projekten praktiziere ich dies jedenfalls mit – mich selbst manchmal überraschendem – Erfolg.

An dieser Einsicht hindern sie sich aber selbst dadurch, dass sie die Systemtheorie ausschließlich auf der Ebene der Beschreibung dessen rezipieren, was ist. Das ist unhistorisch. Ohne Entstehung, ohne Entwicklung, ohne die Möglichkeit der Veränderung. Außerdem kennen sie nur die Systemtheorie bis Luhmann. Von Willke keine Spur. Sie bleiben bei Luhmanns Wissensbegriff von Anno Schneegurke stehen, der unter Wissen noch bloß kognitive Faktenkenntnis verstand. Von Wissensgesellschaft, von der Veränderungsnotwendigkeit von Systemen – auch dem Erziehungssystem natürlich! – bei Strafe des eigenen Untergangs, von der Emergenz neuer Formen vor allem der Selbststeuerung, was es ja auch in der Schule ansatzweise längst gibt und was mitnichten das Erziehungssystem Unterricht sprengt, sondern im Gegenteil vermutlich am Leben erhalten wird – nichts von alledem! Gar nichts!!

Sie drehen sich im Kreis, wenn sie quasi zirkelmäßig zu belegen versuchen, daß Unterricht so bleiben muß, wie er ist. Keine Rede mehr davon, wie man überhaupt die Schüler erreicht, die doch immer mehr „beiseite“ als offiziell sprechen und angesprochen werden wollen. Keine Rede mehr von den von ihnen selbst zitierten Befunden anderer Studien, die seit Jahren belegen, dass trotz Geschichtsunterrichts kaum Faktenwissen über Holocaust und NS vorhanden ist. Die Autoren reden zwar von ihrem Ziel – Partizipation der Schüler an der gesellschaftlichen Debatte –, aber sie behandeln dies als etwas, was erst nach der Schule stattfinden kann, wenn die Schüler in der Schule fleißig Wissen dafür gesammelt haben. Aber genau das tun diese ja eben nicht, wie die Autoren selbst diagnostizieren. Sie nutzen Luhmann einfach nur als Begründung für ihre Auffassung: Die Schüler als Individuen erreicht man eh nicht, man kann sie im Unterricht ja nur als personae – also in ihrer Schülerrolle – ansprechen und ihnen (kognitives) Wissen vorsetzen (hier benutzen sie wieder den veralteten Wissensbegriff). Mit dem Versuch einer Vermittlung von Einstellungen und Verhaltensweisen käme man nicht an sie heran (was ja so auch nicht richtig ist), das Wissen jedoch würden sie schlucken. Den Widerspruch, den sie da produzieren, bemerken sie nicht einmal.

Zum Schluß bleibt: Der Geschichtsunterricht kann eigentlich nur beibringen, "wie man offiziell über den Holocaust zu sprechen hat" – mehr nicht. An anderer Stelle wiederum erklären sie –, daß Unterricht über Holocaust nur zustande kommen kann, wenn er die Kenntnis der offiziellen politisch korrekten Sprechweise bereits voraussetzt.
Sie interpretieren in ihren Fallstudien alle konkreten Kommunikationen ausschließlich als strukturell bedingt – so, als würden die konkreten Lehrer, die in den untersuchten Unterrichtssequenzen zum Teil einen hahnebüchenen Unterricht produzierten, aus strukturellen Gründen gar nicht anders können, als eben so zu kommunizieren. Am Ende stellen sie zwar selbst die Frage: Ist das Verhalten der Lehrer hier ein Problem der Performanz oder ein strukturelles Problem? Aber weil sie so dahinterher sind – was ich ja verstehen kann – den systemtheoretischen Blick zu etablieren, antworten sie doch tatsächlich: Es ist nur ein Strukturproblem.

Voller interner logischer Widersprüche also (als hätten wir nicht an dem Paradox der Erziehung schon genug)!
Insgesamt fehlt den Autoren die Erfahrung des Schulpraktikers, und das merkt man. Und vor allem: Kein Wort über Sinn! Sie stehen ratlos vor dem Problem, wie die gesellschaftliche Bedeutung in die Schülerköpfe hineinkommen kann. Da, wo sie realistisch (systemtheoretisch) werden, sagen sie nur: eigentlich gar nicht; und da wo sie es (bildungstheoretisch) wünschen, da werden sie unrealistisch. Es fehlt ihnen allen ganz deutlich an realistischen Vorstellungen davon, wie der Mensch lernt.
Da halte ich mich doch gerne wieder bei Hartmut von Hentigs Dictum auf: "Das wichtigste Curriculum des Lehrers ist seine eigene Person".

Meine Enttäuschung kommt daher, dass ich viel von Systemtheorie halte.
Den Band kann ich trotzdem wärmstens empfehlen:
Erstens ist die Pilotstudie untersuchten Geschichtsunterrichts zum Thema ganz einfach interessant.
Zweitens beziehen sich die Autoren der erziehungswissenschaftlichen Kontroversen - auch die der hier nicht besprochenen Aufsätze - auf die Ergebnisse dieser Studie. Sie interpretieren sie unterschiedlich und kommen mit verschiedenen theoretischen Zugängen zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen. Und: sie beziehen sich teilweise untereinander auf ihre jeweiligen Aufsätze! Mit Gottfried Kößler ist auch ein Autor dabei, der sowohl Praktiker ist - er ist selbst einer der Lehrer, deren Unterricht in der Pilotstudie beobachtet wurde -, als auch Autor von Unterrichtskonzepten zum Thema Holocaust und NS, sowie Autor von Reflexionen zum Problem des Unterrichtens mit diesem Thema.
Der untersuchte Unterricht sowie fruchtbare Kontroversen über die Interpretation der Befunde, die Identifikation ihrer Ursachen und die Richtung, in der die Problemlösung zu finden wäre, sind für Geschichtslehrer allemal interessant.

Montag, 10. März 2008

NS-Täter

Auch wenn ich noch nicht weiß, was ich von Jonathan Littells Wohlgesinnten halten werde, weil das Buch noch ungelesen auf meinem Schreibtisch liegt - eines ist jetzt schon ein Pluspunkt: Der Rummel um das Fiction-Täter-Buch hat den Spiegel immerhin dazu veranlasst, einen Artikel zur Täterfrage (Wie werden aus ganz normalen Menschen Massenmörder) zu schreiben, der ausnahmsweise state of the art ist: Der neue Spiegeltitel Die Täter. Warum so viele Deutsche zu Mördern wurden, nimmt die wichtigsten Befunde und Theorien des derzeitigen Forschungsstandes auf (Harald Welzer, Dieter Pohl, Michael Wildt) und ist auf jeden Fall jedem angeraten, der sich aus welchen Gründen auch immer, nicht durch Harald Welzers Täterbuch Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden kämpfen mag.

Dienstag, 4. März 2008

Shoah. Die Begriffsverwirrung

Ein israelischer Minister benutzt den Begriff Shoah in einem unerwarteten Zusammenhang, genauer gesagt, in einem Zusammenhang, in dem man ihn zu allerletzt erwartet hätte. Ich versuche, mir Klarheit über den Vorgang, seine Bedeutung und seine Folgen zu verschaffen.

Laut SZ sagte der Vizeverteidigungsminister Matan Vilnai im Militärrundfunk:

"Wenn die Palästinenser noch mehr Raketen abschießen und deren Reichweite vergrößern, bringen sie sich in die Gefahr einer größeren Schoah, weil wir alles in unserer Macht stehende tun, uns zu verteidigen".

Was hat das zu bedeuten? Ich bin schockiert. Shoah ist der hebräische Begriff für den NS-Völkermord an den Juden. Es ist der Begriff, den die Juden selbst ausschließlich für dieses historische Menschheitsverbrechen verwenden. Nichtjuden verwenden ihn eher nicht, damit sie keine falsche Opferidentität suggerieren. Nichtjuden verwenden daher seit der amerikanischen Fernsehserie den Begriff Holocaust. Was also hat Vilnai mit seinem Satz gesagt? Es gibt keine andere Möglichkeit, als diese: Der Minister hat sinngemäß mitgeteilt: 'Wir werden die Palästinenser vernichten, so wie wir einst von den Deutschen vernichtet wurden, weil wir die Kassamraketen-Angriffe als erneut drohenden Völkermord an uns verstehen.'

Susanne Knaul, taz-Korrespondentin in Israel, hatte auf Vilnais Äußerungen hin also zunächst völlig zu Recht in der Taz vom Wochenende ihr portrait von Vilnai unter der Überschrift verfasst: "Der Israeli, der mit 'Holocaust' droht".
Nach der Lektüre am Sonntag war ich felsenfest davon überzeugt, dass die israelische Regierung und Öffentlichkeit sich einhellig und scharf von der Äußerung ihres Ministers distanzieren und den Minister sofort seines Amtes entheben würde, und daß die Arbeitspartei, der er angehört, ein Ausschlußverfahren gegen ihn einleiten würde. Denn wenn er meinte, was er sagte, dann würde hier ein Verbrechen an der Menschheit (Crime against humanity) angekündigt. Das aber kann nicht die Politik Israels sein. Und wenn er nicht meinte, was er sagte, dann wäre größter Schaden an der weltweit und allgemein verbindlichen Bedeutung des Begriffs Shoah und dem Verständnis seines bezeichneten Gegenstands gestiftet.

Aber nichts dergleichen. Es passiert stattdessen etwas ganz anderes. Der Sprecher des Außenministeriums, Arie Mekel, relativiert die Äußerung Vilnais und nimmt ihn in Schutz: Vilnai habe nur "Desaster oder Katastrophe" gemeint. Und Vilnais Sprecher am Montag: "Herr Vilnai meinte Katastrophe. Er wollte keine Anspielung auf den Völkermord machen". Ach ja? Wozu bemühe ich mich in meiner Arbeit darum, aufzuklären, daß der Propagandabegriff der NPD "Bombenholocaust" untragbar ist, weil er Opfer-Täter-Konversion betreibt? Und daß es eine unerträgliche Verharmlosung ist, wenn extremistische Tierschützer vom Tierholocaust sprechen? Ich tue es deswegen, weil Begriffe wie Holocaust und Shoah historisch-politische Termini sind, in denen ausgehandelte Geschichtsdeutung aufgehoben ist, mit denen Politik gemacht wird und die man nicht auf eine Ebene mit Alltagsbegriffen stellt, weil sie dann eben diesen Charakter historisch-politischer Begrifflichkeit verlören. In Wikipedia findet man wichtige Hinweise zum Begriff der Shoah sowie der damit verknüpften Geschichtsdeutung der Singularität des Genozids an den Juden.

"Wenn man in Israel von einer "Katastrophe" redet, wird oft das Wort Schoah benutzt, aber damit ist nicht der "Holocaust" in Europa gemeint. Und wenn Vilnai davon redet, dass die Pal. "ein Unglück, Katastrophe über sich bringen werden", dann ist damit ganz gewiss nicht gemeint, dass die Israelis an den Palästinensern einen Genozid verüben werden",

schreibt jedoch im Gegensatz dazu Christoph Grubitz in seinem wunderblock am 1 März.
Auch der österreichische Standard ist eilig dabei, die relativierende Interpretation zu übernehmen, indem er die Äußerung des Ministers in der Übersetzung gleich mit "Katastrophe" zitiert. Damit ist das "schwierige" Wort vom Tisch, das Problem aber überhaupt nicht erledigt. Es ist nur vom Tisch unter den Teppich gefegt. Aber leider kann man das nicht mit diesem Gegenstand und dieser weltweit festgelegten historischen Bedeutung des Begriffes Shoah, deren Opfern am Yom ha sho'A, dem Gedenktag am 27. Januar, jedes Jahr in ganz Israel mit einer Schweigeminute gedacht wird, und der spätestens mit Claude Lanzmanns Film "Shoah" eine, wenn nicht DIE Chiffre für den Genozid an den europäischen Juden geworden ist.

Es ist für das Funktionieren der Alltagskommunikation unmöglich, daß ein Begriff, der als Chiffre für den worst case des Zusammenbruchs der Zivilisation dient und der außerdem ein Ereignis bezeichnet, aus dem der Staat seine wichtigste historische Legitimation bezieht, gleichzeitig ein Alltagsbegriff sein soll, der jedwede kleinere oder größere Katastrophe im Alltag bezeichnet. Es muß also noch andere Begriffe für Unglück und Katastrophe geben, nämlich die für den Alltag. Also schauen wir erstens im hebräischen Wörterbuch nach, was Shoah heißt, und schauen wir zweitens nach, ob es andere Begriffe für 'Unglück' und 'Desaster' und 'Katastrophe' im Hebräischen gibt, bevor wir solchen Unsinn glauben.

Viele online-Wörterbücher für Ivrith – das ist das Gegenwartshebräisch – gibt es leider nicht.
In My Hebrew Dictionary gebe ich nacheinander ein 'disaster', 'catastrophe' and 'calamity'. Alles Begriffe, die angeblich den Alltagsbegriff sho'A als Treffer bringen müssten. Dem ist jedoch nicht so. Gebe ich aber den Begriff 'holocaust' ein, dann habe ich einen Treffer: sho'A.
Und im Wörterbuch hebräisch-deutsch; deutsch-hebräisch finde ich für Unglück, Missgeschick, Not: 'assOn oder 'Ed; und für Unglück, Katastrophe: puranUt. Sho'A aber bedeutet laut Wörterbuch: Untergang, Katastrophe, Massenvernichtung der Juden. Es gibt also durchaus andere Wörter für Katastrophe, Unglück, Kalamität. Kann Vilnai nicht gut Hebräisch? Oder kann er nur nicht gut Politik?

Im Allgemeinen wird da in der Politik zurückgerudert, wo jemand politisch undiszipliniert, also unprofessionell, gehandelt hat, wo ES gesprochen hat statt ICH, wo etwas ausgeplaudert wurde, was taktisch ungünstige Folgen hat. Man nennt das ganze dann einen Ausrutscher - wie in der taz - oder eine Entgleisung. Es ist etwas herausgekommen, was hätte drin bleiben sollen. Aber es ist etwas. Und über dieses etwas muß gesprochen werden. Es muß geklärt statt vertuscht werden. Und weil die Klärung und Distanzierung, wie sie nötig gewesen wäre, nicht stattgefunden hat, ist leider anzunehmen, daß da etwas ist, was nicht nur bei Minister Vilnai ist, sondern nur zufällig bei ihm herauskam.

Warum also diese unglaubliche Begriffsverwirrung, die hier in Gang gesetzt und bereitwillig hingenommen wird? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, nämlich, daß wir durch diesen Lapsus linguae etwa explizit erführen, daß die extremen Falken in der israelischen Regierung wider alle universale Ethik und wider alle politische Vernunft tatsächlich bereit sind, die Bevölkerung im Gazastreifen zu vernichten. Eine andere Interpretation dieser Geschichte scheint mir nicht plausibel. Gerne würde ich mich vom Gegenteil überzeugen lassen. Also?

Montag, 21. Januar 2008

Bewertung in der Schule – zweierlei Empfindlichkeit

Ich beziehe einen Newsletter für alles, was mit Bildungspolitik und Schulentwicklung zu tun hat, der mir – manchmal sogar mehrmals – täglich interessante Nachrichten, Artikel und Kommentare aus den Medien und anderen Informationsquellen auswählt und z.T. kommentiert zumailt. Herausgeber dieses "Bildungs-Infos" ist Prof. Georg Lind, der v.a. mit seinem Buch Moral ist lehrbar bekannt geworden ist. Diesen Newsletter kann ich allen Bildungsarbeitern wärmstens empfehlen – er ist zu beziehen unter
georg.lind(at)uni-konstanz(punkt)de
Heute erreichten mich mit diesem Bildungsinfo unter anderem zwei Artikel, die beide mit dem Thema "Bewertung in der Schule" zu tun haben – jedoch aus entgegensetzten Perspektiven.

Beim ersten Artikel geht es um spickmich.de, wo Lehrer von ihren Schülern bewertet werden können. Einhellig sind sich offenbar fast alle Erwachsenen in der Ablehnung dieser Art von Feedback an die Lehrer. Auch Georg Lind findet in seinem Kommentar, dass hier die Lehrer "an den Pranger gestellt" werden, obwohl im Artikel der fr-online ja gerade herausgestellt wurde, dass 65 % der bewerteten Lehrer auf die Note 1 oder 2 kommen und die Durchschnittsbewertung bei 2,7 liegt – was kaum dafür spricht, dass es sich hier um einen Pranger handelt. Natürlich ist die Bewertung bei spickmich.de nicht das ausgeklügeltste Feedbacksystem zur Verbesserung der Unterrichtsqualität, das man sich wünschen kann. Es gibt bessere, z.B. das von Lind vorgeschlagene ITSE-Selbstevaluationsprogramm oder das von der Berliner Schülerfirma ONO-Systems entwickelte digitale Feedbacksystem, ganz zu schweigen von der bisher einmaligen differenziertesten Rückmeldekultur des finnischen Schulwesens, in dem Schüler hunderte von Feedbackfragen beantworten und an ein eigenes Evaluationsministerium melden, bspw. auch die wiederkehrende, höchst interessante Frage: "Hat sich nach Deiner Kritik aus dem letzten Schuljahr etwas verbessert ?", eine Frage, von der unsere nichtvorhandene Feedbackkultur selbstredend noch Lichtjahre entfernt ist. Einerseits setzt sie nämlich ein etabliertes System der Rückmeldung voraus. Andererseits ist ein Rückmeldesystem erst dann wirklich in der Lage, Verbesserungen zu generieren, wenn es bei dieser Frage angekommen ist, weil erst dann die Nachhaltigkeit der Wirkung gesichert ist. Das finnische Feedbacksystem hat sich als so effizient erwiesen, dass man in Finnland vor ein paar Jahren die Schulinspektion als überflüssig und kontraproduktiv abschaffen konnte.

"Marianne Demmer von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft urteilt: "Spickmich halte ich als Rückmeldungskanal zur Verbesserung des Unterrichts für nicht geeignet." Zwar sei es schade, dass viele Lehrer sich die Chancen der Bewertung entgehen ließen. Schließlich sei die Möglichkeit, auf Lob und Kritik gemeinsam mit der Klasse einzugehen, für den Erfolg des Unterrichts ganz elementar. Bloß im Internet sei dieses Instrument schlecht aufgehoben," zitiert der Artikel der FR.

"Das Internet bietet tatsächlich heute eine gute und kostengünstige Möglichkeit, feedbacks zur Verbesserung des Unterrichts einzusetzen. Das spektakuläre, jedoch ziemlich nutzlose "spickmich" muss es aber nicht sein", befindet Georg Lind in seinem Kommentar.

Im Gegenteil! Spektakulär muss es sein. Und im Internet muss es sein. Und es ist alles andere als nutzlos! spickmich.de ist ein weiteres Beispiel dafür, dass notwendige Demokratisierungs-Entwicklungen in den gesellschaftlichen Institutionen durch das Internet angestoßen werden. Denn nur durch die Erkenntnis, dass auch Lehrer dank Internet einer veröffentlichten Bewertung ihrer Arbeit gar nicht entgehen können, ist die deutsche Schule zukünftig gezwungen, Schülerfeedback-Systeme zur Kontrolle von Lehrerqualität einzuführen. spickmich.de hat also eine wichtige Funktion für die Schulentwicklung. Und dass es funktioniert, wird ja gerade an der aufgeregten Diskussion über spickmich.de sichtbar.

Der zweite Artikel, den ich über Georg Linds Bildungsinfo heute zu lesen bekam, betrifft die neu eingeführten Kopfnoten in NRW zum Arbeits- und Sozialverhalten der Schüler. Er passt wie die Faust aufs Auge: 6 zusätzliche Zensuren zwischen "sehr gut" und "ausreichend" erhalten die Schüler ab dem aktuellen Halbjahreszeugnis über Verantwortungsbereitschaft, Konfliktverhalten, Kooperationsfähigkeit, Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Sorgfalt sowie Selbstständigkeit. Und auch hier ist die Ablehnungsfront der Erwachsenen (Lehrer, Eltern, Bildungsexperten) groß. Worüber ist man aber empört? Nicht darüber, dass bewertet wird, sondern darüber, dass die Bewertung in Form von Zensuren vorgenommen wird. Denn schriftliche Bemerkungen zum Arbeits- und Sozialverhalten als Bestandteil der Zeugnisse neben den Leistungsnoten ist schon bisher immer üblich gewesen, seit die Fleiß- und Betragensnoten in den 70er Jahren abgeschafft wurden. Da konnte man – häufig getarnt als fürsorgliche Beratung - solche Beurteilungen lesen wie z.B. "Lieber A., dieses Halbjahr hast du dir zwar mehr Mühe gegeben, deine Mitschüler nicht dauernd zu piesacken und beim Lernen zu stören, es gelingt dir aber immer noch nicht, dich zurückzunehmen, besonders, wenn du dich ungerecht behandelt fühlst." Oder: "Liebe B., du machst deine Hausaufgaben nicht regelmäßig und nicht sorgfältig genug." Oder: "Du musst lernen, dich besser an die schulischen Anforderungen anzupassen und mehr Rücksicht auf deine Mitschüler zu nehmen."

Ist das etwa kein Pranger?

Ich habe selbst viele Jahre lang solche Zeugnisbemerkungen geschrieben oder abgenickt, und ich weiß sehr gut, wie situationsabhängig solche Zuschreibungen sind, wie zufällig und subjektiv die Wahrnehmung des Lehrers ist, die solche Beurteilungen unter Zeitdruck in formelhafte Sätze gießt.

Wir wissen, was es heißt, solche Sätze in einem Zeugnis stehen zu haben, mit dem man sich um einen Ausbildungsplatz bewerben muss. Ein Schülerzeugnis ist nicht in erster Linie ein Lernberatungsinstrument – wenn überhaupt. Es ist vor allem ein Disziplinierungsinstrument, weil schulisches Lernen bei uns statt auf Lernbedürfnisse und Eigenmotivation der Lernenden auf Forderungen, Bestrafung und Belohnung durch die Lehrenden setzt. Und Zeugnisse sind gleichzeitig Zertifikate, Zulassungsberechtigungen für die Fortsetzung der Bildungskarriere.

Demgegenüber scheint mir die (auch noch juristische) Klage von Lehrern, die vielleicht ein paar kritische Bewertungen bei spickmich.de hinnehmen müssen, die für sie außer dem Peinlichkeitsgefühl keine weiteren Folgen haben, lächerlich. Wahrscheinlich kommt der Lehrer durch eine schlechte Bewertung bei spickmich.de nicht gerade dazu, seinen Unterricht zu verbessern. Es ist auch nicht zu erwarten, dass er anlässlich der eigenen Beschämung mehr Empathie für seine Schüler aufbrächte, die er täglich kritisiert, bewertet, beurteilt und beschämt. Aber dass bei der Bewertung von Leistungen und Persönlichkeiten in der Schule mit zweierlei Maß gemessen, und dieses Mißverhältnis zur öffentlichen Diskussion geworden ist, das ist auch ein Verdienst von spickmich.de.

Mittwoch, 9. Januar 2008

Kunstwerke über den Holocaust

Nirgendwo bin ich so empfindlich gegen schlechte Kunst wie bei der, die den Holocaust als Gegenstand hat.
Hier ein Beispiel der schlechtesten Art: Miami Memorial. Ein erlebnispädagogisches Grauen im Palmenhain.
Ich sammle Beispiele gelungener Kunst. Dazu gehören neben Arnold Schönberg, A Survivor from Warsaw, Imre Kertesz, Roman eines Schicksallosen, Peter Weiss, Die Ermittlung, und Art Spiegelman, Maus, auch der Film von Alain Resnais und Hanns Eisler, Nacht und Nebel. Den gibt es jetzt auch im Netz zu sehen: hier.
Danke, Christian, für den wertvollen Hinweis!

Montag, 17. Dezember 2007

Von der Seele geschrieben

hat sich auf den Nachdenkseiten eine Bremer Lehrerin ihre Frustration über die krassen Widersprüche, die die Lehrkräfte im System Schule heutzutage aushalten müssen - nicht nur in Bremen natürlich, sondern in der ganzen Republik. Ich gebe ihr Recht - in allen Aspekten, die sie an diesen Widersprüchen beschreibt. Ich fasse sie mal so zusammen:

Es gibt einen eklatanten Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer radikalen Neukonstruktion des Bildungssystems einerseits und der fehlenden Bereitschaft bzw. Fähigkeit eben dieses Systems zur Einsicht in diese Notwendigkeit und zur Überwindung von Veränderungsängsten, von Borniertheit und Milchmädchenrechenmentalität andererseits. Kurz: Es soll alles anders werden, aber es soll bitte gleichzeitig nicht weh tun, und möglichst alles so bleiben, wie es ist.
Wie schafft es ein System nur, so blöde zu sein?

Einige Antworten versucht die Bremer Kollegin, zusammengefasst lauten sie: Die Manager des Systems (Schulbehörde, Bildungspolitiker) wollen mit demselben Mechanismus - der administrativen Anweisung und Kontrolle von oben auf Deubel komm raus etwas erreichen, was mit diesem Instrument eben nicht zu erreichen ist: Die Herstellung - oder Wiederherstellung - des Vertrauens in und die Bereitschaft zur konstruktiven Mitwirkung an "unserer Demokratie". Vertrauen und Bereitschaft haben sich verflüchtigt - nicht nur bei den Schülern, die ihrer Schul- und Lernpflicht nicht nachkommen und sich weigern, sich auf ein Leben in dieser "unserer Demokratie" vorbereiten zu lassen.

Ich stimme der Kollegin unbedingt zu: Vertrauen sowie Bereitschaft und Fähigkeit zu kreativer Innovation sind nicht durch Anordnung, Druck, Kontrolle und Entmündigung herstellbar. Natürlich nicht. Aber was kann man denn tun als engagierter Lehrer, Schulleiter, Elternvertreter, wenn diese Dummbeutel da oben ihre Angst vor Kontrollverlust einfach nicht überwinden können - vielleicht die ganze "Leistungsträgerschaft" ab Gehaltsklasse B auf die Couch schicken?

Die Widersprüche erfahren und aufzeigen ist das eine. Das ist der Bremer Lehrerin gelungen. Aber man muß nicht dabei stehen bleiben - die Folgen wären Resignation, Burnout, Zynismus, eben all das Unglück, das auf dieser Stufe den Praktiker ereilen kann.
Daß man aber nicht immerfort den Kopf einziehen muss, wenn man sich die Nase an der Systemgrenze angeschlagen hat, sondern Spielräume finden, testen, erweitern kann, um nicht passives Opfer sondern aktiver Gestalter/Gestalterin zu werden, zeigt folgende Geschichte, die Schul-Um- und -Neugründerin Enja Riegel kürzlich erzählte:

Die Schule in Wiesbaden fand es pädagogisch sinnvoll, einen Theaterregisseur einzustellen. 'Kein Geld, gibts nicht, wo kämen wir denn da hin ... usw.' die Schulbehörde.
Die Schule fand es pädagogisch richtig, dass die Schüler ihre Räume selbst sauber halten anstatt ihren Dreck den Putzfrauen zu überlassen. 'Kommt nicht in Frage, die Putzfrauen müssen putzen, wo kämen wir denn da hin ... usw.' die Schulbehörde.
Die Schüler putzten trotzdem - wer hätte es verbieten können? - Die Putzfrauen hatten nichts mehr zu tun und meldeten das der Behörde, da war ja schließlich Geld zu sparen! Die Behörde erlaubte die Einsparung, nachdem sie sie begriffen hatte, es kam schließlich sogar im nächsten Jahr dazu, dass die Schule wenigstens einen Teil des Putzgeldes zur eigenen Verwendung erhielt ... natürlich wurde sofort davon endlich der Regisseur bezahlt ... usw.

Aber jetzt kommt der Clou: Der Schulrat wurde zur Theaterpremiere eingeladen - natürlich als VIP in die vorderste Reihe. Nach dem letzten Vorhang stellten sich die schauspielenden Schüler auf die Bühne, zeigten auf den Schulrat in der ersten Reihe und dankten ihm herzlich dafür , dass er diese tolle Theateraufführung möglich gemacht hat. Der Schulrat stutzte - war ihm doch bewusst, daß er im Gegenteil alles dazu getan hatte, sie zu verhindern. Nun: Durch die Wiederholungen dieses Vorgangs im nächsten und spätestens übernächsten Jahr hatte er sich so dran gewöhnt, sich als der Mäzen dieser Theaterereignisse fühlen zu dürfen, daß er tatsächlich davon überzeugt war, hinter dieser Innovation zu stehen. Und selbstverständlich ist seitdem Selbstputzen und einen Theaterregisseur in der Schule haben völlig konform mit den Systemregeln.

Eval'd Il'enkov machte deutlich, daß Geschichte als fortwährende Veränderung überhaupt nur möglich ist durch individuelle Abweichung vom Üblichen und Erlaubten :

"In der Realität geschieht es immer wieder, dass ein Phänomen, das später universell wird, ursprünglich als ein individuelles, partielles, spezifisches Phänomen, als eine Ausnahme von der Regel auftritt. Es kann tatsächlich nicht auf andere Art und Weise auftreten. Andernfalls wäre Geschichte [als Entwicklungsprozess] eine ziemlich mysteriöse Angelegenheit. Darum taucht jeder neue Arbeitsfortschritt, jede neue Form menschlicher Handlung in der Produktion zuerst als eine gewisse Abweichung von den bisher akzeptierten und kodifizierten Normen auf, ehe sie allgemein akzeptiert und anerkannt wird. Nachdem die neue Form als eine individuelle Ausnahme von der Regel in der Arbeit eines oder mehrerer Menschen aufgetaucht ist, wird sie dann von anderen übernommen und wird mit der Zeit eine neue universelle Norm. Wenn die neue Norm ursprünglich nicht exakt auf diese Weise in Erscheinung träte, würde sie niemals eine wirklich universelle Form werden, sondern lediglich in der Fantasie, im Wunschdenken existieren."
(Eval'd Il'enkov, The dialectics of the abstract and the concrete in Marx's 'Capital'. Moskau 1982, S. 83f, Übersetzung aus dem Englischen LR)

Mittwoch, 12. Dezember 2007

Schulreform - worauf es ankommt

And remember: without data you are just another person with an opinion", sagt uns Andreas Schleicher zum Abschluss seiner hoch aufschlussreichen .ppt PISA-verstehen_Motivation_Kontext_Interpretation-der-Ergebnisse- (ppt, 2,635 KB).
In der Tat - bloß Vermutungen oder "gefühlte" Praxiserfahrung reichen nicht zur Definition der Transformationsaufgaben - von irgendwelchen ideologischen Beschränkungen der Analyse- und Interpretationsfähigkeit mal ganz abgesehen.

Eine zweite wichtige datengestützte Untersuchung ist die von McKinsey zur Identifikation der wichtigsten Merkmale, die zu hoher und höchster Leistung eines Schulsystems führen: How the world's best-performing school systems come out on top.
Nicht jeder kann es sich erlauben, sich genüsslich durch die 59 Seiten zu arbeiten. Drum habe ich für interne Arbeitszusammenhänge der Lehrerfortbildung eine kleine Zusammenfassung der wichtigsten Befunde auf Deutsch gemacht. Nur gut 3 Seiten und vielleicht auch für andere interessant -

Zusammenfassung1 (doc, 43 KB)

Montag, 3. Dezember 2007

Ist das normal?

Fänden Sie es normal, an einem Tisch mit einem überführten Massenmörder zu sitzen, anstatt ihn aus dem Haus zu werfen und ihn der Polizei auszuliefern? Natürlich nicht.

Fänden Sie es empörend, wenn die Nachfahren der Opfer immer wieder auf die nichtbestraften Täter zeigen und Bestrafung und Restitution verlangen, anstatt endlich Ruhe zu geben und die Hand zur Versöhnung auszustrecken? Natürlich nicht.

Beides ist in unserem Land jedoch normal. Hier nur ein aktuelles Beispiel, stellvertretend für viele:

Anlässlich einer Demonstration von „Antifaschistischen Gruppen“, die am Samstag vor die Haustüren zweier in Italien des Massenmords überführten deutschen Männer gezogen waren, titelt die taz heute: Die netten Opas bekommen Besuch.

„Gerhard S. war Untersturmführer der 16. SS-Division „Reichsführer SS“. Er wurde 2005 zusammen mit neun weiteren Angeklagten von dem italienischen Militärgericht La Spezia des „fortgesetzten Mordes mit besonderer Grausamkeit“ schuldig gesprochen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass S. an der Tötung von 560 Einwohnern des Bergdorfes Sant’Anna di Stazzema am 12 August 1944 beteiligt war. Ein Revisionsantrag wurde abgelehnt. Der 86-Jährige lebt heute in einer Seniorenresidenz in Hamburg. Er behauptet bis heute, bei dem Massaker nicht dabei gewesen zu sein.“

Italienisches Fehlurteil? „Siegerjustiz?“ Wahrscheinlich bloß, um wieder Geld aus Deutschland rauszuleiern???? Hm.

Weiter in der taz: „Knapp zwei Monate nach dem Massaker in Civitella fiel die 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“, deren 4. Kompanie S. anführte in Sant’Anna di Stazzema ein. Binnen vier Stunden hatte die SS 440 Männer und Frauen sowie 120 Kinder erschlagen, erschossen oder verbrannt...“
„S. selbst beteuert bis heute seine Unschuld, sagt, er habe ein ‚absolut reines Gewissen‘... Auch die juristischen Ermittlungen gegen S. treten auf der Stelle. ‚Kein neuer Stand‘, sagt eine Sprecherin der für den ‚Komplex St’Anna‘ zuständigen Staatsanwaltschaft Stuttgart. Seit 2002 ermittelt sie gegen 15 Personen. ‚Wir müssen dem einzelnen die Tatmerkmale Mord nachweisen – objektiv und subjektiv‘“

Aha, jedem einzelnen einer Mordtruppe. Nur dabeigewesen, sogar Kommandeur einer Untereinheit gewesen zu sein, reicht nicht.

Die deutsche Regierung hatte sich gleich nach Gründung der Bundesrepublik sehr darum bemüht, eine schnelle Generalamnestie der Täter zu erreichen. Ganz so einfach ging es zwar nicht. Trotzdem war es überhaupt nicht selbstverständlich, daß 1965 endlich nach jahrelangem Kampf der Befürworter der Täterbestrafung mit einer bedeutenden Anzahl von Gegenstimmen (vorwiegend aus der CDU) im Bundestag das Gesetz zur Nichtverjährbarkeit von NS-Verbrechen verabschiedet werden konnte, das die lebenslange Strafverfolgung von NS-Tätern ermöglichte. Gebunden ist die Strafverfolgung jedoch an die „Tatmerkmale Mord“ – und das meint vor allem: „aus niederen Beweggründen“. Selbst wenn die direkte Beteiligung nachgewiesen ist, so sind häufig bei den Nazitätern eben keine „niederen Beweggründe“ nachzuweisen – oder jedenfalls fällt es der deutschen Justiz immens schwer. Mord liegt nämlich nur vor, wenn aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder anderen niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, getötet wurde. Tja, aber weisen Sie mal eines dieser Motive nach in einer Truppe von Kriegern!

Weiter in der taz: „Enio Mancini vom ‚Verein der Opfer von St’Anna‘ weist die Behauptung, eine konkrete Tatbeteiligung von S. sei nicht nachweisbar, zurück. Das habe sich während des italienischen Gerichtsverfahrens herausgestellt. Gegenüber den Alliierten hatten Angehörige seiner Kompanie bezeugt, S. habe den Schießbefehl erteilt ...“
Alles das reicht für die deutsche Justiz nicht.

Die VVN/BdA NRW fragte in Stuttgart an. Sie bekam folgende Antwort:

Für eine Anklageerhebung reicht die Beweislage bislang vorbehaltlich möglicher weiterer Erkenntnisse bei keinem der Beschuldigten [15 noch lebende Angehörige der Einheit] aus. Ein Verbrechen des Totschlags wäre nach deutschem Recht seit langem verjährt. Deshalb kann die Staatsanwaltschaft die Täter ausschließlich wegen Mordes oder wegen Beihilfe zum Mord verfolgen. Eine entsprechende Verurteilung setzt aber nach den Regelungen des deutschen Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung voraus, dass jedem Beschuldigten über seine konkrete Beteiligung an der Tat hinaus auch ein Mordmerkmal nachgewiesen werden kann. Allein die Zugehörigkeit einer Person zu den in Sant'Anna di Stazzema eingesetzten Einheiten der Waffen SS kann den individuellen Schuldnachweis nicht ersetzen. Nach deutschem Recht muss in Bezug auf jeden einzelnen Beschuldigten festgestellt und belegt werden, dass und in welcher Form er bei dem Massaker beteiligt war und dass er persönlich, sowohl objektiv wie subjektiv, entweder grausam oder mit niedrigen Beweggründen gehandelt hat.“

Was bedeutet denn dabei "subjektiv" im Gegensatz zu "objektiv"? Daß er sich selbst als grausam oder niedrigbeweggründet erlebt haben muß?

Also war es wohl wieder keiner gewesen – es war bloß wieder das Kollektiv insgesamt. Keine Einzeltäter, keine Schuld, keine Verurteilung, keine Bestrafung.

Und dann mal ganz abgesehen von der hochoffiziellen Verweigerung von Restitution an den Opfern des Massakers ... in Distomo etwa, um wieder nur ein Beispiel von vielen zu nennen.

Sehen Sie, und daß da irgendetwas faul daran ist, daß da mit so überaus rechtstaatlichen Mitteln immer noch eine alte Kumpanei spürbar wird, die Kumpanei mit den Massenmördern als Individuen, während andererseits eben jenes Morden allgemein immerfort öffentlich laut verurteilt, und dessen Opfer insgesamt und als Kollektiv ständig ritualisiert von den Repräsentanten der Täternachfahrengesellschaft „betrauert“ werden, das finde ich einfach nicht normal. Und neben unbestraften Tätern einherlebend werden wir hier auch nicht normal. Und wenn der letzte unbestraft unter uns lebende Täter in hohem Alter beim Heckenschneiden im Garten seines Reihenhauses - sagen wir beispielsweise in Bielefeld -, bezahlt mit seiner Kriegerpension, oder wenn er bei der Waffen-SS gewesen, mit Spendenmitteln der HIAG, endlich von der Leiter gefallen ist, dann haben wir auch gar keine Chance mehr, wenigstens am letzten lebenden Fall noch etwas in Ordnung zu bringen. Dann haben wir die letzte Chance vertan, normal zu werden.
Solche bösen Gedanken kommen mir immer, wenn ich durch den momumentalen most exciting tourist sightseeing point of the Hauptstadt gehe.

Freitag, 19. Oktober 2007

Die Eva, der Johannes und die Deutschen

Leider gab es den erfrischenden Artikel im aktuellen Stern über die Herman, den Kerner und die Deutschen nicht online, weil er der Titel ist, und so muß man den Stern mal wieder kaufen. Aber er ist wirklich gut: "Eva in der Nazifalle", von Stefan Schmitz. Da stehen solche Sätze drin, wie:

"Aber ist es richtig, dass vor den Fernsehern Millionen Zuschauer sitzen, die denken, was man im Fernsehen nicht sagen darf? Natürlich nicht. Eine einfache Regel würde weiterhelfen: Volksverhetzer muss man bekämpfen, Ahnungslose informieren." Und:

"Wenn sich die Klassensprecher der Ahnungslosen melden, sollen sie reden. Auch Falsches und schwer Erträgliches. Das nervt. Aber wir müssen ihnen antworten, statt sie rauszuschmeißen."

Richtig! Aber trotzdem: Was für ein Armutszeugnis für 50 Jahre Geschichtsunterricht nach Auschwitz durch Massenmedien und Schule, daß solche einfachen Fakten wie die Bedeutung der Autobahn, die Ursachen für die drastische Verringerung der Arbeitslosigkeit, und die Wahrheit über Mutterglück und Familienpolitik im NS-Staat von 20% der Deutschen heute nicht gewußt sind! Entweder lernt man in Deutschland gaaaaanz langsam, oder man hat ein furchtbar schlechtes Gedächtnis, oder irgendetwas stimmt nicht mit den Lehranstalten oder mit der Lehre.

Dienstag, 9. Oktober 2007

Zivilcourage

Aufgrund hoher gesellschaftlicher Dringlichkeit veranstaltet das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg am Vorabend des 9. November einen "Demokratietag" zum Thema Zivilcourage.
Dabei wird es einerseits (am 7.11.) um Analyse und Debatte gehen - was ist Zivilcourage, unter welchen Bedingungen gibt es sie oder nicht? Harald Welzer hält einen Vortrag zum Thema, und es ist reichlich Zeit zur Diskussion eingeplant.
Andererseits geht es in einem Lehrerbildungsinsititut natürlich immer auch um Schule, Schüler und didaktische Fragen. Am zweiten Tag (8.11.) findet darum ein Nachmittag und Abend mit Workshops statt, in denen Fallbeispiele aus der Schulpraxis vorgestellt und diskutiert werden, und es wird reichlich Gelegenheit zum informellen Erfahrungsaustausch geben.

Einladung-Demokratietag (pdf, 54 KB)
Bild: Ivan Montero / fotolia

shift.

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