Freitag, 12. September 2008

Transformation des Schulsystems

Wieviel Veränderung ist nötig? - Reicht es, das gegliederte Schulwesen durch Zusammenlegung um ein, zwei "Glieder" zu mäßigen? Oder hilft nur die radikale Wende zur Einheitsschule/Einer Schule für Alle als Regelschule?

Welche Elemente müssen verändert werden? - Reicht es, die äußere Schulstruktur zu verändern, und alles andere bleibt beim Alten oder ruckelt sich zurecht? - Oder muß ein Masterplan her, der von Reformbeginn an das gesamte System inklusive Lehrerrolle, Lernkultur, Schulkultur transformiert?

Welche Veränderungsstrategie wird zum Erfolg führen? - Eine vorsichtige mehrstufige, die zunächst Haupt- und Realschule zusammenfasst, danach alle nichtgymnasialen Sekundarschulen mit den HR-Schulen zusammenlegt, und - vielleicht! - in einem dritten Schritt diese Regionalschule irgendwann mit dem Gymnasium fusioniert? - Oder eine radikale Ersetzung des gegliederten Systems (inklusive der Sonderschule!) durch die Eine Schule für Alle in einem Schritt?

Im Unterschied zum finnischen Modell der radikalen und mit einem vernünftigen Gesamtkonzept ausgerüsteten Transformation, scheint es hierzulande immer gerade nur so viel Teilveränderung zu geben, wie als unbedingt nötig und nicht mehr vermeidbar empfunden wird.

In Berlin will der SPD-Bildungssenator Zöllner jetzt ein ähnliches Strukturveränderungsmodell einführen, wie in Hamburg die schwarz-grüne Koalition: Das zweigliedrige Schulwesen - eigentlich immer noch dreigliedrig, weil die Sonder- bzw. Förderschule außen vor bleibt.

Im Bildungsinfo von Georg Lind fand ich dazu heute folgenden Kommentar, dem ich uneingeschränkt zustimme:

"Das zweiteilige Schulsystem liegt momentan im Trend, ist aber nicht der Weisheit letzter Schluss! Irgendwann muss die Gesamt- oder Einheitsschule her.
Für die zweiteilige Schule spricht:
Andere Bundesländer (Hamburg) haben das schon getan oder werden es sicher bald tun (müssen), weil den Hauptschulen die Schüler ausgehen.
Alle Kinder bekommen zehn Jahre Schule garantiert und eine reelle Chance, später einmal Abitur zu machen.
Die größeren Einheiten (mindestens vierzügig) und der Ganztagsbetrieb öffnet pädagogisch kompetenten und lernwilligen Lehrerkollegien viele Möglichkeiten, ein attraktives und vielfältiges Lernangebot für Kinder aus diversen Milieus zu basteln
Das Sitzenbleiben ist abgeschafft! Die hohen Kosten fürs Sitzenbleiben werden sinnvoller für pädagogische Fördermaßnahmen eingesetzt und
nicht zuletzt werden die ewig-gestrigen Gymnasialideologen unter den Eltern und Lehrern nicht vergrätzt. Für sie bleibt alles beim alten. (Wenn sie das mal nicht bald bereuen!)
Dennoch bleiben viele Fragen offen und gibt es erhebliche Risiken für diese Politik:
Bestehende Gesamtschulen in Berlin und Hamburg, so scheint es, werden auf kaltem Weg abgeschafft. Sie, die sie immer für eine demokratische Schule für alle Kinder gekämpft haben, müssen sich vermutlich jetzt entscheiden, ob sie Fisch oder Fleisch, Gymnasium oder "Regional"-Schule sein wollen.
Die Entwicklung zur demokratischen Schule für alle könnte mit dieser Zwischenreform auf ewig verschoben werden. Wir wären dann immer noch eines der ganz wenigen zivilisierten Ländern mit einem Apartheid-System im Bildungsbereich.
Was mit den Sonderschulen geschehen soll, wird nicht berichtet. Es besteht die Gefahr, dass sie nach wie vor als Ventil "nach unten" auf der Bildungsleiter funktionieren werden.
Kein Wort über die notwendigen neuen pädagogischen Konzepte (Umgang mit Heterogenität, individuelle Förderung, Offener Unterricht etc.), die eine solche Reform begleiten müssen, und auch kein Wort über die notwendige inhaltlichen (!) Reformanstrengungen in der Lehrerbildung, ohne die das Ganze scheitern wird. In großen Schulen mit einer heterogenen Schülerschaft, werden pädagogische Inkompetenz und schlechte Lehrerbildung gnadenlos aufgedeckt. Leider werden die Folgen solcher Planlosigkeit wieder nur die Kinder und Lehrer zu spüren bekommen. Medien und Politiker können den Zusammenhang meist nicht wahrnehmen.
GL"


In Hamburg gibt es Anstrengungen, in der Lehrer(fort)bildung die nötigen Veränderungen in Gang zu setzen. Die Haupt-Stichworte heißen hier Individualisierung und Kompetenzorientierung. Was das aber genau in der Praxis bedeutet, d.h. wie die Lehrer individualisiert und kompetenzorientiert ihre Fächer unterrichten können, ist noch ziemlich unklar. Der erste wichtige Schritt wäre also, diese Ungewissheit, wie die Neue Lernkultur denn aussieht, nicht zu vertuschen, sondern offen zu bekennen. Dann hat man nämlich die Chance, zu sehen, wieviel Experiment, wieviel "Werkstattarbeit" nötig ist, um das Neue Lernen zu entwickeln. Und dann könnte man auch erkennen, daß Experimentieren und "Werkstatt" bzw. "Labor" tatsächlich schon wichtige Begriffe eben dieser Neuen Lernkultur selbst sind!

Donnerstag, 28. August 2008

Altes Lernen mit Neuen Medien?

Wir leben in einer Übergangsgesellschaft. Die Wissensgesellschaft, in der die wichtigsten Veränderungsprozesse im Gefolge der Durchsetzung des Internets als Leitmedium stattgefunden haben, ist erst noch auf dem Weg ... Bis dahin gibt es noch viel Altes im Neuen. Um es genauer zu sagen: Das Alte hat seinen neuen Platz häufig noch nicht gefunden.

So muss man immer wieder feststellen, dass viele Ansätze, mit den Neuen Medien in der pädagogischen Praxis zu arbeiten, versuchen, die traditionelle Art des Lernens mit dem Focus auf die Seite des Lehrens (= Unterrichtskonzept) beizubehalten, indem sie diese einfach mit neuen Medien (verstanden bloß als Instrumente) statt mit den alten praktizieren. Immer noch sind elearning-Konzepte häufig instruktivistisch angelegt. Auch in Anwendungsvorschlägen für die Arbeit mit Blogs im Unterricht wird das neue Medium häufig im Wesentlichen bloß als neues Instrument gesehen, das ein altes ersetzt. (Das Problem, daß ein neues Leitmedium eine neue Lernkultur zugleich provoziert und erfordert, diese jedoch erst noch entwickelt werden muss, war übrigens zu Beginn der Buchgesellschaft genauso: Da wurden z.B. im Unterricht keine neuen Bücher mit neuen Inhalten gelesen, sondern es wurde erst der Katechismus vom Lehrer vorgesprochen, von den Schülern auswendig gelernt durch Nach- und Mitsprechen, und erst danach (!) durften die Schüler im Katechismus nachlesen, was sie schon auswendig kannten.) Analog mit einem Alt-Neu-Problem behaftet sehe ich solche Unterrichtsvorschläge wie z.B. Norbertos Umgang mit Weblogs im Unterricht.
Der Lehrer steuert weiterhin den Unterricht und sein Steuerungstool ist jetzt ein Blog statt einer Wandtafel.
Altes Lernen mit Neuen Medien!
Ich stelle mir unter der neuen Lernkultur etwas ganz anderes vor.
(Mehr dazu demnächst, wenn ich vom adz-netzwerkkongress zurück bin, wo ich auch einen Beitrag zum Thema "Neues Lernen mit Medien" zur Diskussion stellen darf.)

Jetzt möchte ich auf einen interessanten Fund hinweisen, der nicht zum ersten Mal klarmacht, dass in angelsächsischen Ländern schon weit mehr Erfahrungen mit Neuen Medien auf dem Weg in eine (neue) Lernkultur gemacht wurden. Wir sollten uns daher nicht auf die deutschsprachigen Erfahrungen beschränken!

Über 10.000 Mitglieder aus vielen Ländern hat das Netzwerk Classroom 2.0 Hier knüpfen Praktiker und Wissenschaftler, "interested in Web 2.0 and collaborative technologies in education", Kontakte, tauschen Erfahrungen und Material aus und diskutieren in verschiedenen Themengruppen. Neben der Globalität des Netzwerks finde ich besonders interessant, dass es nicht bloß um Unterrichtstechnologie geht (wie häufig bei uns in den Praxisrezepten!) - nämlich darum, wie man methodisch das neue Ding in den alten Unterricht hineinkriegt - , sondern dass hier auch auf lerntheoretischer und allgemein-didaktischer Ebene diskutiert wird. Es gibt beispielsweise eine Gruppe, die sich mit Deweys Ideen (und Erfahrungen) der demokratischen Schule und des Projektlernens beschäftigt. Natürlich in Bezug auf das neue Leitmedium und insbesondere in Bezug auf Web 2.0

Ich habe mich angemeldet und werde mich dort mal genauer umsehen!

Mittwoch, 20. August 2008

Den Geschichtsunterricht neu denken

Geschichtslehrer, die davon überzeugt sind, dass ihre Schüler nach ihrem Unterricht tatsächlich das Geschichtswissen und Geschichtsbewusstsein erworben haben und historisch denken gelernt haben, so wie es den Geschichtslehrern selbst vorgeschwebt hat, brauchen hier nicht weiterzulesen.
Diejenigen jedoch, denen bisweilen schwant, dass die Ergebnisse ihres Unterrichts nicht befriedigend sind, oder die sich häufiger darüber ärgern, dass bei den Schülern wenig von dem hängen geblieben ist, was sie unterrichtet haben, und die noch hoffen, dass da doch mehr möglich sein könnte, damit ihnen ihre Unterrichtsarbeit nicht für den Rest ihres Arbeitslebens als sinnlos erscheinen muss, diese Geschichtslehrer also sollten unbedingt das neue Buch von Bodo von Borries lesen: Historisch Denken Lernen - Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe.

Von Borries führt den Leser in seiner Geschichtsdidaktik - eigentlich eine Sammlung von Einzelaufsätzen, die jedoch überzeugend zu einem Ganzen integriert sind - von der ungeschminkten Beschreibung der "Krisenlage" des Geschichtsunterrichts über die Kritik der deutschen Geschichtsdidaktik zu dem überzeugenden Entwurf einer zeitgemäßen geschichtsdidaktischen Konzeption, deren Ziel ist, die Schüler zu befähigen, am öffentlichen Geschichtsdiskurs kompetent zu partizipieren.

Eine Fachdidaktik ist keine Handreichung mit Unterrichtsrezepten, die man gleich morgen früh in der 8a anwenden kann. Auf der Ebene der Rezepte ist die Lösung des Problems, Geschichtsunterricht endlich effektiv, sinnvoll und nützlich für die Schüler - und damit auch befriedigend und sinnvoll für die Lehrer! - zu machen, aber auch nicht zu haben. Aus einem Hamsterrad kommt man schließlich auch nicht heraus, indem man den nächsten Schritt im Hamsterrad neu, richtiger oder schöner tut als bisher, sondern nur, indem man den nächsten Schritt aus dem Hamsterrad hinaus tut, Distanz nimmt und sich das Rad mal von außen betrachtet. Soviel Zeit muss sein!
Umso erfreulicher, dass die Lektüre so viel konkrete Praxisnähe beschert, dass man - wenn auch natürlich nicht eine Anleitung für die praktische Neugestaltung des gesamten Unterrichts - trotzdem über die Beschreibung, wo es denn lang gehen müsste, hinaus eine Menge an Anregungen erhält, wie man die eigene Praxis konkret schon verändern könnte, ohne dabei gleich die Schule neu zu entwerfen.

Schade nur, dass von Borries selbst genau da Halt macht, wo - konsequent seine fachdidaktischen Erkenntnisse weitergedacht - die Schule tatsächlich neu gedacht werden muss. Der Erwerb von Geschichtskompetenzen, die an Multiperspektivität und "Lebensweltbezug" und am persönlichen Sinn der Schüler orientiert sein müssen, lässt sich nur schwer in 2 x 45 Minuten pro Woche im Klassenzimmer realisieren. Borries hat da offenbar selbst einen blinden Fleck im historischen Denken, wenn er schreibt:

"Welche Anhaltspunkte haben wir eigentlich dafür, dass Schule künftig etwas anderes werden könnte, als sie - für Eliten - viertausend Jahre und - für alle - hundertfünfzig Jahre lang war, eben "Schule" als Zwangsanstalt?"

Denn mit einem Begriff, der weiter gefasst ist als der der Schule, nämlich mit dem Begriff "Lernen" als Grundkategorie könnte man die Schule selbst historisieren. Nicht immer war Lernen als Lernen in Schule (als Zwangsanstalt) konkret-historisch organisiert. Und wie es aussieht, verliert diese Lernorganisation auf dem Weg in die Wissensgesellschaft ihre Monopolstellung. Lernen, Wissensgenerierung, verlagert sich z.B. zunehmend vom Formellen ins Informelle. Das zwingt die Schule zur Neukonzeptionierung ihrer selbst. (Einen spannenden Überblick über die Geschichte des Lernens von der Antike bis heute findet man z.B. bei Bernd Fichtner in seinem Buch Lernen und Lerntätigkeit.)
Schade also, dass von Borries Didaktik nur begrenzt im Rahmen und für den Rahmen der Schule, so wie sie gerade ist, Geschichtslernen konzeptualisiert. Damit fehlt ihr die Möglichkeit, über den eigenen historischen Zaun zu blicken, mithin auch die Möglichkeit, die eigenen Visionen realisierbar, umsetzbar zu machen, die sich nämlich jenseits dieses Zauns befinden.

Montag, 18. August 2008

Der Fall Czerny und die schulische Notengebung

Die Abstrafung der Lehrerin Czerny dafür, dass sie ihre Schüler zu besseren Leistungen geführt hat, als allgemein üblich, ist schon eine besondere Absurdität des deutschen - hier bayerischen - Schulwesens. Mit der Strafversetzung wurde versucht, ein Defekt im Schulwesen selbst zu verdecken: Die Unsinnigkeit der Benotung von Schülerleistungen nach dem Prinzip der Gaußschen Normalverteilung. Die sogenannte Glockenkurve ergibt sich bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeitsverteilung bestimmter Merkmale einer großen Population. Hier wird z.B. die Normalverteilung von IQ-Werten gemessen:

Gausssche-Normalverteilung

Die meisten Menschen haben demnach einen IQ um 100, wenige deutlich darunter, wenige deutlich darüber, so kann man der Grafik entnehmen. Daß sich hinter diesem "Befund" jedoch die zirkelhafte Bestätigung dessen verbirgt, was zuvor unhinterfragt angenommen wurde, wird meistens übersehen: Denn der Wert 100 wurde gesetzt aus der Erhebung dessen, was die meisten Probanden bei einem IQ-Test eben zum Zeitpunkt der Tests zu leisten vermochten. Die Setzung heißt: Normal ist, was die meisten jetzt haben, können, tun ... Kein Platz für Entwicklung, weder für das Individuum noch für ein Bildungswesen oder für die Intelligenz einer ganzen Gesellschaft. Denn das Normale ist eben das konkret historisch Mittelmäßige. In Zensuren für Schulleistungen ausgedrückt: eine 3 ("befriedigend"). Herausragende Leistungen sind selten. Eben, sie können gar nicht anders, weil sie ja als selten herausragend aus dem Mittelmaß definiert sind. Dann ist das, was sich an konkreter Leistung hinter dem Herausragenden verbirgt, eben auch unter gar keinen Umständen für viele oder gar alle erreichbar. Man sieht: Per Zirkelschluß wird das historisch-konkrete Mittelmaß für die Lernleistungsfähigkeit einer Population festgeschrieben. Daß es möglicherweise ganz andere Ursachen als Naturgesetze sind, nämlich gesellschaftliche (also historisch-soziale) Faktorenbündel, die die Mehrheit einer Gesellschaft auf diesem mittelmäßigen Lernniveau fixiert, kann nun schon gar nicht mehr auch nur in Erwägung gezogen werden. Und erst Recht ist nicht erklärbar der Leistungs-Rückgang einer ganzen Gesellschaft: Früher waren wir doch mal ganz vorne! Oder nicht?

Völlig unwissenschaftlich ist außerdem die Vorstellung, in einer Population von 30 Individuen (also einer Schulklasse), könne das Gaußsche Normalverteilungsgesetz zur Anwendung gebracht werden, denn eine solche Zahl ist viel zu klein. In der jeweiligen Klasse müssten Tausende von Kindern sitzen, um die Normalverteilung - wenn überhaupt - als Kontrollinstrument korrekter Leistungsmessung in Erwägung ziehen zu dürfen!
Trotzdem wird unermüdlich die Mär von der objektiven Normalverteilung in der Notengebungspraxis der Schule erzählt. Wenn die Lehrerin also "zuviele" Einser und "zuwenige" Dreier verteilt hat, dann hat sie also gewiß "zu gut" benotet und muß zu strengerer Bewertung angehalten werden. Ich selbst habe das in meiner Referendarsausbildung so gelernt und in meiner Schulpraxis immer wieder so erfahren: Wenn die Ergebnisse einer Klassenarbeit nicht mit der Normalverteilung übereinstimmen, dann ist die Arbeit "zu leicht" oder die Zensurengebung "zu lasch" gewesen und umgekehrt. Und was macht man dann als Lehrerin? Man verschiebt einfach die Anforderungskriterien für den Mittelwert: Und schon ist das Problem kosmetisch behoben. Vorausgesetzt wird dabei natürlich immer, daß die Lehrerin mit "korrektem" Unterricht den "Einser-Schülern" die Möglichkeit gegeben hat, "ihre" 1 zu schreiben, der Masse der Klasse die Möglichkeit, eine 3 oder eine 4, und der Handvoll Schüler - die es in jeder Klasse geben MUSS! -, die nicht lernen wollen oder angeblich von ihren "Anlagen" her überfordert sind, folgerichtig "ihre" 5 oder "ihre" 6 bekommen dürfen. Jedem das Seine also.
Das ist natürlich alles vollkommener Kokolores.
Die Lehrerin Czerny hat es an den Ergebnissen in Vergleichsarbeiten praktisch bewiesen: Alle können mehr als das heutige Mittelmaß werden, wenn man es ihnen überhaupt erst mal zutrauen würde! Und wenn man ihnen dann mit einem an diese Vorstellung von der Lern- und Leistungspotenz aller Menschen angepassten professionellen fördernden Unterricht anbietet.
Warum sind Genies bisher so überaus selten? Weil es nach der Normalverteilung eben grundsätzlich nicht mehr davon geben kann? Oder kann man sich vielleicht doch andere Gründe vorstellen?
Die Finnen haben es vorgemacht. Dort erreichen fast 80 % eines Jahrgangs die Hochschulreife. Bei uns sind es unter 40 %. Kein Wunder, denn die Normalverteilung erlaubt bei uns nicht mehr. Also weg mit dem Quatsch!

Warum also wird die Lehrerin, die diesen Quatsch mit ihren guten Praxisergebnissen aufgedeckt hat, von der Bildungsobrigkeit abgestraft anstatt als gutes Vorbild gefeiert und im Amt befördert?
Weil sie damit nicht nur die Zirkel-Notengebung entlarvt hat, sondern zugleich das eisern verteidigte selektierende Schulsystem als Lernbremse. Es scheint aus welchem mir nicht verständlichen Sinne auch immer - zumindest in Bayern - unbedingt dabei bleiben zu müssen: Die Deutschen sind und bleiben bildungsmäßig Mittelmaß. Nur wenige sind auserwählt. Das zeigt ja schon die Normalverteilung.

Donnerstag, 7. August 2008

Das Dilemma der deutschen Lehrer

Marianne Demmer hat in einen bemerkenswerten Aufsatz die Widersprüche des deutschen Schulsystems beschrieben, die die Verwirklichung des Rechts auf Bildung verhindern und Lehrerinnen und Lehrer vor ein für sie individuell unlösbares Dilemma stellen, unter dem vor allem engagierte Lehrer und Lehrerinnen leiden. "Verwirklichung des Rechts auf Bildung: Die schwierige Rolle der Pädagogen und Pädagoginnen", in: Overwien, Bernd und Hannelore Prengel (Hgg.): Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland, Opladen und Farmington Hills 2007, S. 157-179
In ihrer Analyse wird ausführlich erläutert, was der UN-Sonderberichterstatter Munoz in seinem Bericht zusammenfassend so erklärt: "Wir haben wahrgenommen, dass die Erwartungen an die Lehrkräfte in vielen Fällen ihre realen Gestaltungsmöglichkeiten übersteigen."

Demmer führt dazu aus:

"Diese Feststellung des UN-Sonderberichterstatters Munoz bezeichnet das Dilemma eines Bildungssystems, das auf einer widersprüchlichen Bildungsphilosophie beruht und frühe Selektion und individuelle Förderung zu verbinden trachtet."
"Lehrerinnen und Lehrer müssen ihren Beruf in einem Schulsystem ausüben, das es ihnen nahezu unmöglich macht, sich ausschließlich und bedingungslos am Wohl des Kindes zu orientieren. Sie sind vielmehr ständig gezwungen, ihr pädagogisches Handeln mit den Anforderungen eines Systems in Übereinstimmung zu bringen, das nicht auf Inklusion sondern auf 'Aufteilung als Bildungsstrategie' ausgerichtet ist. Wo Homogenisierung durch Klassenwiederholung und Aufteilung in verschiedene Schulformen bereits als 'begabungsgerechtes Förder-Instrumentarium' deklariert wird, fehlen dementsprechend Unterstützungssysteme für die individuelle Förderung ohne Aussonderung."


Die Bildungspolitik setzt statt Analyse des Gesamtsystems und Identifizierung der komplexen Problemlage auf monokausale Erklärung des Problems: Die Lehrer sollen individuell kompensierend in Ordnung bringen, was systembedingt nicht gelingen kann:

"Die verantwortlichen Politiker nehmen mehrheitlich nicht zur Kenntnis, dass das deutsche Bildungssystem der umfassenden Verwirklichung des Rechts auf Bildung aus strukturellen Gründen entgegensteht. Sie versuchen den Eindruck zu erwecken, in Deutschland werde das Recht auf Bildung durch ein 'begabungsgerechtes Schulsystem' umfassend gewährt. Sie sind mehrheitlich zu einer ehrlichen Analyse der Gründe und Ursachen für Ungerechtigkeit, Benachteiligung und Diskriminierung im und durch das Bildungssystem nicht bereit. Sie versuchen vielmehr, das traditionelle Bildungswesen trotz sich mehrender gegenläufiger empirischer Befunde als reformierbar und in Übereinstimmung mit dem Recht auf Bildung im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention darzustellen. folgerichtig werden Mängel, die das System erzeugt, dem pädagogischen Personal angelastet. Entsprechend wird dann auch von den Pädagoginnen und Pädagogen die Beseitigung der Mängel verlangt und erwartet."

Konsequenterweise fordert Marianne Demmer, endlich in Deutschland die Geisterfahrt des selektierenden Schulwesens aufzugeben und - wie es in (fast) allen Ländern schon längst geschehen ist – auf ein mindestens neunjähriges gemeinsames Lernen für Alle umzustellen, ob die Institution, in der dies geschieht, nun Einheitsschule, Gemeinschaftsschule, Stadtteilschule, Eine Schule für Alle, oder einfach Schule geheißen wird.

Der ganze Aufsatz: Demmer-2007_kinderrecht-auf-Bildung_Munoz_Bericht (pdf, 798 KB)

Ich höre schon die altbekannten Einwände:
1. Die äußere Schulstruktur zu ändern, verbessert die Lernergebnisse nicht. 2. Es gäbe auch erfolgreiche Bildungssysteme mit selektierender Struktur.
Der zweite Einwand ist schnell beantwortet: Alle hoch erfolgreichen Schulsysteme sind Gemeinschaftsschulsysteme. (Nachzusehen bei PISA-verstehen_Motivation_Kontext_Interpretation-der-Ergebnisse- (ppt, 2,635 KB)).
Zum ersten Einwand: Ja. Ein einziges Element in einem dysfunktionalen System zu verändern, verbessert nicht nur nicht automatisch das System, sondern vermutlich gar nicht. Nun ist die äußere Differenzierung nicht bloß ein Element, sondern der Rahmen des ganzen Systems, der seinerseits eine lange Reihe weiterer Elemente determiniert. Und selbstverständlich ist die Veränderung dieses strukturellen Rahmens nur die Voraussetzung dafür, dass das ganze System nachhaltig umgestaltet werden kann. Eine Reduktion der Klassenfrequenz alleine verbessert ja auch nicht automatisch den Unterricht. Aber auch hier wäre die Folgerung, die Anzahl der Schüler in der Klasse bzw. die Anzahl der Schüler eines Lehrers spiele dann also keine Rolle, ein fundamentaler Denkfehler. Immer wieder stößt man auf das hartnäckig sich äußernde Bedürfnis, komplexe Probleme monokausal zu erklären und zu lösen. Es sind jedoch komplexe Systeme, die radikal umgestaltet werden müssen, und dies geht nur mit einem Masterplan, der mit einem Bündel von aufeinander bezogenen Veränderungen auf eine systemische, polykausale Ursachendefinition von Problemen reagiert.
Als wichtigstes wäre neben einer radikalen Strukturreform dafür die Lehrerbildung zu nennen: Solange auch in der Lehrerausbildung im Wesentlichen doch noch immer die Vorstellung der Trichterpädagogik vorherrscht, ist die notwendige Neue Lernkultur nicht zu haben. Ein Kernstück der Lehrerausbildung müßte pädagogische Psychologie sein, die bisher – wenn überhaupt – nur am Rande vorkommt. In einer professionellen pädagogischen Ausbildung wäre von den angehenden Lehrern ausführlich zu lernen, wie der Mensch überhaupt lernt. Stattdessen wird meist nur gelernt, wie man heutzutage unterrichtet. Das eine hat mit dem anderen wenig zu tun.
Ebenso wichtig ist die Erkenntnis: Einen Tanker bei voller Fahrt zu wenden, ist äußerst schwierig. Um eine umfassende Neukonstruktion des Bildungswesens zu ermöglichen, sind darum hohe Investitionen aufzubringen, in erster Linie eine radikale Erhöhung der Personalressourcen, die für die notwendige Besinnung und Fortbildung des Personals unerlässlich ist. Wer 30 Stunden pro Woche unterrichten muss, kann nicht über sein Lernverständnis reflektieren, seine bisherigen Lehrstrategien radikal infrage stellen und neue Unterrichtskonzepte, geschweige seine ganze Schule (mit-)entwickeln. Er kann unter solchen Bedingungen seinen Betrieb nur aufrechterhalten, wenn er genauso weitermacht, wie bisher. Daher der verständliche Widerstand vieler gestresster Lehrer gegen dauernde Top-Down-Reformprojekte. Die große Schulreform in Finnland hat darum vor mehr als 15 Jahren die Unterrichtsverpflichtung und die Klassengrößen jahrelang so stark reduziert, dass es den Lehrern nicht nur möglich war sondern auch eine Freude sein konnte, Bisheriges kritisch infrage zu stellen und neugierig neu und umzulernen, was professionelles Pädagogesein heute heißt.

Dienstag, 24. Juni 2008

Web 2.0 in die Schule - die Schule ins Web 2.o!

"Deutschland ist auch nach Auskunft der letzten PISA-Studie von 2006 immer noch das Land, in dem der Computer in der Schule am seltensten zum Einsatz kommt (Deutschland 31% im Vergleich zum OECD-Durchschnitt von 56%)." - "Das muss sich ändern". So steht es in der Selbstdarstellung des Exzellenzprojekts "Visionen leben, Wissen nutzen. Die besten Lehrkräfte für Deutschlands Schulen der Zukunft". Begleitet wird das Projekt von einem Blog Initiative D 21.
Zwar noch jung - erst in diesem Monat entstanden - gibt es trotzdem schon eine Menge dort zu holen für Lehrer, Referendare und Lehramtsstudenten, die ihren derzeitigen oder künftigen Arbeitsplatz in die Wissensgesellschaft hinein entwickeln wollen. Unter anderem z.B. den Ertrag aus einem Referendarsworkshop:
Ein informativer leitfaden-fur-die-einbindung-von-sozialen-netzwerken-in-den-unterricht enthält unter anderem auch den Entwurf für ein Curriculum zur Medienkompetenzentwicklung, in dem zu den bekannten Elementen des andernorts so genannten Computerführerscheins eben auch der Umgang mit Blogs und Wikis gelernt wird.

Donnerstag, 12. Juni 2008

Yrjö Engeström: Entwickelnde Arbeitsforschung - Eine Hilfe auf dem Weg in die Wissensgesellschaft

Das Buch des finnischen Lerntheoretikers und Entwicklungsforschers Yrjö Engeström, gibt es jetzt auch auf Deutsch:
Yrjö Engeström, Entwickelnde Arbeitsforschung. Die Tätigkeitstheorie in der Praxis. (Übersetzt und herausgegeben von Lisa Rosa), Berlin 2008, Lehmanns Media.
Es ist ein Buch, das einen bedeutenden Beitrag für das Verständnis organisationaler Lernprozesse in Umbruchzeiten liefert. Und es ist gleichzeitig ein Buch über die Möglichkeiten einer Interventionsmethodologie – der Entwickelnden Arbeitsforschung Yrjö Engeströms –, mit der Schulen und andere Organisationen auf den notwendigen Veränderungsweg für die Erfordernisse der Wissensgesellschaft gebracht und bei ihrem Entwicklungsprozess dabei kompetent und erfolgversprechend begleitet werden können.
Vor etwa 4 Jahren begab ich mich auf die Suche nach Modellen, die mir nach 20 Jahren Lehrertätigkeit an der Schule die unerträglich gewordenen Widersprüche in meiner Arbeit erklären könnten, also nach einer Praxiserklärungs-Anleitung. Und ich suchte außerdem nach Möglichkeiten, etwas in meiner Arbeit so entscheidend zu ändern, dass ich meine Arbeit wieder als sinnvoll erleben könnte – also nach einer Praxisveränderungs-Anleitung. Beides fand ich in Engeströms Ansatz gleichermaßen.
Dieses Buch erklärt in 18 Kapiteln sowohl die dahinterstehende Lerntheorie des Expansiven Lernens auf dem Hintergrund der kulturhistorischen Psychologie als auch an verschiedenen Fallstudien die Wirkungsweise der Interventionsmethodologie der Entwickelnden Arbeitsforschung. Für Lehrer Schulentwickler und Bildungspolitiker eine nicht nur hoch interessante Lektüre sondern ein Muss!

Yrjö Engeström ist Professor für Kommunikation an der Universität Kalifornien in San Diego und Prof. für Erwachsenenbildung an der Universität Helsinki und dort Direktor des Zentrums für Tätigkeitstheorie und Entwickelnde Arbeitsforschung. Mit seinem Modell wird inzwischen in vielen Ländern an der Entwicklung von Organisationen und an der Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Organisationen gearbeitet – in England etwa zur besseren Zusammenarbeit zwischen Bildungsorganisationen und Sozialhilfe-Einrichtungen; in Japan entstand ein eigenes Institut zur Schulentwicklung mit diesem Ansatz und gerade läuft ein Projekt zur Einführung der Neuen Medien in den Schulunterricht in Botswana.

Donnerstag, 22. Mai 2008

Universalistische vs. partikularistische Moral

Pogrome unter Nachbarn heißt der Kommentar von Dominic Johnson in der gestrigen Taz, der manchen guten Hinweis zum Verständnis der aktuellen Pogrome sowohl in Südafrika als auch in Italien enthält. Fremdenfeindliche Ausschreitungen gibt es überall auf der Welt – erinnert sei auch an Rostock-Lichtenhagen und Mölln - und sie müssen nicht rassistisch und auch nicht "ethnisch" oder religiös begründet sein. "Die Anderen" müssen dafür nur als "Andere" definiert, identifizierbar gemacht und dann als "Unser Unglück" markiert werden.

"Was ist gegen diese Herrschaft der Xenophobie zu tun?", fragt Johnson. "Gebrochen werden muss der politische Konsens, wonach die Anwesenheit von "Fremden" an sich ein Problem ist, für das eine Lösung gefunden werden muss. Im Gegenteil: Das Recht auf Freizügigkeit ist die Lösung für ein Problem - es ist ein Mittel gegen soziale und kulturelle Abschottung, und seine Respektierung ist ohnehin ein fundamentales Grundrecht eines jeden Menschen. Doch dieser einfache Gedanke scheint die Politik in vielen Ländern dieser Welt derzeit zu überfordern."

Zu kurz! Der Hinweis darauf, daß die Anwesenheit von Fremden "an sich" nicht das Problem ist, ist richtig. Einen generellen politischen Konsens darüber, daß es ein "Fremden"-Problem zu lösen gäbe, den gibt es jedoch so einfach nicht mehr. Nicht zuletzt ist Roland Kochs schlechtes Wahlergebnis bei den letzten Landtagswahlen ein Zeichen dafür gewesen, daß hier jedenfalls ein solcher politischer Konsens nicht mehr so leicht herzustellen ist. Es gibt jedoch andererseits auch noch keinen generellen gesellschaftlichen Konsens des Gegenteils. Auch handelt es sich nicht bloß um eine Frage der Politik. Es ist ein gesamtgesellschaftliches und ein weltgesellschaftliches Problem, das nicht allein auf der regionalen oder lokalen Ebene und mit politischen Mitteln zu lösen ist – indem etwa die Freizügigkeit politisch abgesichert wäre.

Worin besteht aber das Problem, wenn es kein "Fremden"- Problem ist? Es ist ein Problem der Weltanschauung und der Moral. Denn natürlich ist weder die Abwesenheit, noch die Anwesenheit von "Fremden" die Lösung des Xenophobie-Problems. Die Weltvernetzung in der Epoche der Globalisierung bietet jedoch die ständige Präsenz aller und macht Abschottung immer weniger möglich. Und so bietet sie einerseits die Möglichkeit und erfordert aber auch andererseits mit Notwendigkeit die weltweite Ausbreitung eines gesellschaftlichen Konsenses, der eine universalistische Moral im Gefolge eines universalistischen Welt- und Menschenbildes anstatt der bisher vorherrschenden partikularistischen Weltbilder und Moralen etabliert.

Nun sind veränderte Weltbilder, Menschenbilder, Moral nicht etwas, was sich aus sich selbst heraus entwickelt und verbreitet. Und auch kein "einfacher Gedanke", den "die Politik" nur begriffen haben und dann umsetzen müßte. Nicht die Ideen verändern die Welt, sondern umgekehrt: Die Welt verändert sich und mit ihr die Vorstellung von der Welt. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien haben die Welt zu Einer Welt gemacht. Eine Anschauung von der Welt und vom Menschen wird also möglich, die im konkreten Einzelnen auch immer die eigene Gattung sieht, dem man darum auch nicht den Schädel einschlagen oder das Haus über dem Kopf anzünden kann - wie "anders" er sich auch immer darstellt - denn es würde bedeuten, sich selbst zu zerstören. Gleichzeitig gilt aber auch: Nicht die Welt macht den Menschen, sondern der Mensch die Welt und darüber sich selbst. Es geht also nicht von selbst, sondern muß gemacht werden. Aber es ist möglich. Das ist die eine gute Botschaft. Und es ist notwendig wie nie zuvor. Das ist die andere gute Botschaft, denn je notwendiger, desto eher wird es gemacht. Aber kein Grund zu überschäumendem Optimismus: "Es ist" - immer noch - "das Einfache, das schwer zu machen ist."

Sonntag, 27. April 2008

Peter Krause Kultusminister

"Ex-Redakteur von Rechtspostille wird Minister" titelt die Taz. Es handelt sich um Peter Krause, der für die CDU designierter Kultusminister in Thüringen geworden ist und der 1998 einige Monate Redakteur der Jungen Freiheit war.
Nun hat er sich nach heftiger Kritik formal von der Jungen Freiheit distanziert: "Die Junge Freiheit vertritt eine politische Linie, die ich als CDU-Politiker nicht teile." Na, dann ist ja alles gut?
Nein, natürlich nicht. Es ist nur gesagt worden, daß es sich für einen Politiker nicht gut macht, wenn heraus ist, dass man zur Neuen Rechten gehört. Man kann sich dann in den Politiker spalten, der die "politische Linie" der JF nicht teilen (darf), und in den Privatmann, der sie keineswegs aufgegeben hat.
Denn es reicht nicht, darauf zu schauen, daß sich das Politikpersonal von der JF verbal distanziert. Ich habe nachgeschaut, was Peter Krause schreibt. Dazu muß man nicht in den alten Artikeln in der JF suchen. Es reicht ein Studium seiner Website heute, um festzustellen, dass der Dr. phil mit spezieller Vorliebe für Gottfried Benn und Ernst Jünger, für die deutsche Romantik und vor allem für Rhetorik den Jargon der Neuen Rechten so zu handhaben weiß, dass er sagen kann was er meint, ohne sich explizit zum Verkünder der Ideologie der Neuen Rechten zu machen:

"Eine Verständigung über die Phänomene wäre vielleicht herzustellen: Pluralität von Meinungen, Werten und Handlungsweisen, Permissivität, intellektuelle (Narren-)Freiheit, beschleunigter Wandel der Lebensformen, Auflösung von Hierarchien, totaler Egalitätsanspruch, Abbau von Bindungen, Verlust an Traditionalität, kulturelle Globalisierung, Nachlassen von festen Überzeugungen, Profanität, (scheinbare) Komplexität, Funktionalität und grenzenlose soziale Mobilität, ein seltsames Wechselspiel von Individualität und Uniformität, von Selbstentfaltung und faktischer Vermassung, die Überzeugung grenzenloser Evolution, zugleich Tendenzen der Ästhetisierung, der Wiederverzauberung... "
Unsere Kultur brauche Identität, Bindung, Tradition, die "lustvoll-suizidal" aufgegeben worden sei.

In all dem Geschwurbel wird trotzdem implizit deutlich, dass gemeint ist, was Kernbestand der Ideologie der Neuen Rechten ist: eine antiliberale autoritäre Auffassung vom Staat, Nationalismus, "Ethnopluralismus" (der Jargon-Begriff fürs Völkische), der sich hier hinter der formal verdeckten Kritik an "kultureller Globalisierung" und dem "Verlust von Traditionalität" und an der "Profanisierung" verbirgt. Denn trotz des verbalen Diskussionshabitus "Verständigung über die Phänomene" anzumahnen, werden Demokratisierung, Pluralität, Diversität, Individualisierung und Globalisierung hier erkennbar als negative Entwicklungen bestimmt, die es durch Rückentwicklung zu autoritären ("traditionellen") Nationalstaats-Konzepten zu bekämpfen gilt.

Die Junge Freiheit ist nicht bloß eine zu belächelnde "Rechtspostille". Sie ist der in der Öffentlichkeit sichtbarste Knoten eines überaus großen und vielfältigen Netzwerks der Neuen Rechten, die sich zu einer modernen Variante antidemokratischer völkischer Ideologie bekennt und vielfältige Schnittstellen mit alten und neuen Nazis auf der einen Seite und ebenso viele Schnittstellen hin zur "rechten Mitte" generiert und pflegt. Die JF ist eine Brücke zwischen "rechter Mitte" und Rechtsextremismus. Sie testet, was aktuell an rechten Aussagen und Auffassungen hoffähig und juristisch erlaubt ist, und versucht die Spielräume für rechte Ideologie zu weiten. Es reicht auch darum eben keine formale und rhetorisch durchaus geschickte Distanzierung von der "politischen Linie" der Jungen Freiheit durch den neuen Kulturminister, weil die 6 Siebtel des nicht sofort sichtbaren Eisbergs - nämlich die Ideologie der Neuen Rechten von dieser Distanzierung gar nicht betroffen sind.
Über die Netzwerke der Neuen Rechten, den hilflosen Umgang mit der Jungen Freiheit durch Medien, etablierte Politik, Verfassungsschutz und Empörungs-Antifa sowie einige Thesen für einen adäquaten Umgang mit neurechter Ideologie und Netzwerk habe ich letztens einen Aufsatz geschrieben, in den es sich anläßlich des Peter Krause als Kultusminister vielleicht wieder hineinzusehen lohnt:

LR_JungeFreiheit1 (pdf, 271 KB)

Nun ist dem 1964 in der DDR geborenen Krause die paar Monate Redakteurstätigkeit für die JF vielleicht als orientierungssuchende Jugendsünde nachzusehen. Auch ist er in der Welt der Botho Strauss, Nietzsche, Jünger und Benn als Kulturwissenschaftler und -politiker und als "rechtskonservativer" Mahner vor dem Massenmedienzeitalter und dem Untergang des Abendlandes vielleicht nicht unbedingt einer der schärfsten Neue-Rechte-Ideologen. Aber eins ist sicher: Als Kultusminister, der die Aufsicht über die Entwicklung der Bildungslandschaft in Thüringen hat, die - wie jedes andere der Deutschen Länder auch - mehr als ein Jahrzehnt versäumter Modernisierung des Schulwesens nachzuholen und sich schleunigst an die Entwicklung einer der Wissensgesellschaft adäquaten Lernkultur zu machen hat, ist Peter Krause eine krasse Fehlbesetzung.

Donnerstag, 10. April 2008

Ausgehandelter Sprachgebrauch

Aus den Praxisproblemen meiner Redaktionstätigkeit:

SuS

Was ist das? Eine Weile habe ich gebraucht, um zu dekonstruieren:
Schüler. Ausgehandelt korrekt wurde daraus: Schüler und Schülerinnen. Das wurde dann in der ständigen Benutzung ziemlich lästig. Weiterentwicklung also: SuS. Wohlgemerkt nicht meine Erfindung, sondern üblicher Sprachgebrauch in Unterrichtsmaterialien.
Das ganze liest sich im Text dann so: "Auf dieser Grundlage sollen die SuS eigene Diskussions- und Erörterungsübungen durchführen." Nicht schön, nur für Eingeweihte verständlich, dafür aber korrekt und trotzdem praktisch.

Lehrkräfte

Auch die korrekten Lehrer und Lehrerinnen werden im Dauergebrauch lästig. Klar. Da fand man die Neutralisierung als Lösung. Der Lehrer und die Lehrerin als Kräfte im System. Aber da zeigt sich doch wieder eine Diskriminierung durch Sprache! Während das Geschlechterdiskriminierungsproblem auf der Schülerebene technisch mit einer Abkürzung gelöst wurde, die Menschen dabei quasi zu Buchstaben zusammengestrichen, erfährt dasselbe Problem auf der Lehrerebene eine Lösung, die den betreffenden Menschen besondere Qualität zuspricht.
Zur Vermeidung dieses neu aufgetretenen Diskriminierungsproblems schlage ich zwei Lösungen zur Auswahl vor:

Lehrkräfte und Lernkräfte

Das spiegelte immerhin sprachlich wider, dass zur Aufrechterhaltung
einer Unterrichtskommunikation - die den Kern des Schulsystems darstellt -
zweierlei Arbeitskrafttypen gleichermaßen kraftvoll beteiligt sein müssen.

SuS und LuL

Das hat den Vorzug, dass man sie auch gemischt auftreten lassen kann:
"Die SuL erarbeiten den zweiten Textabschnitt. Auch die LuS sind heute nicht faul und lösen zusammen eine Minimax-Aufgabe."
Bild: Ivan Montero / fotolia

shift.

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