Erziehungssystem

Mittwoch, 9. Mai 2007

Integriertes Schulsystem

Wider alle Vernunft hält das Kultusministerium in Baden-Württemberg zäh an der "Erfolgsgeschichte des gegliederten Schulwesens" (Annette Schavan) fest. Jetzt wurde solche Schildbürgerei 100 Grund- und Hauptschulleitern zu bunt. Sie schrieben einen offenen-Brief-an-Kultusminister-Helmut-Rau (pdf, 103 KB) und forderten die Abkehr vom selektiven Schulsystem und den Aufbau eines echten integrierten Schulwesens, wo sich das System an den Schüler anpasst - wie in der Grundschule, in der die Lehrer durch die heterogene Zusammensetzung der Schülerschaft gezwungen sind, individuell zu fördern, statt auszulesen.
Das Papier ist ein sehr interessantes Dokument vor allem wegen der Ansammlung professioneller Argumente - gerichtet an eine entweder in der Sache völlig ahnungslose oder aber bewußt realitätsignorante politische Entscheidungsinstanz. Gefragt wird der Kultusminister u.a.:

• Kann es sein, dass Veränderungen blockiert werden, weil es Politikern an Mut fehlt, notwendige Schulstrukturveränderungen gegen den Widerstand von Lobbyistengruppen durchzusetzen, die nach wie vor keine gesamtgesellschaftliche Verantwortung übernehmen wollen, sondern weiterhin auf ihre „Pfründe“ bestehen?

• Deutschland beziehungsweise Baden-Württemberg hat ein weltweit einzigartiges Schulsystem, das die Kinder nach nur vier gemeinsamen Schuljahren auf drei hierarchisch angeordnete Schularten verteilt.
Sind deutsche Kinder anders „gestrickt“ als die restlichen Kinder dieser Erde?


Nun sind wir sehr gespannt, welche Antworten aus dem Ministerium kommen!

Mittwoch, 21. März 2007

Lernunfähige Bildungspolitik

Heute wird der Bericht-des-UN-Sonderbeauftragten (pdf, 193 KB) Vernor Munoz Villalobos in Genf vorgetragen, der vor einem Jahr das Schulwesen in Deutschland inspiziert und deutliche Kritik an dessen selektiver mehrgliedriger Struktur sowie am Föderalismus formuliert hatte.
Aber nichts hilft. Weder die critical friends von außen, noch die zunehmenden Stimmen unzähliger Bildungsforscher und Praktiker innen, noch die unabweisbaren Befunde empirischer Studien bringen Betonköpfe wie die Bildungsministerin Schavan oder den bayerischen Kultusminister Schneider aus der sturen Spur. Wie die Süddeutsche berichtet, wird anschließend an den Bericht des UN-Beauftragten eine gemeinsame Gegendarstellung von KMK und Bundesregierung verlesen, die das deutsche Schulsystem als Erfolgsgeschichte schönredet.
Auweia, was für eine infantile Haltung! Alle sehen und wissen, daß der Michel in die Hose gepinkelt hat - und der Michel weiß es auch. Aber offenbar ist es so peinlich, daß nur Verleugnung noch das Gesicht wahren kann: Nein, ich war das nicht, und die Hose ist auch nicht naß ...

Mittwoch, 17. Januar 2007

Eine Schule für Alle

Einheitsschule, Gesamtschule, Gemeinschaftsschule ...
Bemühungen um einen politisch viablen Begriff, mit dem endlich geschafft werden kann, was schon seit 1949 in Deutschland ansteht - nämlich die Abschaffung der sozialen Selektion in der Bildung.

Das aktuelle Heft der Marxistischen Blätter trägt den Titel "Eine Schule für Alle" und bietet zum Schwerpunkt eine Reihe interessanter Artikel. Online zu lesen sind ein Interview mit Brigitte Müller, die sowohl das DDR-Schulsystem als auch das BRD-Schulsystem aus der eigenen Lehrerpraxis kennt, sowie der Beitrag von Ingrid Wenzler, Mit der Gesamtschule zur gemeinsamen Schule für alle.
Der ausgezeichnete Artikel von Rolf Jüngermann, Zur verheerenden Rolle des Gymnasiums im deutschen Schulwesen, ist leider nicht online zu haben. Dafür lohnt sich aber schon der Kauf des Heftes (7 Euro):

Jüngermann entfaltet die Merkmale des deutschen Gymnasiums als die einer Maschine zur Exklusion der Mehrheit von Partizipation an der politischen Macht. Er nennt es den Klassencharakter des Gymnasiums. Überzeugend weist er nach, dass das selektive Bildungswesen, an dem in Deutschland bis vor kurzem über alle politischen Lager hinweg trotz bzw. in Kenntnis der empirischen Befunde hartnäckig festgehalten wurde, nicht nur nicht geeignet ist, die sozial begründete Chancenungleichheit zu mildern, sondern diese sekundär immer wieder reproduziert. Das Gymnasium sei eine parasitäre Einrichtung, die voraussetzt, was Schule eigentlich lehren sollte, und die nur darum funktioniert, weil sie alle, die den "Stallgeruch" des Bildungsbürgertums nicht mitbringen, exkludiert und an andere Institutionen verweist. Der "Gymnasiale Habitus" besteht nach Jüngermann aus einem Set von zehn Hauptkomponenten, von denen der Logozentrismus - also der einseitige Bezug auf sprachliches Lernen - sowie der Zwang zur zweiten Fremdsprache die wichtigsten sind.
Jüngermann diskutiert dann die Funktionalität des Zwei-Säulen-Modells, wie es als Übergangsmodell zu einer Schule für Alle z.B. von der SPD in Hamburg propagiert wird. Sein Urteil: Mogelpackung. Keine Station auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule. Aber immerhin weniger scharfe Selektion als das bestehende fünfgliedrige Schulwesen und darum vielleicht sozial verträglicher.

Nebenbei erfährt man in einem Exkurs, daß das wichtigste PISA-Ergebnis im deutschen Bericht über die PISA-Studie unterschlagen wurde: der unabweisbare Zusammenhang des hoch selektiven Schulsystems mit den schwachen Leistungen im nationalen Durchschnitt:

"Der vom deutschen PISA-Konsortium herausgegebene 'Bericht PISA 2000' (Baumert 2001, der von der deutschen Öffentlichkeit leider bis heute als deutsche Fassung des internationalen PISA-Report (OECD 2001) (miß-)verstanden wird, unterscheidet sich ausgerechnet in der für Deutschland zentralen Frage der Rolle des gegliederten Schulwesens deutlich von den Aussagen des internationalen PISA-Report (OECD 2001) (dessen deutsche Übersetzung erst viel später als der Bericht des Deutschen PISA-Konsortiums im Buchhandel erhältlich war.
Der
internationale PISA-Report stellt in einer für einen wissenschaftlichen Bericht bemerkenswert klaren Form ausdrücklich einen deutlichen Zusammenhang her zwischen der gegliederten deutschen Schulstruktur der Sekundarstufe I und der verheerenden sozialen Ungerechtigkeit des deutschen Schulwesens (OECD 2001, Abbildung und Text S. 237ff; S. 255) Es wird aufgezeigt und formuliert, daß die ChancenUNgleichheit in Deutschland weniger auf das soziale Umfeld in der Familie des einzelnen Schülers an sich als vielmehr auf die Tatsache des frühen Ausgliederns hinein in 'die kombinierte Wirkung des sozioökonomischen Hintergrunds der Gesamtheit der Schülerschaft einer Schule' zurückzuführen ist. Daß also die Ungleichheit durch das gegliederte Schulwesen zum überwiegenden Teil überhaupt erst geschaffen - mindestens aber entscheidend verstärkt wird. Diese Aussage wird im internationalen PISA-Report 2000 ausdrücklich zu einer der wichtigsten des ganzen Berichts erklärt.
Im
Deutschen 'Bericht PISA 2000' (Baumert 2001) hingegen - und in den öffentlichen Stellungnahmen der Mitglieder des Deutschen PISA-Konsortiums (...) und des PISA-Beirats der KMK (...) wurden diese Aussagen des internationalen Report PISA 2000 (OECD 2001) schlicht unterschlagen, und zwar ohne auf die Tatsache der gezielten Auslassungen in angemessener Form aufmerksam zu machen. Dass man diese aber durchaus zur Kenntnis genommen hatte, ihnen sogar ein großes Gewicht zugemessen hatte, wird indirekt dadurch belegt, dass im
Deutschen 'Bericht PISA 2000' gleich an mehreren Stellen eine breite inhaltliche Gegenargumentation in Stellung gebracht wird (Baumert 2001, u.a. S. 410f + 466f), allerdings ohne erkennbaren Hinweis auf den Bezugspunkt."

Trau schau wem!

Dienstag, 19. Dezember 2006

Die Werteerzieher

Und warum gibt es so viele entweder burnout-geschädigte oder zynische, kinderfeindliche, wenigstens resigniert aufs Ende des Tages- und des Lebensdienstes wartende Lehrer? Lehrer, die häufig ursprünglich ihre Arbeit begonnen hatten mit Enthusiasmus und Freude und mit dem Bedürfnis, es besser zu machen als die Lehrer in ihrer eigenen Schülerzeit?

Bei Herrn Rau im Lehrerzimmer erfährt man den Bericht eines gesunden Lehrers, der allen Strapazen standhält: "Wie ich mir meine Arbeitskraft erhalte" ist eine Liste von Eigenschaften, Verhaltensweisen und Rahmenbedingungen, die ein Lehrer braucht, um psychisch gesund durchs Arbeitsleben zu kommen.
Und über Herrn Rau fand ich auch den Link zu einem ZEIT-Interview über Lehrergesundheit mit dem Psychologen Uwe Schaarschmidt:

"Die größte deutsche Studie zur Lehrergesundheit zeigt, dass Pädagogen seelisch stärker belastet sind als Ärzte oder Polizisten. Helfen würden mehr Kollegialität und Selbstbestimmung."

"Lehrer (üben)– was ihre seelischen Belastungen angeht – einen der anstrengendsten Berufe aus. "

"Der Schulalltag ist in ein Korsett von Reglementierungen und Bevormundungen geschnürt, wie sie in anderen akademischen Berufen kaum vorstellbar sind. Diese Art der Fremdbestimmung macht es Lehrern schwer, auch längerfristig Ziele zu setzen und zu verfolgen – eine wesentliche Bedingung psychischer Gesundheit im Berufsleben".


Sich die Fähigkeiten, die Herr Rau hat, anzueigenen, seine privaten Lebensbedingungen so zu gestalten, wie er ("Erst mal habe ich einen Partner, der mir viel Zeit lässt und bei dem ich mich ausheulen kann: Frau Rau, die nicht so heißt."), ist ja schon mal gut zum eigenen Überleben. Aber: Für die nötige radikale Schulentwicklung wird es nicht mehr reichen, sich individuelll selbst zu helfen. Und wenn man keine "Frau Rau" hat?
Also: Wenn sich die Schulen zu Orten des hoch motivierten frohen Lernens verwandeln sollen, dann muß man wohl den Lehrern die Gelegenheit geben, ihren Arbeitsplatz - ihr Tätigkeitssystem - gemeinsam so umzugestalten, daß sie selbst wieder Freude und Sinn in ihrer Arbeit finden können.

Werteerziehung

Respekt als Grundprinzip fordert der Kommentar von Christian Füller zum Taz-Interview mit Wilhelm Heitmeyer. Heitmeyer sieht einen Zusammenhang zwischen Schulsystem und Fremdenfeindlichkeit."Demokratieentleerung" ist seine Gesellschaftsdiagnose. Auf die Frage, ob er etwas von Wertevermittlung in der Schule hält, hat Heitmeyer ein klares Nein:
"Wenn ich höre, dass wir Werte im Schulunterricht behandeln sollen, werde ich unruhig ... Das ist ein Selbstbetrug, der nur der Gewissensberuhigung dient. Wer in der Schule Werte lehren will, hat schon verloren, denn diese proklamierten Werte stimmen mit den prämierten Werten, wie Durchsetzungsvermögen, nicht überein. Die Erfahrungen der Jugendlichen sind doch völlig anders. Dagegen kommt Werteunterricht nicht an. Die Jugendlichen haben diese Heuchelei längst durchschaut."
Ganz richtig: Werte oder Normen –Einstellungen, Haltungen, die sich in einem bestimmten gesellschaftlich erwünschten Verhalten ausdrücken, lassen sich nicht durch Belehrung und kognitiven Unterricht in den Schülern "herstellen". Vor allem dann nicht, wenn die Schüler ständig die Erfahrung machen, dass diese Werte – Solidarität, Mitmenschlichkeit, Akzeptanz, Toleranz, Respekt, freie Meinungsäußerung, usw. – offensichtlich nicht für alle gelten: Davon, daß in der Gesellschaft "draußen" – außerhalb des angeblichen "Schonraums Schule" die Fetzen fliegen und Hauen und Stechen ist, mithin also die Werte und Normen offenbar auch in der Erwachsenenwelt nicht eingehalten werden – soll hier gar nicht die Rede sein. Ich beschränke mich auf mein Tätigkeitssystem: Schule. Und ich spreche von einer guten Schule. Vom Gymnasium. Nicht vom dekompensierten System, von "Rütli", "Emsdetten" oder "Erfurt". Sondern vom funktionierenden System, von einem Gymnasium mit einem guten Ruf. Sogar von einem Gymnasium, das als "schülerfreundlich" im Stadtteil gilt.

Eine ganz normale Begebenheit in eben dieser Schule:

Große Pause. Ein Kollege ist mit mir zusammen im Lehrerzimmer. Geschrei im Flur. Es rumpelt mächtig an die Tür. Der Kollege bekommt eine Zornesfalte über der Nase und knurrt, öffnet die Tür und herrscht den davor stehenden Fünftklässler an: "Kannst Du nicht manierlich klopfen? Noch mal versuchen!" und wirft die Tür vor der Nase des Schülers wieder zu. Erneut großes Geschrei und Poltern an der Tür. Jetzt ist der Lehrer wirklich erbost. So eine Unverschämtheit! Er stürmt zur Tür, reißt sie auf ... und behende huscht eben jener Fünftklässler herein, schaut sich suchend um und rennt dann unter einen Lehrertisch, wo er sich hinkauert. Der Kollege weiß gar nicht, wohin mit seiner Wut: "Was fällt Dir ein, Du hast doch hier gar nichts zu suchen. Das ist doch kein Spielplatz hier!" schreit er und versucht, den Schüler unter dem Tisch hervor zu zerren. Ich sage: "Moment. Langsam. Das ist wohl etwas anderes. Frag doch erst mal, was der Schüler hat. Da stimmt doch was nicht!" Aber der Kollege ist von seiner "Erziehungsberechtigung" so überzeugt, einer Berechtigung, die nicht fragen muß, weil sie weiß, daß Regeln übertreten wurden, und weil es nicht anders sein kann, als daß der Schüler im Unrecht ist. Ich muß ernsthaft mit ihm streiten, um den Schüler im Lehrerzimmer behalten und fragen zu können, was denn los sei. Erst jetzt kommt "man" überhaupt dazu, den Schüler wahrzunehmen: Dieser macht einen gehetzten und verängstigten Eindruck, jetzt mischt sich allerdings Erleichterung hinzu, weil er hier bleiben darf. Und jetzt darf er sprechen. Und jetzt stellt sich heraus, daß er von älteren Schülern verfolgt wurde und in seiner panischen Angst versucht hat, sich ins Lehrerzimmer zu flüchten und dort Hilfe zu holen.

Eine ganz normale Schulgeschichte also. Nichts Aufregendes also. Doch! Aufregen muß man sich! Gerade darüber, daß es eine so normale Geschichte ist!
Welche Werte hat der Schüler in dieser Geschichte wohl gelernt? Daß die Schwachen zu schützen sind, daß Solidarität und Mitgefühl wichtig sind, daß Achtung und Respekt einem jeden zustehen? Wohl kaum.

In der Schule bedeutet Respekt fast immer einseitig das Respektieren von Erwachsenen-Autoritäten. Respektvoller Umgang mit Schülern? "Die sollen erst mal lernen ... (anständig zu grüßen, pünktlich zu sein, ordentlich mit ihren Sachen umzugehen, ihre Leistung zu erbringen...)" In der Schule gilt: Respekt und Akzeptanz kann man sich nur mit Anpassung und "Leistung" verdienen. Sie stehen dem Schüler nicht von vorneherein zu, dem Lehrer als Erwachsenem jedoch generell und qua Amtsautorität sowieso. Dieser kann sie auch kaum verlieren und muß sich wirklich einiges an Schweinereien in Folge "leisten", um sich offizielle Abmahnung zu "verdienen". Den wirklichen Respekt der Schüler kann der Lehrer allerdings schnell verlieren und leicht gewinnen. Denn erstens sind Schüler sensibel und klug und lassen sich nicht einfach hinters Licht führen, und zweitens sind sie zum Glück nicht nachtragend.

Im Konfliktfall mit einem Lehrer ist auch der schon mühsam erarbeitete und verdiente Respekt, den ein Schüler sich erworben hat, wieder hin, denn es gilt: Der Schüler hat im Zweifelsfall immer Unrecht. Immer noch gelten Normen und Systemregeln in der Schule, in denen zumindest implizit die Denkfigur enthalten ist, dass ein Mensch ein Erwachsener sei. Kinder müssten erst noch Menschen werden. Dazu müssten sie – wild und unzivilisiert, wie sie nun einmal als halbe Tiere sind - zur Anpassung an die herrschenden menschlichen Regeln, Normen und Werte gezwungen werden. Triebunterdrückung, Schliff, Brechung des Eigensinns ... Welche Werte kann man damit wohl "vermitteln"? Im Systemblick der Schule, der sich als Blick des Lehrers auf den Schüler konkretisiert, hat Erziehung auch heute noch dasselbe Menschenbild wie im Kaiserreich – auch wenn nicht mehr geschlagen wird: Demütigung, Mißachtung, Verachtung gehören immer noch zum System. Sie sind zwar nicht mehr explizite Erziehungsmethoden, denn das Selbstverständnis ist ein anderes geworden. Aber darum fallen sie denjenigen, die sie praktizieren, den Lehrern, überhaupt nicht auf. Weit von sich weisen sie jeden Vorwurf der Ungerechtigkeit, der Demütigung, der Mißachtung. In Wirklichkeit sind die Lehrer in der Schule jedoch pausenlos angehalten, ungerecht zu urteilen und zu handeln, zu demütigen und zu mißachten. Sie sind dazu ausgebildet worden und sind es gewohnt, so zu handeln ohne sich selbst so zu sehen.

In manchem Lehrerdasein müssen pro Woche Hunderte von Schülern in zig Klassen zu je 25-30 Individuen zusammengefaßt im Kollektiv und im Einzelnen belehrt, ermahnt, erzogen, korrigiert, beurteilt, bestraft, kontrolliert, zensiert werden. Natürlich sollten sie auch ermuntert, amüsiert, erfreut und gelobt werden. Aber dazu ist meist keine Zeit mehr. Denn das System fordert nur die andere Seite ein. "Warum keine Hausaufgaben?" schrieb der Direktor in mein Unterrichtsbuch, das er zur Kontrolle studiert hatte. Und: "Ihr Zensurenschnitt ist zu gut, er weicht von denen der Parallelklassen ab", sagte er auf der Konferenz. Nie habe ich die Anweisung gehört, freundlicher mit den Schülern zu sein, gnädiger oder nachgiebiger. Wenn Schüler einen Lehrer als ungewöhnlich streng oder als ungewöhnlich ungerecht erleben, dann müssen sie kämpfen mit allen Mitteln, damit sie überhaupt gehört und ernst genommen werden. Denn das System reagiert nicht von selbst auf solche Abweichungen. Es dauert meist viele Wochen, in denen Schülervertreter, Elternvertreter, ganze Schulklassen mit Unterstützung der Eltern und unter Einbeziehung des Vertrauenslehrers und gar des Direktors einen solchen Lehrer dazu bringen, seine Abweichung von der geltenden Ungerechtigkeits- oder Strengenorm einzusehen und etwa Noten nach oben zu korrigieren. Nein – letzteres ist unmöglich. Auch eine förmliche Entschuldigung – womöglich öffentlich – eines Lehrers an einen ungerecht behandelten Schüler ist eher nicht zu erwarten. Es würde das System untergraben. Die Schüler müssen sich also damit zufrieden geben, daß erst in der nächsten Klassenarbeit weniger streng bewertet wird, und der ungerecht behandelte Schüler muß froh sein, wenn die Ungerechtigkeit zähneknirschend zugegeben und wortlos rückgängig gemacht wird. Und die Schüler geben sich damit zufrieden. Schüler sind überhaupt leicht zufrieden zu stellen, denn sie erwarten gar keine Wunder. Sie sind eigentlich unglaublich systemkonform. Sie sind überhaupt immer eher defensiv eingestellt und kämpfen überhaupt nur im Notfall, wo es gar zu grob daneben gegangen ist. Aber genau da lauert die Gefahr: Wenn Schüler abwinken und sagen: "Mit dem Lehrer reden? Das hat überhaupt keinen Zweck!" Und sich dann mit einer als zutiefst ungerecht empfundenen Bewertung "zufrieden" geben.

Mittwoch, 13. September 2006

Wissensgesellschaft

Aus dem OECD-Bildungsbericht (herunterzuladen von der GEW-Seite) geht noch etwas hervor:
In Deutschland ist der Computer noch nicht wirklich in der Schule angekommen. Demgegenüber zeigt die Studie jedoch, dass Schüler, die mit dem Computer umgehen können, deutlich bessere Schulleistungen erbringen als solche ohne Computerkenntnisse.

Aus dem Wortlaut der Kurzfassung des Berichts:

Nutzung neuer Medien
· 15-jährige Schülerinnen und Schüler in Deutschland sind im Umgang mit Computern generell erfahren und trauen sich hier viel zu, der Zugang zu Computern und ihre Nutzung sind im Gegensatz zu vielen anderen Staaten in der Schule jedoch deutlich begrenzter als zu Hause (Tabelle D5.3). Indessen sehen die Schulleitungen in Deutschland darin in der Regel kein Problem für den Unterricht, was bedeuten könnte, dass Computer an deutschen Schulen zwar effektiv eingesetzt werden, nicht aber als zentraler Bestandteil des Unterrichts gelten, oder sich die Schulleitungen des Potenzials der Computer für Lehren und Lernen nicht so bewusst sind, wie dies in anderen Ländern der Fall ist (Tabelle D5.2).
· In Deutschland schneiden 15-Jährige, die im Umgang mit Computern versiert sind, in wichtigen Schulfächern im Allgemeinen besser ab als ihre Mitschüler, die diesbezüglich wenig Erfahrung bzw. mangelndes Selbstvertrauen in ihre Fertigkeiten im Umgang mit grundlegenden Computerfunktionen haben. Dieser Vorteil scheint in Deutschland ausgeprägter zu sein als im OECD-Durchschnitt und hat auch dann noch Bestand, wenn sozioökonomische Hintergrundfaktoren berücksichtigt werden (Box D5.1).

Je später die Umkehr,

desto schwieriger wird der Weg und desto höher der Preis, der dann zu zahlen ist. Das weiß jeder, der aus Angst vor dem Bohrer den Zahnarzt meidet und dann, wenn Schnaps, Beten und Ignorieren wieder mal nicht geholfen haben, von den unerträglichen Schmerzen am Ende doch dorthin getrieben wird, wo er erfahren muß, daß der Zahn nur noch gezogen werden kann.

Global verfährt man nach diesem Muster mit der Klimakatastrophe.
Deutschland verfährt so mit seinem Bildungssystem.

Andreas Schleicher - Koordinator der OECD-PISA-Studie - hatte schon 2002 tiefgreifende Reformen gefordert, um die 15-Jahre-Rückständigkeit des deutschen Bildungswesens aufzuholen. Die Ergebnisse der PISA-Studie liegen seit dem Jahr 2000 vor. "Schnaps, Gebet und Ignoranz" hat es seither reichlich gegeben, aber keinen echten Schritt in die Erneuerung. Die nichtdeutsche Welt hat inzwischen vorgemacht, wie der Weg zum "Zahnarzt", sprich zur Rekonstruktion des Bildungswesens geht, nur in Deutschland ist die Bildungspolitik hartnäckig beratungsresistent gewesen und hat seit dem erschreckenden Befund der Rückständigkeit viele wertvolle Jahre verloren mit Schildbürgerstreichen und Handwerkelei in Sachen Schulentwicklung.

Der OECD-Bildungsbericht 2006 offenbart: Beim Anteil der Hoch- und Fachhochschulabsolventen pro Jahrgang hat Deutschland nur 20,6 % Absolventen eines Jahrgangs, der OECD-Durchschnitt liegt bei 34,8%. In Island haben 50%, in Finnland 47%, in Polen 44,8% eines Jahrgangs einen Hoch- oder Fachhochschulabschluss. Niedrigere Werte als Deutschland findet man nur noch in Tschechien (19,7%), Österreich (19,6%) und der Türkei (10,6%). Deutschland liegt damit so gut wie am Ende einer Liste von 25 der 30 OECD-Staaten, in denen diese Werte erhoben wurden. Trotzdem scheint das Bundesministerium für Bildung mit der Entwicklung zufrieden zu sein: "Die Absolventenquote der Hochschulen in Deutschland hat sich kontinuierlich verbessert." (Die Auswertung in der Kurzfassung durch die OECD und die Interpretation des Bundesministeriums unterscheiden sich erheblich.)

Andreas Schleicher bringt laut Taz-Bericht "Letzte Reserve an die Unis" vom 13. 9. den Befund ungeschönt auf den Punkt:

"Es reiche nicht, an Details eines Bildungssystems herumzuschrauben, das aus dem 19. Jahrhundert stammt. 'Man muss sich fragen, ob man auf die grundlegend neuen Herausforderungen der Wissensgesellschaft reagieren möchte - oder nicht.'"

Offenbar hat man sich längst gefragt - und möchte nicht. Die Schmerzen sind wohl noch nicht stark genug, um schon den Arzt aufzusuchen - zumindest nicht bei denen, die die Entscheidungen treffen.
Laut Schleicher hilft jetzt nur noch die Radikalkur: Öffnung der Hochschulen für alle - auch ohne Abitur.
Daß man "kostenneutral" keine tiefgreifenden Reformen bewerkstelligen kann, um in Jahrzehnten Versäumtes in Ordnung zu bringen, war den Akteuren vor Ort in den Schulen immer klar. Dass man bei volleren Klassen und Arbeitszeiterhöhung für die Lehrer weder den Unterricht verbessern noch die individuelle Förderung steigern kann, liegt auf der Hand und wird doch bis heute offiziell immer wieder bestritten.
Nun stellt der neue Bildungsbericht der OECD aber auch fest, dass seit 1998 die OECD-Staaten ihre Bildungsausgaben im Schnitt um 46% gesteigert haben - Deutschland aber nur um 14%. Toll gespart! Hamburg ist stolz darauf, daß es kürzlich ein Benchmarking unter den "Nordländern" in Punkto Kosten der Lehrerausbildung gewonnen hat: Hamburg hat die billigste Lehrerausbildung! Bravo! Wir sind Pokal! Zwar hat Hamburg schon gut 20% funktionale Analphabeten unter den 15-Jährigen - macht nichts, dafür war die Schule billig.

Alle am Bildungssystem Beteiligten wissen: "Der Zahn" ist schon durch und durch faul. Aber den Politikern zu unterstellen, dass sie die Bildung absichtlich vor die Wand fahren würden, wäre absurd. Woran also liegt es, dass Deutschland die längst überfällige Umsteuerung zur Neustrukturierung nicht zustande kriegt?
Eine mögliche Antwort findet man mit den Mitteln der Systemtheorie, die der Theorie des "Rationalen Handelns" zu Recht widerspricht:

Es sind die Selbstreferenz und die operative Geschlossenheit von Systemen, "die bewirken, dass sie sich erstaunlich häufig zugrunde richten, obwohl dies nicht im Interesse ihrer Mitglieder liegt (... ), obwohl Warnsignale in der Umwelt in Hülle und Fülle vorliegen, obwohl andere [Systeme] in ähnlichen Situationen anders handeln, obwohl einzelne Personen oder Gruppen innerhalb [des Systems] das Verhängnis kommen sehen und dagegen angehen. (...) Was hier wirkt, ist die Operationslogik des Systems, eingefroren in seine anonymisierten Regelsysteme und seine institutionalisierte kollektive Identität, die häufig genug selbst bei Strafe hoher Verluste oder gar des Untergangs des Systems verhindern, dass sich in den Handlungsmöglichkeiten der Mitglieder etwas ändert."
Helmut Willke

Die Systemtheorie nennt das "pathologisches Lernen".
Irgendwie, scheint mir, hat man hierzulande einen Hang dazu.

Dienstag, 7. Februar 2006

Mensch Milchmädchen!

möchte man ständig ausrufen, wenn es um die fehlenden Ausgaben und Fehlausgaben im Bildungsbereich geht.

Wolfgang Tietze, Prof. an der FU Berlin, Mitautor des 12. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung und Erfinder des Kita-TÜV, verdeutlicht im Interview mit der ZEIT, daß es nur "2,7 Milliarden Euro zusätzlich im Jahr kosten [würde], die benötigten Plätze [für einen garantierten Kitaplatz von Geburt an, LR] zu finanzieren. Das müsste unsere Gesellschaft doch stemmen können! Zum Vergleich: Die Hartz-Reformen kosteten den Staat unvorhergesehene sechs Milliarden Euro mehr." Und damit endlich klar ist, daß Investitionen in die kollektive Früherziehung kein rausgeschmissenes Geld sind: "Eine berühmte amerikanische Langzeituntersuchung zeigt, dass jeder Dollar, den der Staat in eine gute Kindergartenerziehung inverstiert, sieben Dollar Rendite abwirft. Die Kinder sind besser in der Schule, sie haben später bessere Jobs, zahlen mehr Steuern, sind seltener kriminell." Was ist aber eine gute Kita-Erziehung? Dazu Tietze: "Waschmaschinen, Schneeketten, Schönheitscremes: Alles wird bei uns regelmäßig kontrolliert und getestet, die Qualität unserer Kindergärten nicht. Was wir haben, sind Eindrücke, lokale Stichproben und Einzelstudien, wie die unsrige aus dem Jahr 1998, die zeigt, dass nur rund 30 Prozent der Kindergärten gute Qualität aufweisen." Und: "Deutschland ist nun einmal das Land mit dem niedrigsten Niveau der Erzieherinnenausbildung in Europa."

Tietze fordert darum neben einem garantierten Kita-Platz von Geburt an und einem besseren Betreuungsschlüssel mindestens einjährige Fortbildung als Systementwicklung der Einrichtungen sowie Hochschulausbildung mindestens der Kita-Leitungen. Für ein hochentwickeltes Land in Mitteleuropa meines Erachtens Minimalstandards. Zum Vergleich: In Finnland hat jedes Kind von Geburt an das Recht auf einen kostenlosen Ganztagskindergartenplatz mit der Betreuung durch an der Hochschule ausgebildete Erzieher(innen). Es geht also - warum nicht bei uns?

Auf die Vorschläge und Pläne der Parteien zur besseren Betreuung und Bildung von Vorschulkindern angesprochen sagt Tietze: "Es kommt (...) weniger darauf an, schöne Papiere zu schreiben, als die Praxis zu verändern."
Sein Wort in Regierungs Ohr!

Sonntag, 21. August 2005

Auf Finnisch zum Finish

Klipp und klar sagt uns der ehemalige finnische Ministerpräsident Paavo Lipponen, warum die Finnen Pisa-Sieger sind, warum Finnland die niedrigste Arbeitslosenzahl und eine der höchsten wirtschaftlichen Zuwachsraten hat, und warum die Geburtenrate in Finnland eine der höchsten in der EU ist :
"Nach unserer Einschätzung beeinträchtigt ein mehrgliedriges Schulsystem mit früher Auslese die volkswirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit."
Ich schätze nicht nur die überall guten Ergebnisse der finnischen Politik, ich teile auch Lipponens Einschätzung der Ursachen.
Ich möchte eine Partei wählen, die finnische Bildungspolitik macht. Muß ich mich wohl um eine neue Staatsbürgerschaft bemühen.

Sonntag, 7. August 2005

Normal

Was ist normal? Daß Kinder Müllhalden durchwühlen, um für ihre Familien das Essen zu beschaffen? Daß Kinder vormittags zur Schule gehen - oder auch schwänzen - und nachmittags vor der Glotze oder an den Egoshootern sitzen? Jaja. Wir wissen schon: Normal ist historisch! Aber wissen das auch die Bildungspolitiker?
Wenn ich zuwenig oder zu viele Vieren und Fünfen in den Klassenarbeiten meiner Schüler hatte, wurde ich aufgefordert, die Normalverteilung zu beachten, denn ich hatte wohl falsch bewertet. Gemeint ist die Gaußsche Normalverteilungskurve, die aussieht wie der Katzenbuckel im Odenwald, eine Quellkuppe. Kein Problem: hier ein paar Bewertungspunkte weg, dort ein paar dazu - und schon war das breite Mittelfeld des deutschen Dreiernormschülers wieder im Lot. Gottseidank! Verloren ging dabei das Bewußtsein darüber, was getan worden war: Ich hatte nicht meine Bewertung der Realität angepaßt, ich hatte die Realität unter die Gaußsche Kurve gebracht, um das geliebte Mittelmaß herzustellen. Nicht umsonst ist in Deutschland das bewährte DIN erfunden worden. "Das ist Norm" heißt diese Abkürzung, und die Normierung war ein wichtiges Instrument der Industrialisierung. Da war Deutschland doch ganz groß. Was beschweren wir uns also wegen der PISA-Ergebnisse? Da sind wir doch im internationalen Mittelmaß! Also alles normal - na gut, die Bayern 3+, die Hamburger 3-. Aber soviel Unterschied muß sein. Schließlich wollen wir keine Gleichmacherei! Da könnten wir ja gleich die neue Linke - und wo kämen wir denn da hin!
Schade nur, daß es uns so wurmt, wenn in Finnland normal ist, daß 71% eines jeden Jahrgangs studieren, während es bei uns normal ist, daß es bloß 37% sind. Macht ja nichts. Wir können ja die Intelligenz, die uns fehlt, aus den intelligenteren Ländern importieren. Schade nur, daß wir nicht wissen, wohin mit all den arbeitslosen Industriearbeitern, die wir an unseren Normal-Haupt-Real-Gesamtschulen so richtig unterrichtet und bewertet haben. Die Finnen wollen sie jedenfalls nicht nehmen, hab ich mir sagen lassen. Die machen wohl nicht mehr so viel in Industrie. Die machen jetzt mehr in Wissen.
Bild: Ivan Montero / fotolia

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