Sonntag, 10. Juli 2005

Lafontaine, Begriffsprobleme und gesellschaftliche Krise

1. Der Begriff (hier: Fremdarbeiter) ist nicht das Problem. Die unfruchtbare Debatte auf der Begriffs-Ebene läßt sich vielleicht erledigen mit dem Hinweis auf den UN-Begriff "Wanderarbeiter". Beispielsweise nachzuvollziehen am Briefwechsel zwischen Christian Schröppel (WASG) und Christiane Schneider (PDS).
2. Auch auf der Ebene nationaler Schutzzollpolitik als Abwehr von Erscheinungen sozialer Friktionen ("polnische Schweinezerleger nehmen den hiesigen Fleischern die Arbeit weg") läßt sich kein Lösungsansatz zur Gestaltung von Globalisierung in Richtung Sozialverträglichkeit mehr finden. Es kann gar nicht mehr um die Frage "Globalisierung - ja oder nein" gehen. In der Frage, "ob" gibt es hinsichtlich der Globalisierung keine Option. Optionen gibt es aber auf der Ebene des "Wie". Frei für das Erkennen von Entscheidungsmöglichkeiten wird man erst, wenn man sich von der fruchtlosen "Ob"- Debatte verabschiedet.
3. Dann wäre man aber offen für Gedanken, wie beispielsweise den folgenden: Die wechselseitige Abhängigkeit des Globalen und des Lokalen (bisher noch: Nationalen) als unumkehrbare Realität akzeptiert, könnte man fragen, welche besondere Spezialität die Bundesrepublik im Orchester der Weltarbeitsteilung zu bieten hätte. China ist auf dem Weg, das Bio-Labor der Welt zu werden, Indien hat sein Spezialgebiet schon in der digitalen Dienstleistung. Der "Firma" BRD fehlt aber bislang ein solches "Alleinstellungsmerkmal". Der Unternehmer und Autor Ernst-Wilhelm Händler schlägt vor, es in der Produktion von Bildung und Gesellschaftswissenschaft zu suchen, da es in der Industrieproduktion sowieso, aber auch schon auf den Gebieten Naturwissenschaften und Informationstechnologie verloren sei. Deutschland als sozialwissenschaftlicher Thinktank für die Welt? Immerhin bedenkenswert, diese Idee.

Dienstag, 5. Juli 2005

Ach Finnland - ach Deutschland!

Von Finnland lernen, heißt ... für die deutsche Bildungspolitik offenbar, genau das Gegenteil zu tun: Nochmal zur Schulinspektion: In Finnland hat man 2003 die Schulinspektion als Instrument zur Schulentwicklung abgeschafft ...

Wählerfischen und Politische Bildung

Wer erinnert sich noch daran, daß - vor der Aufregung mit den Bundestagswahlen im Herbst - es erst kürzlich monatelang Aufregung mit anderen Wahlen gegeben hat? Ah ja! Die Wahlen zum Sächsischen Landtag! Da war doch was mit der NPD und mit rechtsextremistischem Wählerpotential, das teilweise durch die NPD ausgehoben worden war zum Schrecken aller etablierten Parteien. Und was soll jetzt falsch daran sein, daß sich andere als die NPD endlich um diese Klientel kümmern, auf daß sie nicht wieder in ihrem Zorn über die Verhältnisse hereinfalle auf antisemitische, rassistische, nationalistische, autoritäre und antirepublikanische Welterklärung?
In der moralisch aufgeregten Debatte über die Zuneigung so vieler Sachsen zur NPD hatten kühlere, analytische Beiträge einen schweren Stand. Zum Beispiel Horst Meier: Er fand, daß man anstatt eines erneuten NPD-Verbotsversuchs eine politische Auseinandersetzung mit Programm und Politik der NPD führen müsse, vor der sich die Parlamentarier gedrückt hatten. "Aber wo, wenn nicht im Parlament, wäre der richtige Ort, sich mit Rechtsradikalen 'geistig' auseinanderzusetzen? Hier muss ganz exemplarisch der offene Diskurs, die harte politische Debatte geführt werden. Mit allen über alles. Wer sich außerstande sieht, mit Rechtsradikalen über die Todesstrafe und die Internierung von Flüchtlingen oder die Holocaust-Gedenkstätte oder den angloamerikanischen Luftkrieg zu streiten, sollte schleunigst vom Parlament ins Grundbuchamt wechseln". Nun müßten sich die Beamten inzwischen im Grundbuchamt ziemlich drängeln, denn zu einer solchen Debatte war man nicht fähig gewesen. Weiter Horst Meier: "Dabei sind die Abgeordneten dieser Parteien noch das kleinere Problem. Schlimmer sind die, die solche nationalen Talente ohne Rücksicht auf Verluste wählen. Eine Partei kann man verbieten. Man kann aber Wählern nicht verbieten, die 'falsche' Partei zu wählen". Richtig gesprochen! Was also ist nicht in Ordnung daran, statt Wahlverbote diesen "rechten Rand", das "Trübe", abzufischen und die "kleinen Leute" anderswohin zu orientieren, nämlich zu einer demokratischen, republikbejahenden Partei, wie zum Beispiel der WASG/PDS?
vertan hat einen schönen Beitrag über des Innenminister Schönbohms politische Bigotterie geschrieben, daran erinnernd, daß man nicht auf Lafontaines Wortwahl allergisch reagieren dürfe, wenn man selbst eben noch vor der Danubia-Burschenschaft Vorträge gehalten hat: "Der Streit um Worte (...) wird langsam absurd, wenn der eine Wolf dem anderen mit dem Rudel droht."
Darf also Herr Lafontaine am rechten Rand im Trüben fischen gehen? Es ist wohl keine Frage des Dürfens. In unserem Politiksystem ist es das Bestreben der Politiker, vor Wahlen Wählerstimmen zu fischen. Was sollten sie auch sonst tun? Und täten sie es nicht, dann wären sie nicht länger Politiker. Sie machen Politik. Sie betreiben keine Politische Bildung . Das Geschäft der Politischen Bildung besorgen andere: die aus dem Erziehungssystem. Lafontaine muß fragen: Wie kriege ich den Wähler? Der Politiklehrer muß fragen: Wie kläre ich den (zukünftigen) Wähler über die politischen Verhältnisse auf? Man sieht: Die beiden Systeme haben nicht viel miteinander zu tun. Der Politiker fischt - mit trüben Methoden, mag sein, und das müßte nicht sein. Aber daß er fischen muß und dazu im Trüben, weil dort auch Fische sind, das kann man ihm doch nicht vorwerfen. Man müßte sich vielmehr Gedanken darum machen, was daran für die Lösung gesellschaftlicher Probleme ungünstig ist, daß das Geschäft der praktischen Politik so ganz und gar nichts mit dem Geschäft der politischen Aufklärung zu tun hat, ja, genauer gesagt, sich diese beiden Geschäftszweige offenbar spinnefeind sind.

Sonntag, 3. Juli 2005

Finnland-Vergleich Nr. 2

Auch Susanne Mayer kommt nicht umhin, ihre Glosse über die Abschaffung der Lehrmittelfreiheit mit einem Finnland-Vergleich zu beschließen. Deutschland, findet sie, "(e)ine Gesellschaft, in der die Kinderzahlen implodieren und eine Mehrheit kinderlos lebt, erklärt sich als nicht mehr zuständig für die Bildung der Jugend." Aber wie schön wäre es "zum Beispiel in Finnland, wo die Gesellschaft alle Kinder mit einem kostenlosen Schulessen willkommen heißt, seit 50 Jahren schon. Warum nicht auswandern ... ?"

Schulinspektoren

"Wenn der Inspektor zweimal kringelt", betitelt Martin Spiewak in der ZEIT Nr. 27 sein "Protokoll einer Begutachtung". (In der Online-Ausgabe heißt es "klingelt", weil der "Setzer" den Text nicht gelesen oder nicht verstanden hat.) Die Inspektoren haben eine Schule besichtigt, indem sie viel schlechten und guten Unterricht gesehen und beurteilt, Eltern und Schüler befragt und die Schule insgesamt bewertet haben. Gesamturteil über die begutachtete Schule: "Sie sind eine gute Schule!" Aber "Inspektor Wilken graut etwas davor, wenn er statt 'zum Vorbild geeignet' 'schwere Mängel' in (einen) Abschlußbericht schreiben muß. In den benachbarten Niederlanden stehen für solche Fälle Tausende Mitarbeiter - Pädagogen, Psychologen, Trainer - bereit, um schwachen Schulen auf die Beine zu helfen (...) Jeder Direktor verfügt dort über ein üppiges Fortbildungsbudget, das er eigenständig ausgeben darf. Diese Architektur der Unterstützung fehlt in Deutschland." So Martin Spiewaks Beobachtung. Mein Kommentar zur Beobachtung der Beobachtung: Die Lehrer wurden von den beobachteten deutschen Inspektoren auch - aber zuletzt - gefragt: "Wenn Sie sich etwas wünschen dürften: Was wäre das?". "Zeit", antworteten die Lehrer. Mir scheint das das wichtigste Inspektions-Ergebnis zu sein. Aber aller Erfahrung nach wird gerade dieses Ergebnis am wenigsten beachtet werden von denen, die über die Konsequenzen der Inspektion zu befinden haben. Und so wird möglicherweise das mit großem Aufwand an Zeit- und Geldressourcen betriebene Schulentwicklungstool "Schulinspektion" in Deutschland etwas zutage fördern, was die, die Schule machen, sowieso schon wissen, aber es wird nicht zu der notwendigen Konsequenz führen, die wäre: die Lehrer von dem unerträglichen Druck zu befreien, eine vierundzwanzig Stunden am Tag funktionierende eierlegende Wollmilchsau sein zu müssen. Mein eigener Einsatz zuletzt: 29 Stunden Fachunterricht pro Woche mit insgesamt 400 Schülern, dazu die Vorbereitung, Abitur, Konferenzen, Klausurkorrekturen, Elterngespräche, Schülergespräche Fortbildungsverpflichtungen ... "Die Lehrer kommen doch allenfalls noch dazu, ab und an das Hamburger Abendblatt zu lesen, und danach sind sie völlig fertig", sagte kürzlich der Direktor eines Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung , und er hat völlig Recht mit seiner Beobachtung. Anders als hierzulande mit den Inspektoren scheint es in Finnland bei der Schulentwicklung zuzugehen, wenn die Mitarbeiter des Instituts "Activity Theory and Developmental Work Research" von Yrjö Engeström, Universität Helsiniki, in eine Schule kommen und zum Auftakt der gemeinsamen Entwicklungsarbeit erst einmal mit den Lehrern zusammensitzen und fragen: "Was ist euer Problem?" Einen spannenden Bericht darüber gibt es in dem Aufsatz von Yrjö Engeström, Can a School Community Learn to Master its own Future? An Activity-Thoretical Study of Expansive Learning among Middle School Teachers, in: ders., Developmental Work Research. Expanding Activity Theory In Practice, hrsg.v. Georg Rückriem, Berlin 2005

Samstag, 2. Juli 2005

Pinking - Hilfe!

Kennt sich jemand mit der Software Pinking (Metaplan) aus und gibt mir einen Tipp, wie ich zum Ausdrucken vergrößern kann?

Mittwoch, 29. Juni 2005

Aggro

Hab ich doch vor wenigen Monaten erst in einem Aufsatz über rechtsextremistische Musik geschrieben, daß HipHop der einzige Musikstil ist, den die Neonazi-Szene sich nicht kopierend einverleibt - alles falsch, schmeißt weg, überholt! Lest das Interview mit Bushido, Murat Güngör und Hannes Loh in der gestrigen SZ, es fördert haarsträubende Entwicklungen zutage. Bushido, selbst Emigrantenkind, hat es mit seinen sexistischen, rassistischen und sadistischen Texten soweit gebracht, daß drei seiner fünf Scheiben auf dem Index gelandet sind, und er wird von jugendlichen Glatzköpfen geliebt... Die beiden anderen Interviewpartner, selbst ehemalige Rapper der 80er Rapgeneration, fragen ihn verzweifelt, wie er denn seiner kleinen Tochter, so er eine hätte, diese Texte erklären wollte. Darauf Bushido: Sie würde hoffentlich sagen: "Papa, du weißt doch, das ist nur ein Lied". Wirklich zum Haareraufen!

Selbstgesteuertes Lernen

Einen spannenden Aufsatz fand ich im Bildungsblog: Stephan Mosel, Self directed learning with personal publishing and microcontent - constructivist approach and insights for institutional implementations. Überzeugend legt der Autor dar, welche Möglichkeiten Blogs und Wikis bieten für die Konstruktion eines "intersubjective, socially shared knowledge". Meiner Ansicht nach besteht außerdem ein entscheidender Vorteil in der Arbeit mit Schülern beispielsweise an einem Text in und für wikipedia darin, daß sie etwas tun, was wirklich gebraucht wird in der Welt außerhalb der Schule. Daß sie keine "Übungsaufgaben" erledigen oder Simulation betreiben, sondern etwas - die Schüler würden sagen - echtes tun. Die Bedeutung dieses Aspekts geht in dem sonst ungeheuer faszinierenden Aufsatz etwas unter. Sehr hilfreich sind außerdem die zahlreichen Links zu grundlegenden und weiterführenden Aufsätzen zum Thema. Ich würde mir sehr wünschen, mal ein Protokoll eines solchen Unterrichts zu lesen, denn ich habe demnächst selbst vor, mit Schülern Politblogs herzustellen.

Jetzt wieder diese Nummer!

"Zu früh" betitelt German-Foreign-Policy.com einen interessanten Kommentar zu den neuesten Versuchen Gerhard Schröders, sich in der Iranpolitik in die Pose des Friedenskanzlers zu werfen. Die SPD setze auf "Neuauflage ihrer friedenspolitischen Selbstdarstellung, mit der sie während des Irak-Kriegs operierte und dann den Überfall gleichzeitig unterstützte."

Sonntag, 26. Juni 2005

Nahostkonflikt und Antisemitismus

Einen lehrreichen, klug geführten Disput gibt es in Form eines offenen Briefwechsels zwischen Robert Wistrich (Jerusalem) und Brian Klug (Oxford und Chicago).
Es geht vor allem um zwei zentrale Fragen, zu denen die Autoren ihre Differenzen mit jeweils bedenkenswerten Argumenten entfalten: 1. Gibt es einen arabischen Antisemitismus? 2. Unter welchen Voraussetzungen ist "Israelkritik" antisemitisch? Viel ist schon geschwätzt worden zu diesen Fragen. Dieser Text hebt sich wohltuend ab vom Geschwätz.

Ach du ahnst es nicht!

Ahmadi Nedschad ist also Präsident des Iran geworden. Hoffentlich versteh ich morgen, warum nur 49% der Wahlberechtigen zur Stichwahlurne gegangen sind. Aber was steht da ? "Die hohe Wahlbeteiligung und die schmetternde Niederlage des alten Fuchses Rafsandschani haben auch Experten überrascht"? Jedenfalls ist jetzt jede Lage niedergeschmettert, denn wo waren die Frauen, die doch für das kleinere Übel stimmen wollten?

Freitag, 24. Juni 2005

Konkret

muß man ab und zu kaufen, denn leider sind die guten Beiträge darin nicht kostenlos im Netz zu haben. In Nr. 7/2005 findet sich eine bemerkenswerte Analyse der derzeitigen Umstrukturierung der Linken durch Georg Fülberth: "Aus alt mach neu. Was taugt das Wahlbündnis aus PDS und WASG?". Die wirtschaftspolitische Konzeption des Bündnisses hält er für "realitiv solide" (Steuererhöhung, Bürgerversicherung) und bescheinigt ihr, daß sie sich "nicht wie die altbekannte keynesianische Litanei liest". Na gut, darüber muß ich noch nachdenken. Besonders interessant aber finde ich den Schlußgedanken: "Aus Sicht der Kapitalistik wohnen wir einer Umgruppierung der - für einige Zeit organisatorisch gespaltenen - sozialdemokratischen Bewegung bei, die nach rechts hin verliert und nach links ausgreift, bis sie in langen Oppositionsjahren neuen Regierungsaufgaben entgegengereift sein wird. Irgendwann wird es dann eine weitere Fusion geben, diesmal zwischen den Erben von Müntefering/Schröder ein-, den Nachkommen der Linksbündnis-Gründer andererseits. So bereitet sich jetzt, in einer schweren Stunde der SPD, ihre spätere Wiedergeburt vor." Das ist ein wichtiges Ergebnis historisch fundierter Politikbeobachtung. Es führt uns wieder vor, daß wir beim Shiften von Gesellschaft mit gaaaanz langen, Generationen übergreifenden Zeiträumen zu rechnen haben. Mindestens.

Quagmire

Während sich hier seit Wochen alles um den Schlamassel der deutschen Regierungskrise dreht, erweist sich frühmorgendliche Gymnastik nicht nur als körperliches Fitnesstraining - wenn man dabei Deutschlandfunk hört. Heute, 6:12 in den Informationen am Morgen interessante Nachrichten von außerhalb der deutschen Provinz: Donald Rumsfeld hatte sich dem Streitkräfteausschuß des Senats zur Befragung über den Irakkrieg stellen müssen und bekam deutlichen Gegenwind von mehreren Senatoren. In ihren scharfen Attacken verlangten vor allem Edward Kennedy und Robert Bird den Rücktritt Rumsfelds. "Wir haben genug von Ihren ... smarten Antworten", so Bird. Kennedy setzte die Situation der USA im Irak mit derjenigen am Ende des Vietnamkriegs gleich: " We are now in a ... seemingly intractable quagmire."
Quagmire ( = Morast, Schlamassel) war das Codewort für die desaströse Lage Amerikas, die schließlich zum Abzug aus Vietnam führte. Die Kritik im Senatsausschuß spiegelt die Stimmung der amerikanischen Bevölkerung wider: Nach neuesten Umfragen halten nur noch 39 % der Amerikaner den Irakkrieg für gerechtfertigt. Immerhin was Erfreuliches.

Dienstag, 21. Juni 2005

Kommunikationsmedien

Ein erstaunliches Beispiel für die gesellschaftliche Bedeutung des Internet - hier konkret der Blogosphäre - ist der Iran. "Im Internet formiert sich eine unberechenbare Opposition", 100 000 Blogs soll es im Iran schon geben. "Diese Blüte ist das paradoxe Ergebnis einer Repressionswelle", bei der in den letzten Jahren "über 100 Publikationen verboten (wurden), darunter 41 Tageszeitungen ... Die Blogs übernehmen Funktionen, an deren Erfüllung die staatlich kontrollierten Printmedien gehindert werden", resümiert Jörg Lau in seinem Aufsatz "In Weblogistan".

Montag, 20. Juni 2005

Naivität?

In der SZ heute schreibt Tomas Avenarius über die Muslimbrüder (S.2). Merkwürdig: Ich kenne sie aus ihren Dokumenten und ihrer Geschichte als älteste und einflußreichste islamistische, antisemitische Organisation. Von ihrer antisemitischen Programmatik und Geschichte erfährt man bei Avenarius gar nichts. Der Begriff kommt einfach gar nicht vor. Zwar sei sie die Mutterorganisation auch der Hamas, diese sei jedoch nur "in den Augen der Amerikaner und Israelis eine Terrorgruppe". Aha. In den Augen Avenarius ist sie was? Das bleibt offen, aber zu denken nahegelegt wird der Gegenbegriff Freiheitskämpfer. Die harmlosen Muslimbrüder jedenfalls sind, das läßt er eine "deutsche Expertin Ives Lübben" feststellen, " eine 'bürgerliche, konservative und sozial engagierte Kraft' ohne revolutionäres Potenzial." Sie werden in Avenarius' Artikel geführt als demokratische Opposition, unterdrückt vom Mubarak-Regime. "Schwer auszumachen" sei, so A.,"wo die Muslimbrüder ideologisch wirklich stehen." Für mich ist es nicht schwer auszumachen. Der geistige Führer dieser "Bruderschaft", Sayyid Qutb, hat mit seinem Pamphlet "Unser Kampf gegen die Juden" 1951 eine Art Manifest der Muslimbrüder geschrieben. In immer neuen Auflagen findet diese Schrift in allen Ländern des arabischen Nahen Ostens große Verbreitung. Naja, Herr Avenarius muß ja nicht alles kennen, worüber er schreibt...

Sonntag, 19. Juni 2005

"Schulautonomie"

Wenn Luhmann Recht hat - und er hat ja, leider - mit seiner Beschreibung, daß Pädagogik - nicht Sozialisation - so funktioniert, daß sie, statistisch gesehen, zur Hälfte gelingt, zur Hälfte scheitert, - wenn man das Wirken der Kontingenz mal so darstellen darf -, dann

- - ist die pädagogische Arbeit für den Lehrer nur zu ertragen, wenn er das Scheitern als zum Funktionieren gehörig, also auch als zum Gelingen beitragend interpretieren kann (denn wer arbeitet sich sonst freiwillig krumm unter der Prämisse, daß die Hälfte seiner Bemühungen Ausschuß produziert?),

- - bedeutet das gegenwärtige Optimierungskonzept der Schulaufsicht, genannt "Outputsteuerung", "Standardsicherung" und "Ziel-Leistungs-Vereinbarung", den Versuch, mit administrativem Befehl das notwendig zum Funktionieren des Systems gehörige "Scheitern" zu eliminieren, also ein Verbot, die Scheiternsfälle als normale Produkte insgesamt gelungener Arbeit zu verbuchen. Die Schulaufsicht lastet also in einem Ausmaß wie nie zuvor, die unerwünschten Konsequenzen des Systemdefizits den einzelnen Schulen, dem einzelnen Lehrer an. (Früher wurden sie den Schülern selbst zugeschrieben.) Das ist, was sie meint mit "selbstverantworteter Schule" - ihrem Begriff für Schulautonomie. Damit die Autopoiesis des Erziehungs-Systems durch diese systemblinde Vorgabe nicht zum Erliegen kommt, oder anders gesagt, sich nicht alle Lehrer aus Verzweiflung über ihr Scheitern aus den Fenstern der Schulen in den Tod stürzen, wird die Administration die Standards so setzen müssen, daß sie in der Regel - also auch in den Scheiternsfällen - erreichbar sind. Ob dadurch die Generation der Jungen lernt, was sie lernen muß, um ihre Gegenwart und Zukunft zu gestalten, ist eine ganz andere Frage. Aber immerhin ermöglicht die Systemadministration dann in ihrem kostenverschlingenden Aufwand des Planens und Neuformulierens der Systemcodes wenigstens, was sowieso und auch ohne diesen Aufwand stattfindet: die Praxis des Schulemachens in Form von Unterricht als einem Lavieren von einem Kommunikationsereignis zum nächsten. Rausgeschmissenes Geld also? Vielleicht wird schließlich an diesen Kosten der Administration das Erziehungssystem in seiner gegenwärtigen strukturellen Verfassung zugrunde gehen, weil es nicht mehr zu finanzieren ist.
Bild: Ivan Montero / fotolia

shift.

Weblog zu Schule und Gesellschaft

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Impressum

Suche

 

Archiv

Juli 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Nochmals danke
... für diesen Text als Erwiderung für ale jene, die...
bernd (Gast) - 25. Feb, 10:32
Hey, hab grad deinen...
Hey, hab grad deinen alten Blog wiedergefunden! Obwohl...
Karsten (Gast) - 2. Jul, 16:23
Wordpress
Hmm... warum ziehts denn immer alle zu Wordpress? Find...
Gerlinde (Gast) - 26. Jun, 09:56
Bin momentan Referendarin...
Bin momentan Referendarin in Baden-Württemberg und...
Anja (Gast) - 28. Apr, 12:07
Passiert hier in naher...
Passiert hier in naher Zukunft noch etwas oder wirst...
abschluss - 20. Mai, 17:45

Status

Online seit 7344 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 29. Jan, 11:54

Credits

Web Counter-Modul


Antisemitismus
Die Gegenwart der Vergangenheit
Eigene Papiere
Erziehungssystem
Gesellschaftstheorie
Kultur
Lernen
Neue Medien
Ökonomie und neue Gesellschaft
Politik
Rechtsextremismus
Schulentwicklung
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren