Dienstag, 10. Januar 2006

Einsichten

Hätte ich mal früher lesen sollen! Enttäuschungen erspart sich, wer rechtzeitig die fünf Schritte eines Projekts als systemeigenen Mechanismus in Rechnung stellt
  1. Begeisterung
  2. Verwirrung
  3. Suche nach den Schuldigen
  4. Bestrafung der Unschuldigen
  5. Auszeichnung der Nichtbeteiligten
aus: Paul Ackermann, Bürgerhandbuch, Wochenschau Verlag 1998

Sonntag, 1. Januar 2006

Heine in Hamburg

Selten gehe ich ins Theater. Noch seltener gefällt mir, was ich dort zu sehen bekomme. Aber ich liebe Heine. Umso mehr bin ich bezüglich Heines auf dem Theater, das ich immer mit Skepsis betrete, empfindlich.
Die neueste Produktion des Theater N.N. Hamburg
"Heinrich Heine: ... und doch!" kann ich aber wärmstens empfehlen. Von Heinekennern, Theaterprofis und politisch verständigen Menschen gestaltet, liefert diese Produktion ein überzeugendes Heine- und Heine-Deutschlandbild.

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Fast eine Revue für Schauspieler und einen Musikanten
rund um eine heimatlose Dichterseele
Buch und Regie: Dieter Seidel
Mit Miriam Hensel, Wolfgang Klinke, Klaus Robra und
Hermann Kluck am Klavier und anderen Instrumenten
"Heinrich Heine - auferstanden als ironischer Betrachter seiner selbst - erzählt ungehalten, wohlwollend, boshaft, liebevoll, ironisch, verträumt, kritisch und sehnsuchtsvoll über sein bizarres Verhältnis zu seinem Vaterland. Dabei begegnet er dem Onkel Salomon, begehrenswerten Frauen, seiner großen Liebe Mathilde, seiner Mutter aber auch der Göttin Hammonia ...
Und er trifft auf einen Musiker, der von Heines Texten inspiriert vielfältig musiziert - vom einfachen Volkslied über die Ballade bis zum Jazz.
Gefördert durch die Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg
Wolfgang Klinke, der Heine zum Verwechseln ähnlich sieht, durchwandert diese Stationen sehr überzeugend und wandlungsfähig: Mal springt er in voller Lebenslust über die Bühne, mal zieht er sich melancholisch in sich selbst zurück oder grantelt schmerzverzerrt aus seinem Krankenbett." (DIE WELT)

Der besondere Höhepunkt: Die vollbärtige Göttin Hammonia läßt den Dichter in Deutschlands Zukunft sehen - Medium dafür ist ihr Thron, der sich als gut gefüllter Nachtstuhl entpuppt ... (aus "Deutschland, ein Wintermärchen")

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Aufführungstermine in 2006
26.01. - 29.01. / 02.02. - 05.02. / 09.02. - 12.02. / 16.02. - 19.02.2006

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Freitag, 23. Dezember 2005

3 Königinnen

Aus den Tiefen des Amts für Bildung erreichte mich über das Demokratiebüro diese Powerpointgeschichte mit dem Titel DreiheiligeKoeniginnen (pps, 148 KB)

Sonntag, 18. Dezember 2005

Religiosität behindert

offenbar dabei, im anderen Menschen grundsätzlich das eigene Gattungswesen zu erkennen. Das gilt auch für die christliche Religion. Die neue Heitmeyer-Studie "Deutsche Zustände" Nr. 4, die am Donnerstag der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, bringt es an den Tag. Bezüglich der Religionszugehörigkeit derer mit Vorurteilen gegenüber Anderen kommt die Forschungsgruppe zu folgendem Ergebnis: "Christen - Protestanten wie Katholiken - sind gegenüber einer Reihe von schwachen Gruppen der Gesellschaft feindseliger eingestellt als Konfessionslose."

Zwar konnten die "realsozialistischen" Länder seinerzeit ihre mißglückten Versuche, die Religion abzuschaffen, zur Begründung nicht auf eine wissenschaftliche Evaluation wie diese stützen. Aber daß Religion nicht gerade hilfreich dabei ist, das Menschengeschlecht zu emanzipieren - das weiß man schon seit der Reconquista, seit den Bauernkriegen und der Inquisition.
Trotzdem ist es wieder Mode geworden - gerade seit dem Fall der realsozialistischen Länder -, von religiösen (rsp. spirituellen) Bedürfnissen zu reden als Grundbedürfnisse wie Nahrung, Sinn, Sex und Dach überm Kopf. Nichts scheint inzwischen so verwerflich zu sein, wie die "Verletzung religiöser Gefühle".

Sicher lassen sich Dummheit und Bosheit (und eben auch Religiosität) nicht durch Dekrete und das Schleifen von Bethäusern aus der Welt schaffen. Aber die Heitmeyer-Studie zeigt - und das ist wichtig: Religion ist kein Bedürfnis, Religion - jede - ist ein Antwortsystem auf komplizierte Fragen. Und offensichtlich nicht das beste.

Freitag, 2. Dezember 2005

Respekt

In der Sternserie "Die neue Sehnsucht nach alten Werten, Teil 4. Respekt und Anstand", in der auch viel gequirlter Unsinn zu lesen ist, versteckt sich in einem Bericht über das Forschungsprojekt RespectResearch der wichtige Hinweis auf den obersten Wert der HipHop-Szene. Das Foto eines Graffitis in Düsseldorf illustriert die Seite: "Respect must come." Erinnert werden in diesem Zusammenhang auch die bekannten Zitate aus den jüngsten Ereignissen der Pariser Banlieue: "Geld ist nichts, Respekt ist alles" und "Lieber sterben als auf den Knien leben".

Nun spricht der Stern ja gerne über Dinge, die so in der Luft und in der öffentlichen Debatte herumliegen. Aber ebenso gerne bringt er anstatt auf den Punkt alles wieder durcheinander, was doch schon beinahe klar war:
Denn weder ist die Sehnsucht neu, noch sind die Werte alt. Andersherum wird ein Schuh draus: Die Sehnsucht nach Achtung statt Ausgrenzung, Diskriminierung und Mißhandlung ist so alt wie Ausbeutung und Unterdrückung in der Menschheitsgeschichte alt sind. Aber der Wert Respekt als gesellschaftliche Norm durchgesetzt mit Wirkung für alle - das wäre das Neueste überhaupt. Es wäre gleichbedeutend mit dem Ende aller Ausbeutung.

Eine Ahnung davon, wie es sein könnte, erfährt man aus der Antwort einer finnischen Schülerin, die - von einer Wiener Schuldirektorin auf Besuch gefragt, warum sie so gerne zur Schule ginge - sagte: "Bei uns wird niemand beschämt."

Dienstag, 29. November 2005

Medienrealität in der Schule

Heute wieder mehr das Cyberspace nach Brauchbarem abgeleuchtet, denn irgendetwas Produktives gemacht. Gefunden habe ich eine Schule, die sich ein Blog angelegt hat. Aber was finde ich da? Der Administrator kontrolliert alle Beiträge, Diskussion ist in Foren verwiesen, deren Themen identisch mit den Unterrichts- und Projektthemen sind, und die Schülerkommunikation will nicht recht in Gang kommen. Kein Wunder! So ist es mehr eine leichter zu handelnde Website, denn ein Meinungsaustausch. Tja - wenn man alles erst als Beitrag "anmelden" muß, und der Beitrag dann auch noch zensiert werden kann, wozu sollen die Schüler dann überhaupt schreiben? Die meisten Beiträge stammen von dem, der wohl das Schulblog "pflegt" - klar ein Lehrer. Die "Ecke" für die Schülervertreter bringt nur deren Namen. Noch nicht mal, was sie vorhaben oder machen, geschweige denn eine Diskussion darum.

In den OECD-key-competencies (S. 12) steht dazu, was ein etwas ausführlicheres Zitat lohnt:
"Die interaktive Anwendung von Medien ... erfordert mehr als den Zugang und die technischen Kenntnisse für den Einsatz des "Werkzeugs". ... Die Menschen sollten ebenfalls Kenntnisse und Fertigkeiten neu entwickeln und anpassen. Dies setzt sowohl eine Vertrautheit mit dem Werkzeug voraus als auch ein Verständnis dafür, wie es die Art und Weise der Interaktion mit der Umwelt verändern, und wie es zum Erreichen von Zielen eingesetzt werden kann. In diesem Sinne dient ein Werkzeug nicht allein der passiven Übermittlung, sondern vielmehr einem aktiven Dialog zwischen dem Individuum und der Umgebung.
Menschen treten mit der Welt durch kognitive, soziokulturelle und physische Medien und Mittel in Verbindung. Die Art dieser Interaktion wiederum bestimmt, wie sie die Welt deuten und Kompetenzen darin erwerben, mit Transformation und Wandel umgehen und auf langfristige Herausforderungen reagieren. Die interaktive Anwendung von Medien und Mitteln eröffnet neue Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen und mit ihr in Beziehung zu treten."

Daß diese Formulierung als kleinster gemeinsamer Nenner der OECD-Bildungsminister gegenüber der Praxis noch derart fortgeschritten sein kann - selbst gegenüber einer Schule, die medial offenbar ganz weit
vorne liegt, will man spontan nicht für möglich halten.

Natürlich gibt es in diesem Blog auch keine Anzeige, ob und wo ein frischer Kommentar eingetroffen ist. Es gibt nur eine Anzeige für den Administrator: "ungelesener Beitrag" - aber nicht fürs Publikum.

Montag, 28. November 2005

Empörende Kontinuität

Die BRD - pardon: Deutschland! - hat sowohl Diskontinuität als auch Kontinuität zu ihrer - seiner - Vorgängergesellschaft, dem Deutschen Reich Nr. 3 - sprich der NS-Gesellschaft. Hartnäckig scheinen sich die Kontinuitäts-Aspekte vor allem in der Bundeswehr zu erhalten, bzw. im Umgang mit dem Erbe der Deutschen Wehrmacht - konkret: im Bundesbesoldungsgesetz vom März 1992.
Einen Bericht über ungeheuerliche Identifikations-Praxis mit der NS-Armee kann man in der aktuellen Zeit lesen - leider mal wieder nicht online -: In der Ausgabe Nr. 48, S. 21 ist eine gekürzte Fassung des Artikels "Die Braunlage" von Daniela Dahn abgedruckt, der im Kursbuch Nr. 162 "Ritter, Tod und Teufel" heute erschienen ist.
Darin wird z.B. aufgedeckt,
  • daß "militärische Ehren (etwa bei Begräbnissen) neben Bundeswehrangehörigen auch ehemaligen Berufssoldaten der Deutschen Wehrmacht, der Reichswehr und der Armeen und der Marine des Kaiserreichs zustehen, nicht aber einstigen NVA-Angehörigen", es sei denn, sie hätten vorher auch in der Wehrmacht gedient
  • daß "nach wie vor geächtet sind diejenigen Militärs, die zu den Partisanen, zur Résistance oder zu den Truppen der Alliierten übergelaufen sind, die die Zivilbevölkerung gewarnt oder gar die eigenen Soldaten über die Lautsprecher des Nationalkomitees Freies Deutschland aufgefordert haben, ihre Waffen gegen Hitler zu richten, wie etwa Graf Heinrich Einsiedel. Sie alle gelten bis heute als Kriegsverräter. Ihre Jahre im Widerstand werden nicht auf die Rente angerechnet."
  • daß "das Bundesbesoldungsgesetz vom März 1992 (...) alle öffentlich-rechtlichen Dienstherren in Nazideutschland und in den besetzten Gebieten gemäß Art. 131 des GG weiterhin als rentenrelevant an(erkennt), während 'systemnahe' DDR-Angestellte Abstriche bei der Rentenberechnung hinzunehmen haben. So wurde einem Dozenten einer Ingenieur-Fachschule mitgeteilt, dass seine DDR-Rente von 1200 Mark eingefroren werde, bis überprüft sei, ob sie auf 'Unrechtsentgelten' beruhe. Er bekam zunächst nur eine Anhebung um etwa 100 Mark. 1994 erfolgte die Neuberechnung nach dem Sozialgesetzbuch VI. Nun holte der Ingenieur seine Vergangenheit als junger Ministerialbeamter in Görings Luftfahrtministerium ein. Den alten Mann traf fast der Schlag, aber vor Freude: Die monatliche Rente betrug nun 4997 Mark, und obendrein gab es auch noch eine Nachzahlung von 149 900 Mark."
Wie war das? Wir sind ein Vorbild für die Welt in der "Vergangenheitsbewältigung"? Das möchten wir wohl gerne! Und gerne läßt sich die Öffentlichkeit dieses auch noch mit jüdischem Siegel versehen, denn dann gilt es besonders und wäscht die Weste so weiß, weißer gehts nicht. Vielleicht sollte man Daniel J. Goldhagen und Avi Primor, deren Persilscheine für die geläuterte bundesdeutsche Gesellschaft immer gern genommen und zitiert werden, doch mal den Aufsatz von Daniela Dahn zukommen lassen, damit sie mit der Scheinvergabe etwas vorsichtiger werden.

Der ZEIT immerhin ist dieser Vorabdruck hoch anzurechnen. Und als optimistischer Pessimist hoffe ich mal wieder, daß es etwas bewirkt - nämlich einen entsetzten Aufschrei in der Öffentlichkeit, die auf sofortige Gesetzesänderungen dringt. (Aber womöglich verhalte ich mich damit auch nur wie Goldhagen und Primor - man kann es einfach nicht lassen mit dem Glauben an das Gute im Deutschland.)

Du bist Deutschland - Bundesbesoldungsgesetz vom März 1992!

Montag, 14. November 2005

Hamburger Bildungsexperten in Finnland

Eine Reisegruppe hochkarätiger Bildungsexperten aus Hamburg besuchte im April diesen Jahres Jyväskylä, eine Stadt in Zentralfinnland, um das finnische Schulsystem und besonders die finnische Lehrerbildung kennenzulernen. Zu der sechsköpfigen Gruppe gehörten Professoren der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Hamburger Universität ( Prof. Dr. Karl Dieter Schuck, Prof. Dr. Eva Arnold, Prof. Dr. Reiner Lehberger), der Finnougrist Prof. Dr. Holger Fischer sowie der Direktor des Instituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg, Peter Daschner und der Leiter der Reform der Lehrerbildung am LI, Oberschulrat Aart Pabst.
Der bisher unveröffentlichte Reisebericht (pdf, 939 KB) ist sehr informativ und spannend zu lesen, zeigt er doch die Unterschiede in der Bildungsstruktur sowie in Inhalt und Organisation der Lehrerausbildung zum hiesigen System, die entscheidend für den Erfolg des finnischen Bildungswesens sind. Prof. Schucks Fazit im Anhang des Reiseberichts:
"Im Ganzen folgt das finnische System meinem Eindruck nach viel mehr den individuellen Bedürfnissen nach sozialer Anerkennung, umfassender Unterstützung und gesellschaftlicher Teilhabe. In einem solchen System Schüler und Lehrer sein zu dürfen, halte ich schon für attraktiv, vor allem dann, wenn das Schulleben in der realen Schule tatsächlich alltäglich so gestaltet wird, wie es in einer Folie der Schulverwaltung von Jyväskylä heißt: 'Today we are growing together into the future'".
Das muß man sich als deutscher Lehrer oder Schüler mal auf der Zunge zergehen lassen: Es ist attraktiv, Lehrer zu sein - es ist attraktiv, Schüler zu sein. Traumhaft!

Sonntag, 6. November 2005

Schildbürgerstreich

definiert Wikipedia als umgangssprachliche Wendung für eine "aberwitzige und irreführende Regelung". Genau diese bekommen wir in der Föderalismusreform, wie sie seit Freitag von der Koalition "in trockene Tücher" gebracht wurde. Begeistert sind jedenfalls die beteiligten Schildbürger. Die taz hat den Streich aus den Tüchern ausgewickelt :
"Praktisch alle Bildungskompetenzen, egal ob in Schule oder Hochschule, sind nun ganz und gar in die Zuständigkeit der Länder gewandert. Das ist ein schlechter Witz! Den Ländern fehlt das Geld und, mit Verlaub, der Grips, um vernünftig mit dem Thema umzugehen. Das haben sie in der Vergangenheit nachdrücklich bewiesen. Der finanzielle und intellektuelle Zustand der ländergeführten Bildung ist erbärmlich - das beginnt bei tropfenden Dächern und endet beim systematischen Verstärken vorgefundener sozialer Ungleichheit. Der teure Rohstoff Bildung ist viel zu wichtig für Gesellschaft und Wirtschaft, als dass ihn die Bundesländer vergeuden dürften."
Hatten wir nicht gerade eben die erschreckenden Ergebnisse der PISA 2003 - Studie zur Kenntnis nehmen müssen? Ist das die politische Antwort darauf?
Ah, das ist Anknüpfen ans nationale Erbe! Beim Umzug nach Berlin seinerzeit hat die politische Klasse nicht nur Bonn sondern auch Schilda mit unter die Reichstagskuppel gebracht.
Vorbildlich! Gratulation! Denn, um nicht die interessantesten Events zu versäumen, dürfen wir auf keinen Fall die Bildungskatastrophe in den Griff bekommen, bevor es hier so zugehen wird wie derzeit in Frankreichs Vorstädten.

Montag, 31. Oktober 2005

Bericht von der Fachtagung

„Demokratieerziehung in Hamburg“ vom 25.-29.10.05 am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg

In seinem öffentlichen Gespräch mit Reinhard Kahl am Abend des 25. Oktober machte Prof. Wolfgang Edelstein zum Auftakt der Tagung deutlich, daß Demokratie nicht bloß eine Sache der Institutionen und Gremien ist, sondern eine Lebensform, die nur gelernt werden könne, indem sie stattfindet.
Seine Aufforderung, Verbündete zu suchen für die Entwicklung der Hamburger Schule zu einer demokratischen Schule für Alle, stellte sich als Hintergrund-Motto der gesamten Tagung heraus.
Tatsächlich boten die intensiven Arbeitstage im Landesinstitut mit drei Referaten und daran anschließenden Diskussionsforen, einem Vortrag, mit über 30 Workshops und ebensovielen Infoständen sowie einer abschließenden Talkrunde zum ersten Mal überhaupt die ausgezeichnete Gelegenheit, Kommunikations- und Kooperationspartner – Verbündete also – in allen Gruppen innerhalb der Institution Schule sowie in der außerschulischen Jugendpädagogik an einem zentralen Ort kennen zu lernen, dabei Kontakte zu knüpfen, sich über die Grenzen des eigenen Praxisraums hinweg auszutauschen und Verabredungen für eine Zusammenarbeit zu treffen. Diese Chance war der Hauptgewinn der Tagung, und sie wurde reichlich genutzt. Ein weiterer wichtiger Erfolg der Tagung ergab sich aus der Bereitstellung einer offenen Atmosphäre, in der öffentlich kontrovers diskutiert und produktiv gestritten werden konnte. Dabei wurden die Kernprobleme und –fragen deutlich, die gelöst werden müssen auf dem Weg zu einer demokratischen Lernkultur und einer Schule für Alle.

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Schüler einer 10. Realschulklasse präsentieren das „Textil-Projekt“, eines der Projekte "Sozial macht Schule", initiiert und begleitet durch Rainer Micha vom Arbeiter Samariter Bund.


Die Workshops und Infostände spiegelten die Vielfalt dessen wider, was in Hamburg an Projekten in Schulen, Stadtteilinitiativen und Verbänden mit Kindern und Jugendlichen im Bereich demokratischen Engagements existiert. Dabei haben sich auch beeindruckende Kooperationsprojekte entwickelt, wie beispielsweise das Projekt „Dialog der Urenkelinnen und Urenkel“, ein Projekt der Initiative „Sozial macht Schule“ des Arbeiter Samariter Bunds. Eine Klasse der Schule „Charlottenburger Straße“ hatte in Hamburger Archiven über tschechische Zwangsarbeiter geforscht, mit den Überlebenden in Tschechien Kontakt aufgenommen und einen Dialog begonnen, der auch zu gegenseitigen Besuchen geführt hatte. Seit 2002 wird das Projekt außerdem von Prof. G. Mitchell und Studierenden der Hamburger Universität wissenschaftlich begleitet und ist in einem Film dokumentiert worden. Dies ist nur eines der Beispiele, daß Schule, Jugendhilfe und Universität erfolgreich kooperieren können.

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Infostand des Projekts „Kinderrechte und Stadtteilradio“ in der Initiative "Nachbarschaft und Schule Eimsbüttel (NaSchEi)“ mit Ragna Riensberg und Yvonne Vockerodt


An manch anderen Projekten – die darum jedoch nicht weniger gelungen und beeindruckend sind – wird aber auch deutlich, wie mühsam und schwierig es ist, eingefahrene, sich sperrende Strukturen aufzubrechen, um Kooperation zu ermöglichen und die nötige Unterstützung zu gewinnen. Ragna Riensberg und Yvonne Vockeroth, die mit Workshop und Infostand ihr überaus erfolgreiches Projekt Kinderrechte – Stadtteilradio präsentierten, wünschen sich beispielweise eine bessere Zusammenarbeit mit der Lehreraus- und Fortbildung, damit die Initiative an mehr Schulen bekannt und genutzt werden könnte. Auch die nötige finanzielle Förderung ergibt sich nicht von selbst. Weiterentwickelt zu einem Service-Learning-Projekt könnten hier auch ältere Schüler mit den Kindern im Stadtteilradio arbeiten. Das „Radio von Kindern für Kinder“ ist ein Projekt von und für Vorschul- und Grundschulkinder. In bisher über 80 Sendungen haben Kinder über ihre Themen gesprochen und Hörszenen gespielt. Kinderrechte, Gewalt, Gesundheit, Spielmöglichkeiten, Zukunft, Ernstgenommenwerden von den Erwachsenen - das sind die Themen, die in der „Kinderanhörung“ zur Sprache kommen. (Freies Senderkombinat 93,0 khz, jeden 3. und 4. Donnerstag im Monat.) Beeindruckend ist, wie professionell die Kinder dabei nicht nur mit dem Medium Radio umgehen, sondern auch, wie souverän sie Politik machen, indem sie ihre Meinungen artikulieren, begründen und argumentieren. „Kinder sind Experten für ihre Bedürfnisse“, sagt Ragna Riensberg, und die überzeugenden Radiospots der Kinder geben ihr Recht. Diese Einsicht muß in der Schule erst noch ankommen!

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Im Workshop für Schulleitungsmitglieder von Claudia Wetterhahn und Dr. Gabriele Kandzora stellten sich 40 Teilnehmer dem Paradoxon "Schule demokratisch leiten". Es war der Workshop mit der höchsten Teilnehmerzahl. Trifft sich hier besonderer Problemdruck mit hoher Veränderungsbereitschaft?


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Nachgespräche am Ende eines Forums

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Demokratische Streitkultur

In ihrem spannenden Vortrag machte Prof. Anne Sliwka die großen Chancen des Service-Learning nicht nur für den Erwerb sozialer Kompetenzen, sondern auch für Wissenserwerb überhaupt deutlich: Service-Learning setzt an echten Bedürfnissen der sozialen Umwelt – inner- oder außerhalb der Schule – an. Die Schüler arbeiten und lernen zugleich und sind durch die Identifikation mit ihrer – meist selbstgewählten – Aufgabe, hochmotiviert. Sie erleben, daß sie wirklich gebraucht werden. Unterricht ist hier keine simulierte Welt, in der nur für später trainiert wird, und die Schüler werden zu Experten dessen, was sie tun. Daß sie dabei auch noch lernen, im Team und eigenverantwortlich zu lernen, versteht sich dabei schon fast von selbst. Anne Sliwka erläuterte das Prinzip an einer Fülle von Beispielen. Eines sei hier stellvertretend genannt, weil es besonders deutlich macht, daß es sich bei Service-Learning nicht um caritative Projekte herkömmlicher Art handelt: „Philadelphia Math Trail“ ist ein Service-Lerning-Projekt von Schülern einer 10. für Schüler der 9. Klasse. In einer Stadtrallye müssen anhand städtischer Objekte mathematische Aufgaben gelöst werden, wie z.B. die Berechnung der Höhe einer Riesenskulptur. Ob die Schüler dabei das Service-Learning-Projekt erst selbst (er)finden oder in schon bestehende Projekte nachwachsen, oder ob Service-Learning generell freiwillig sein müßte oder gerade als Unterrichtsprinzip in der Schule verpflichtend gemacht werden sollte – das scheint eine müßige Diskussion zu sein, denn – wie in der Diskussion zum Vortrag deutlich wurde - , wichtig ist, daß die Schüler eine Aufgabe finden, die sie als ihre eigene Aufgabe begreifen können, mit der sie einen persönlichen Sinn verbinden können. Diese Art des Lernens funktioniert deshalb mit hohen Ergebnissen, weil sich der persönliche Sinn des einzelnen Schülers mit der gesellschaftlichen Bedeutung einer Arbeit/Lernaufgabe deckt. In anderen Ländern – z.B. in Kanada – ist diese Form des Lernens darum seit vielen Jahren etabliert und die Ergebnisse sind wissenschaftlich evaluiert. Etliche Schulen arbeiten ausschließlich auf der Basis des Service-Learnings. Daß die Schüler dabei vieles, was sie für die erfolgreiche Durchführung ihrer Projekte brauchen, auch in Trainings, im Lesen von Papieren oder Internetseiten lernen oder sich auch mal einen Vortrag anhören müssen, kann man sich vorstellen. „Alte“ Lernmethoden haben dadurch also keineswegs ausgedient, denn: Form follows function!

Die Frage ist also längst nicht mehr die, ob Service-Learning als Unterrichts-Prinzip in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen muß, um die Probleme der Hamburger Schule zu lösen und die Lernergebnisse aller Hamburger Schüler deutlich zu verbessern. Das Problem besteht vielmehr darin, wie man diese Form einer neuen Lernkultur in die Hamburger Schule implementieren kann. Die Schwierigkeit, all diese vorgestellten Projekte in der Schule zu etablieren, ist immer dieselbe: Sie rein additiv zum bestehenden Unterrichtsprogramm zu ergänzen, ist selbst dann, wenn es Sinn machen würde, schwierig. Besonders deutlich wurde dies im Diskussionsforum „Ehrenamtliche Tätigkeit – eine Bildungsressource“. Die Vertreter der Verbände klagten darüber, daß mit der flächendeckenden Einführung der Ganztagsschule einerseits Probleme auftauchen, die ehrenamtliche Tätigkeit außerhalb der Schule unterzubringen. Hier wünscht man sich eine bessere Kooperation zwischen den Institutionen.
Andererseits sind Jugendliche aber zu einem erstaunlich hohen Prozentsatz bereit, etwas Sinnvolles für ihre soziale Umgebung zu tun. Hier zeigt sich auch, daß sie durchaus nicht Demokratie- oder Politik-müde sind. Deutlich wurde auch, daß Jugendliche sich zunehmend lieber in kurz- oder mittelfristigen besonderen Projekten engagieren wollen anstatt ein Ehrenamt im traditionellen Sinne als Lebensaufgabe in der Freizeit anzunehmen. (Dies spricht ebenso sehr für die Form des Service-Learning.) Die Frage lautete also, wie können unter den bestehenden Strukturen der Institution Schule Handlungs-Spielräume genutzt und erweitert und die Strukturen so umgebaut werden, daß die Erfordernisse der Gesellschaft – z.B. soziale Bedürfnisse im Stadtteil – mit den Lernbedürfnissen und –erfordernissen der Schüler in Einklang gebracht werden? Darüber, wie diese Aufgabe mit dem Ziel der Demokratieerziehung in Einklang zu bringen sei, wurde zum Teil kontrovers und heftig debattiert.

In der abschließenden Talkrunde stellte sich dieses Problem dank der provozierenden Auftaktfrage des Moderators Herbert Schalthoff besonders zugespitzt: „Wie können Sie sich im Landesinstitut eine Tagung zum Demokratielernen leisten, wo wir doch seit der Veröffentlichung der schlechten PISA-Ergebnisse weiß Gott ganz andere Bildungsprobleme haben?“, fragte Schalthoff und löste damit eine höchst lebendige und fruchtbare Diskussion unter den Teilnehmern im Podium sowie mit dem Auditorium aus.
In den vielfältigen Beiträgen von Lehrern, Fortbildnern, Eltern- und Schülervertretern, sowie der Vertreter von Stadtteil-Initiativen, wie z.B. Rüdiger Winter vom „Billenetz“ für lebenslanges Lernen, wurde klar, daß Schule vor der Aufgabe eines grundlegenden Wandlungsprozesses steht. „Schüler haben traditionell in Deutschland eine große Distanz zur Schule“, befand Dr. Gabriele Kandzora, Didaktische Leiterin der Erich-Kästner-Gesamtschule. „Wenn es uns nicht gelingt, eine Schule zu schaffen, die die Schüler viel mehr beteiligt an allem, was mit ihnen in der Schule geschieht, dann wird es auch keine Verbesserung der Lernergebnisse geben“, urteilte sie und machte damit deutlich, daß ohne demokratische Partizipation innerhalb der Schule (Schul-„Innenpolitik“) Schüler weder zu demokratisch handelnden noch zu wissens- und leistungsstarken Persönlichkeiten heranwachsen können. Das eine sei ohne das andere nicht zu haben. Kurt Edler vom Landesinstitut stellte dagegen fest, daß Schüler die bestehenden Strukturen zur Mitbestimmung gegenwärtig nicht ausnutzen und wenig Interesse an der Arbeit in den Mitbestimmungsgremien haben. Die Vertreterin der SchülerInnenkammer, Sappho Beck, fand die Ursache dafür darin, daß die bestehende Schulkultur offenbar nicht in der Lage sei, Demokratie als Wert zu vermitteln. Gabriele Kandzora stellte klar, daß dies bei der bestehenden Reduktion von Demokratie auf die bloße Beteiligung an den institutionalisierten Mitbestimmungsgremien auch kein Wunder sei. Schüler müßten stattdessen von Anfang an und in allen Belangen - auch in denen des Unterrichtsgeschehens - ein weitgehendes Mitspracherecht erhalten. Ebenso wie der Vertreter der Elternkammer forderte sie eine Zusammenarbeit aller funktionalen Gruppen der Schule "auf Augenhöhe". Ein Schüler aus dem Publikum erklärte die Resignation von Schülern als eine Reaktion auf die Schulwirklichkeit und sah darin eine besondere Form der „Rebellion“. Während Kurt Edler noch weithin unausgeschöpfte Möglichkeiten innerhalb der bestehenden Strukturen sah, wie z.B. die Möglichkeit, zusätzlich zu den bestehenden Mitbestimmungsorganen weitere Gesprächs- und Entscheidungsgremien in der jeweiligen Schule zu schaffen und mit alten Gewohnheiten und Traditionen zu brechen, beurteilten andere in ihren Beiträgen die Chancen einer grundlegenden Veränderung unter den bestehenden Rahmenbedingungen eher skeptisch: Wo sollten die Zeiten und Räume für die Entwicklung gemeinsamer Aktivitäten bei Schülern und Lehrern herkommen, die nötig sind, um ein demokratisches Innenleben der Schule (Sappho Beck) sowie eine Öffnung der Schule zu einem „Kommunikations-Zentrum des Stadtteils“ (Rüdiger Winter) zu schaffen, wenn die Ganztagsschule nur eine Verlängerung des Unterrichtsvormittags in den Nachmittag hinein bedeutete und Lehrer mit voller Stelle inzwischen bis zu 30 Unterrichtsstunden pro Woche erteilen müssen?

Eine weitere Kontroverse entwickelte sich an Herbert Schalthoffs Forderung nach einem öffentlichen Schul-Ranking. Während einerseits die Auffassung vertreten wurde, eine solche Veröffentlichung von Schulevaluationsergebnissen sei ein Gebot der Demokratie (Kurt Edler), wurde andererseits von einigen Diskussionsteilnehmern daraufhingewiesen, daß die Entwicklung in den angelsächsischen Ländern gezeigt habe, daß eine demokratische Schule für Alle entweder auf dieses „Wettbewerbs-Instrument“ oder auf das Recht der freien Schulwahl verzichten müsse, wenn sie eine weitere Verschärfung der Exklusion benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen vermeiden wolle. Claudia Wetterhahn fragte darüberhinaus nach Kriterien eines Rankings, die nicht bloß die kongnitiven, sondern auch die sozialen und politischen Lernleistungen der Schüler bewerten könnten. Rüdiger Winter forderte von einem demokratischen „Schul-TÜV", daß auch das Feedback von Schülern, Eltern und außerschulischen Kooperationspartnern abzufragen sei.

Insgesamt lieferte die Tagung vielfältige Impulse für die nächsten Schritte auf dem Weg zu einer demokratischen Schule für Alle.

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Jazzmusik des Sinti Weiss Ensembles


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und das hervorragende Büffet der Schüler-Cateringfirma der Förderschule Pröbenweg

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boten die passende Atmosphäre für Erfahrungsaustausch und Diskussion im „World Café“.
Bild: Ivan Montero / fotolia

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