Anstand, Courage & Co

Jetzt ist es offenkundig: Ein Sonntagsreden-Appell an den Anstand demokratisch denkender Bürger und die bloße Aufforderung zur Zivilcourage reicht überhaupt nicht hin, um den Rechtsextremismus zu bekämpfen.
Diese Lehre vor allem ist der große Gewinn, der aus dem beherzten Engagement des Bürgers Stefan Garmshausen zu ziehen ist, der dem NPD-Kader vor einem Schultor in Waren an der Müritz kurzerhand das Propagandamaterial aus der Hand schlug.

Öffentlich in einer breiten Debatte zu diskutieren ist:
  • Wie muß zivilgesellschaftliches Eingreifen aussehen angesichts des Legalitätskurses der NPD? Die Aktivisten der NPD sind inzwischen sehr genau darin geschult, was sie tun und sagen dürfen, ohne sich strafbar zu machen. Diese Strategie muß man kennen und eine eigene Verhaltensstrategie parat haben, um nicht in die Falle zu tappen, die die NPD damit den "Anständigen und Couragierten" gestellt hat, damit sie sich selbst als Opfer von Übergriffen auf ihre Personen, Sachen und Freiheitsrechte präsentieren kann.
  • Wie müssen sich die Lehrer einer Schule präparieren, um mit dem, was vor den Toren ihrer Schule mit ihren Kindern und Jugendlichen geschieht, adäquat umgehen zu können? Die Lehrer der Schule in Waren haben sich implizit für nicht zuständig – und damit eigentlich ihren pädagogische Bankrott – erklärt.
Die "Schulhof-CD" der NPD und die Art und Weise, wie die NPD Kinder für ihre menschenfeindliche Sache wirbt, ist seit langem bekannt. Die Lehrer müssen dieses Material kennen! Es gibt "Argumentationshilfen" und Unterrichtsvorschläge dazu. Aber es ist nicht nur Sache der Politiklehrer, im Schulhaus damit Unterricht zu machen. Das ganze Kollegium muss sich darüber austauschen und eine gemeinsame Strategie der Intervention entwickeln. Wenn ein NPD-Kader mit Material vor der Schule auftaucht, dann ist das eine hervorragende Lerngelegenheit, die viel mehr Lernmöglichkeiten bietet als jede Politikstunde im Stundenplan! Die Lehrer müssen aus der Schule herauskommen und sich mit ihrer ganzen Person ins Leben einmischen.
Sinnvoll einmischen kann man sich aber nur, wenn man den Gegner und die Situation gut kennt. Wenn man weiß, welches Programm die NPD hat - und daraus möglichst auch wörtlich zitieren kann! Wenn man weiß, wie ihre Strategie aussieht, und wie sie sich taktisch verhält. Und wenn man genau weiß, was man argumentativ und im Interesse des eigenen Lebens dagegen setzen muß. Ein überzeugendes Streitgespräch der Lehrer mit dem NPD-Aktivisten vor ihrem Schultor um das, was die NPD aus Deutschland machen möchte, und darum, was das für die Kinder bedeuten würde, wenn die Pläne der NPD Realität würden – das ist von den Erziehern unserer Kinder zu fordern. Nicht darum, den NPD-Mann zu überzeugen, sondern darum, den Kindern mit dem eigenen Engagement vorzuführen, welche Gründe auch der Lehrer selbst hat, dieses Programm und diese Partei zu bekämpfen.

Auch nachholend kann die Schule jedoch noch produktiv mit diesem Vorfall umgehen. Z.B:
  • eine Veranstaltung, eine Konferenz des Kollegiums darüber, wo die Lehrer in der Sache unsicher und darum verständlicherweise an einem adäquaten pädagogischen Umgang mit solchen Ereignissen gehindert sind; welche Art Fortbildung sie darum bräuchten usw.;
  • eine Veranstaltung für die gesamte Schulcommunity zur Entwicklung einer demokratischen Schulkultur;
  • eine Dilemma-Diskussion über demokratisches Handeln als Podiumsveranstaltung, vorbereitet und durchgeführt von einer Schülergruppe mit Experten
"Das wichtigste Curriculum des Lehrers ist seine eigene Person." (Hartmut von Hentig).

Das zu begreifen und danach zu handeln, wäre schon sehr gut. Aber auch das reicht noch nicht. Denn die Wahlkampfstrategie und die Argumente der NPD sind keine magische Verführung, die man bloß entzaubern müßte. Der "Kampf um die Köpfe" kann für die NPD nur darum zuweilen aufgehen, weil sie reale Problemlagen anspricht. Weil die NPD auf etwas zu antworten scheint, was dringend nach einer Resonanz verlangt, die offenbar bisher ausgeblieben ist – im Unterricht der Schule nicht gegeben wurde. Auf diese Probleme muß Schule reagieren; sie darf die Formulierung der Probleme und die Antworten auf die Probleme nicht der NPD überlassen. Welche Probleme das sind? Es ist vor allem die mangelnde Zukunftsperspektive der Kinder und Jugendlichen; es ist das Fehlen von herausfordernden Lerngelegenheiten, in denen die Schüler sich als wichtige Akteure erleben können für die Entwicklung ihrer Lebensumwelt; und es ist das Gefühl, mit dem eigenen Leben von der Schule allein gelassen zu sein.

Zurück zu dem couragierten Bürger in Waren: Ihm ist zu wünschen, daß der Staat einmal nicht bloß einerseits juristisch und andererseits mit politischen Sonntagsreden auf ein zentrales gesellschaftliches Problem reagiert. Ich würde ihm glatt ein Verdienstkreuz umhängen dafür, daß er einen wichtigen Aspekt eines großen Problems durch sein Handeln öffentlich gemacht hat.
darkrond - 29. Sep, 04:04

a) zivilcourage kostet also dem urteil nach 2.600 euro. bäh!
b) kannst du bitte den link zu den nazis entfernen?

Lisa Rosa - 29. Sep, 10:26

zu a): Zivilcourage alleine reicht nicht. Man muß auch wissen, wie. Wenn man nicht weiß, wie, dann kostet es.
zu b): ich kann schon, aber ich will nicht. Die Nazis und ihre Ideologie kann man nicht einfach wegklicken oder wegkriegen, indem man ihnen ihr Material aus der Hand reißt und in den Müll schmeißt oder gar auf sie draufhaut. Man muß sie kennen und sich mit ihrem Kram auseinandersetzen als Pädagoge. Ich denke, das ist in meinem Beitrag deutlich geworden. Moralische Empörung und körperliches Gerangel reichen ganz bestimmt nicht.
Kurt Edler (Gast) - 4. Okt, 20:45

Gleichheit vor dem Gesetz - nicht für Nazis?

Wenn die NPD sich in den nächsten Jahren mit derlei Übergriffen schmücken und
in der Pose des Gerechtigkeitsapostels und Verfolgten sonnen kann, tut ihr solch falsch verstandene
"Zivilcourage" strategisch den größten Gefallen. Es darf in einem aufgeklärten
Rechtsstaat keine Sonderjustiz geben - und erst recht keine Selbstjustiz nach
dem Motto: Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft. Die Bereitschaft mancher
Nazigegner, sich selbst - im handgreiflichen Tun - als "das Gesetz" zu definieren, ist dem
Denken eines Carl Schmitt näher als sie ahnen. Offenbar gehört zu einer
wirklich zivilen Zivilcourage nicht nur der Bauch, aus dem die Wut kommt,
sondern auch ein Minimum an Grips. Und Grips heißt in diesem Fall:
politische Bildung.

Holger Gundlach (Gast) - 5. Okt, 11:28

Demokratie vorleben - Rechtsstaat praktizieren

Lisa hat Recht: Es reicht nicht, die NPD zu verteufeln oder zum braunen Schmuddelkind zu erklären. Wir müssen schon erklären, was das Gefährliche am Nationalsozialismus / Faschismus ist und warum wir bestimmte Parteien, Organisationen und Menschen dieser Ideologie zuordnen. Wir müssen darlegen, was wir unter politisch rechts einerseits und rechtsextremistisch andererseits verstehen, was wir warum für verfassungsfeindlich halten. Die NPD kann nur dann nachhaltig, d.h. politisch wirksam bekämpft werden, wenn wir den Kampf um die Köpfe auf­nehmen!

Und es darf kein augenzwinkerndes oder klammheimliches Einverständnis mit denen geben, die sich unter Anmaßung der Befugnisse von Bundesverfassungsgericht und Polizei darauf versteifen, „rechte" Demonstrationen zu verhindern und Info-Stände der NPD "abzubauen". Auch schwer erträglichen politischen Meinungsäuße­rungen muss – sofern sie noch nicht unsere Rechtsordnung verletzen – mit poli­tischen Mitteln begegnet werden. Jeder Mensch – auch der Gegner oder Feind – ist Träger von Menschenrechten. Deshalb ist allen "Feindstrafrecht"-Konzepten eine Absage zu erteilen: Nicht nur Ter­roristen und Kinderschänder, sondern auch Nazis und andere Rechtsextremisten dürfen nicht aus den allgemein geltenden rechtsstaatlichen Verbürgungen ausgegrenzt werden. Der "couragierte Bürger in Waren" hat zwar aus verstehbaren Gründen, trotzdem aber falsch gehandelt.

Es gilt, allen menschenfeindlichen und gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerich­teten Einstellungen und Bestrebungen entschieden entgegen zu treten, aber gerade deshalb auch die grundgesetzlichen Rechte aller nicht verbotenen Parteien und Organisationen zu respektieren. Dies muss aber verbunden werden mit einer glaubwürdigen und bürgernahen Politik sowie einem öffentlichen argumentativ-konfrontativen Disput überall dort, wo die NPD auftritt. Nur so können wir deren Mimikry aufdecken und den braunen Wolf seines demokratisch getönten Schafspelzes ent­kleiden.

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Bild: Ivan Montero / fotolia

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