Was ist dran an der Zweigliedrigkeit?

Nachdem auch nach dem PISA-Schock 2000 die Schulstruktur als Thema des bildungspolitischen Diskurses noch jahrelang bildungspolitisch tabuisiert und mit der Diffamierung als "ideologischer Grabenkampf" abgewehrt wurde, ist sie nun doch noch als wichtig für die Rekonstruktion des gescheiterten Bildungssystems von der Bildungspolitik entdeckt worden. Derzeit machen vor allem Konzepte zur Schulstruktur-Reform unter dem Begriff der Zweigliedrigkeit Furore. Sie erscheinen als der avancierte Schlüssel zur Überwindung der Dysfunktion des Systems und zu seiner Modernisierung.

Aber sind sie wirklich der Weisheit letzter Schluss?
Kann die Reduktion der Mehrfachgliederung des Systems auf eine Zweigliedrigkeit die Probleme des deutschen Schulwesens wirklich lösen? Kann das berühmte Deutsche Gymnasium erhalten werden und doch gleichzeitig die negativen Effekte der selektierenden Unterscheidung von Schülern in gymnasial bildbar/nicht gymnasial bildbar vermieden werden? Oder handelt es sich bei dem Konzept der Zweigliedrigkeit um einen neuen Versuch der Quadratur des Kreises, einen neuen Versuch, sich zu waschen ohne nass zu werden? Was ist wirklich dran an dem bisher radikalsten Reform-Modell der Bildungsministerien - in Hamburg und Berlin?

Brigitte Schumann war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium im Ruhrgebiet und 10 Jahre Bildungspolitikerin im Landtag von NRW. Sie hat über die Sonderschule für Lernbehinderte an der TU Berlin promoviert und ist derzeit als freie Bildungsjournalistin tätig.
Über Georg Linds Bildungsinfo erreichte mich Brigitte Schumanns ausgezeichneter Beitrag zu diesem Thema. Ich halte ihn für eine großartige Diskussionsvorlage und erhielt von ihr die Erlaubnis, ihn hier zu (erst-)veröffentlichen und zur Debatte zu stellen.

Brigitte Schumann argumentiert und begründet in ihrem Aufsatz "Pragmatische Scheinlösungen oder ein demokratisches Schulsystem? Wider die Zweigliedrigkeit" auf der Grundlage empirischer Befunde, warum dieser Reformansatz nicht geeignet ist, die Aussortierung unserer Kinder nach sozialer Herkunft und die damit verbundene Chancenungleichheit im Zugang zur derzeit bestmöglichen Bildung in der Republik zu beenden. Sie erklärt außerdem, warum nicht einmal das deutsche Gymnasium die beste Bildung für ihre eigenen Zöglinge ermöglicht. "Das Gymnasium sichert Bildungsprivilegien" sagt sie. Es ist in erster Linie diese Funktion, die das Gymnasium bedient - nicht die der bestmöglichen Bildung.

"Es ist wahrhaftig nicht die Pädagogik des Gymnasiums, die seine Beliebtheit bei gymnasialorientierten Eltern ausmacht. Im Gegenteil, ist doch die pädagogische Qualität des Lernens mit der Verkürzung der Lernzeit bis zum Abitur auf 8 Jahre (G8) noch stärker gesunken. Nach einer aktuellen Untersuchung ist fast jeder zweite Schüler am Gymnasium inzwischen auf Nachhilfe angewiesen."

"Schule in der Demokratie sieht anders aus. Eine Zwei-Klassen-Lösung vertieft im Angesicht der Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise schon vorhandene gesellschaftliche Segregationsprozesse, wie wir sie z.B. auch als Folge einer versäumten Integrationspolitik für Migranten in Deutschland heute wahrnehmen. Eine solche Entscheidung ist grundsätzlich dysfunktional zu dem Anspruch auf Bildung in einer demokratischen Gesellschaft."

Hier der ganze 5-seitige Artikel "Pragmatische Scheinlösungen oder ein demokratisches Schulsystem? Wider die Zweigliedrigkeit" von Brigitte Schumann. Es lohnt sich, sich mit ihren Thesen, Argumenten und den von ihr genannten empirischen Befunden auseinanderzusetzen. Es lohnt sich nicht nur, sondern ist m. E. ein Muss, wenn man in dieser Sache auf einer Grundlage mitreden möchte, die über ein bloß subjektivistisches Alltagsverständnis aus der eigenen Praxiserfahrung hinausgeht.

BrigitteSchumann_WiderDieZweigliedrigkeit (pdf, 105 KB)
Artie (Gast) - 16. Mai, 04:06

Danke

für den inspirierenden Text, deine Artikel gefallen mir.

gruß,
artie

1000Sunny (Gast) - 16. Mai, 13:38

Guter Text und meine Anmerkungen

Hi Lisa,

Danke für den Text. Ich zweifle immer wieder, ob es gut gewesen ist meine Position als Schulkritiker an den Nagel zu hängen und anderen zu überlassen - und dann sehe ich solche Texte und denke mir: Die Schule erledigt sich doch eh von selbst :)

Was ich zum Text anmerken wollte:
"Deutschland scheint auf dem Weg in eine neue Art von Klassengesellschaft zu sein,"
Das "scheint auf dem Weg zu sein" ist doch schon abgehakt. Wir haben es doch selbst schon erlebt, dass Professoren anderen Menschen über den Mund fahren mit der Begründung ihrer Qualifikation.

Was mich damals immer an der Schule gewundert hat:
Warum führt man nicht ein System ein, wie es bei den Führerscheinprüfungen üblich ist. Gelernt wird in der Fahrschule - geprüft wird woanders. Anmelden kann man sich für die Prüfung, die man will.
Auf der anderen Seite gibt es diese Möglichkeit ja auch schon. Bei den Externisten-Prüfungen. Warum wird sie aber nicht konsequent umgesetzt, sondern birgt (was das Abitur betrifft) sogar noch zusätzliche Schwierigkeiten und Gefahren. Eben weil es um die Erhaltung der Klassengesellschaft ging.
Wir kritisieren immer das indische Kastensystem. Setzen wir uns aber mal intensiv mit dem Kastensystem auseinander, dann merken wir, dass es teilweise durchlässiger ist, als der "deutsche soziale Abschluss" - den schon Goethe kritisiert und gespürt hat (das ist also kein Phänomen der Neuzeit, das durch die Wirtschaftskrise entstanden ist).

Das zweigliedrige System klingt in dieser Hinsicht doch sehr vielversprechend - denn nichts kann wichtiger sein, als die Kasten voreinander abzuschließen - schließlich leben wir in einer Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft und das Schulsystem ist da um von den Leistungsträgern Bildung und Werte nach unten zu transportieren.

Ich glaube aus genau diesem Grund können die Politiker nichts machen, sie müssen zwar Wähler überzeugen, aber sie müssen auch ihren Wahlkampf finanzieren und öffentlich vertreten - das geht einfach nicht gegen die obere Kaste (die das Zeitungswesen mit verantwortet). Deswegen käme es vielleicht Politikern auch sehr willkommen, wenn sie von Höherer Stelle (EU) zu einem Umlenken verurteilt würden.

1000Sunny (Gast) - 21. Mai, 21:47

--

Hallo Lisa, ich will nicht nerven, aber eine Sache bohrt noch zur Gliedrigkeit.
In der pädagogischen Literatur lese ich immer wieder davon, dass die Schulen mit den "schlechteren" Schülern eigentlich mehr Ressourcen, Lehrer usw bekommen sollten und die oberen (z.B. Gymnasium) weniger Ressourcen. Da die ja eh selber lernen können.
Leider ist das irgendwie noch nicht in der Realität angekommen und wir haben es genau andersrum?

Lisa Rosa - 21. Mai, 22:35

Ressourcen

Ich kann mich an kein offizielles Dokument erinnern, das der Stadtteilschule Ressourcen auf Kosten des Gymnasiums verspricht. Die Gymnasien würden sich das auch nicht gefallen lassen. Schulentwicklung/Change gibt es auch nicht ressourcen-neutral oder gar -sparend, wie das bisher immer so verknüpft wurde. In HH jedenfalls werden jetzt neue Ressourcen locker gemacht. Ob die für die selbstgestellte Aufgabe der Schulreform hinreichen, ist eine ganz andere Frage. Im OECD-Vergleich stehen wir national mit unseren Bildungsausgaben (prozentual zum BSP) jedenfalls in der weit unterdurchschnittlichen Abteilung.
teacher - 8. Jun, 17:53

Ich kenne das französ. Schulsystem und die Gesamtschule hat dort nichts zur Chancengleichheit beigetragen. Die Zweigliedrigkeit des österreichischen Systems (natürlich) auch nicht. Ich suche nach neuen, wirksamen Ansätzen!

Lisa Rosa - 8. Jun, 22:58

Neue, wirksame Ansätze!

Lieber teacher, Du meinst sicher Schul- und Unterrichtskonzepte, die sich nicht bloß mit der äußeren Schulstruktur beschäftigen? Die gibt es ja wie Sand am Meer. Und nicht bloß Konzepte vom grünen Tisch, sondern längst bewährte. Sie finden sich z.B. bei den Schulen, die in "Blick über den Zaun" vernetzt sind: http://www.blickueberdenzaun.de/
und ebenso im AdZ-Netzwerk: http://www.adz-netzwerk.de/
Natürlich ist eine Gesamtschule/Gemeinschaftsschule/Schule für Alle darum noch keine gute Schule, nur weil sie nicht selektiert. Das ist mittlerweile Bindsenweisheit. Aber Binsenweisheit ist auch, dass alle Schulen, die bei den PISA-Evaluationen in der oberen Hälfte liegen, Gemeinschaftsschulen und keine selektierenden sind.
1000Sunny (Gast) - 8. Jun, 23:59

Nicht-Selektierende-Schule?

Wie funktioniert denn das? Kann dann jeder auf die Universität? Fände ich gut.

(Zu den vorigen Fragen:
Ich habe nicht von einem offiziellen Dokument über den Mittelumleitung aus Gymnasien in Richtung untere Schulen gesprochen, ich habe über Forschung in der pädagogischen Psychologie gesprochen.
Ich glaube nicht, dass die prozentuale Messung am Inlandsprodukt ein humaner Indikator ist und schon gar kein effizienter.)

Was würde aber ein wirksamer Ansatz bedeuten? Einer der die Chancengleichheit komplett herstellt? Unter der Voraussetzung, dass wir Intelligenz nicht für genetisch vererbt betrachten würde das in jeder Generation eine "Elite", die beliebig aus allen Schichten zusammengewürfelt ist erzeugen. Ich glaube nicht, dass das politisch durchsetzbar ist. Und ich glaube auch diese Angst vor gesellschaftlichem Chaos ist genau der Grund, warum Homeschooling und Unschooling verboten sind und Deschooling totgeschwiegen wird, obwohl die Schulreferate (vielleicht nur wenige) diese Bewegung kennen.

Wer also die Chancengleichheit in einem politisch kontrollierten Schulsystem sucht, der wird enttäuscht werden.
teacher - 15. Jun, 16:21

Ich glaube nicht, dass es eine gute Schule für alle gibt, das ist wie Monokultur - ich möchte möglichst viele unterschiedliche Schulen haben und darin möglichst viele unterschiedliche Klassen. Vielfalt statt Einfalt ... und freie Wahl. Gebt den Schulen Freiheit!
1000Sunny (Gast) - 16. Jun, 11:14

Lieber den Menschen

Hallo Teacher,

hast Du schon mal Ivan Illich gelesen? Ansonsten würde ich lieber den Menschen Freiheit geben. Z.B. durch ein Bildungsgeld (System Microchoice) oder als Zwischenschritt im Voucher-System mit einer sehr liberalen Schulgründungsmöglichkeit (z.B. jeder der studiert hat kann eine weiterführende Schule gründen - jeder mit Schulabschluss eine Grundschule). Alles andere wird wieder zu abhängigen Schulen führen. Leider.
Lisa Rosa - 9. Jun, 10:08

Ressourcenverteilung

Hallo Sunny, was die Ressourcenverteilung auf die Altersstufen betrifft, so seh ich es wie Du: Je jünger die Kinder, desto mehr Bildungsausgaben, macht unbedingt Sinn. In Fi machen sie es so. Das betrifft v.a. die Frequenzen in den Lerngruppen: kleine Kinder, kleine Klassen. Ganz radikal. Sodass die Primarschulklassen mit max. 20 SuS laufen - dafür können in der Oberstufe bis zu 40 SuS in einem Kurs sitzen. Bei uns ist die Ressourcenverteilung genau umgekehrt: Das meiste Geld wird für die Oberstufe des Gymnasiums ausgegeben, das wenigste im Vorschulbereich. Das kann man an der Ausbildung und Bezahlung von Erzieherinnen sehen. Diese haben in Fi eine akademische Ausbildung, eine ordentliche Bezahlung und selbstverständlich die gleiche Wertschätzung in der Gesellschaft wie Lehrer, da sie sich nur dadurch von ihnen unterscheiden, dass sie sich eben mit Bildungsprozessen der jüngeren Kinder statt mit denen der älteren und Jugendlichen beschäftigen.

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