Donnerstag, 8. Februar 2007

Vernichtung durch Arbeit

Dieser Satz war für mich bislang reserviert für die systematische und bewußte Ausrottung von Zwangsarbeitern in deutschen Lagern der NS-Ära. Ich bin überhaupt nicht geneigt, die verschiedentlich so beliebten "Vergleiche" anzustellen wie: "Hühner-KZ", Saddam = Hitler, Milosevic oder Bush = Hitler, und schon gar nicht die nicht selten anzutreffende Gleichsetzung israelischer Politik gegenüber den Palästinensern mit dem deutschen Völkermord an den Juden. Aber es gibt Sätze, die stimmen auch anderswo. Und es geht nicht um "Vergleiche" und Gleichsetzungen.

Vernichtung durch Arbeit - ist einfach das, was mir zuerst als allgemeiner Kommentar einfällt, wenn ich Martin Spiewaks Bericht in der heutigen ZEIT-Ausgabe lese: "Ende einer Dienstzeit. Eine Lehrerin stirbt." Gestorben ist Petra Sperfeld, Grundschullehrerin an der Mariannen-Schule in Essen, am Herzinfarkt. Sie wurde 51 Jahre alt und hatte 24 Arbeitsjahre hinter sich.

Spiewak geht der Geschichte der Lehrerin nach und findet vor allem dies: Daß sie gestorben ist an der Vernichtung ihres Selbstwertgefühls. "Zerbrach sie unter dem Druck der Reformen?", fragt Spiewak im Untertitel seines Artikels. Diese Frage ärgert mich, denn sie suggeriert zunächst, daß es die - endlich in Gang kommenden - Reformen sind, denen die älteren Lehrer nicht gewachsen sind. Aber im Artikel selbst wird es dann genauer: Die Reformen werden ohne die Beteiligung der Lehrer gemacht, von oben aufgepropft, anstatt die Hauptakteure mitzunehmen. Ich weiß, wovon die Rede ist - denn ich war nicht nur selbst über 20 Jahre Lehrerin, ich weiß auch, wie "Schulreform" zuweilen beinahe gewalttätig "gemacht" wird, um vermeintlich endlich schneller Ergebnisse willen - wir wissen, es sind Milchmädchenrechnungen! -, wenn das gerade wieder neu ausgerufene Reformmodell das Ruder bei laufendem Betrieb herumreißen soll, wenn die Entwicklung nichts kosten darf, wenn den Lehrern weder die Initiative, noch Mitsprache, noch überhaupt Zeit dafür eingeräumt wird. Zeit ist vielleicht das wichtigste, was fehlt. Die Kollegien sollen im alten Modus weitermachen wie bisher und gleichzeitig das Neue entstehen lassen, aber rucki-zucki jetzt! Und dann bitte zu den Vorstellungen der Bildungsadministration, die nicht immer weiß, was in der Schule eigentlich los ist, und die meist nur sehr vage, häufig sogar falsche Vorstellungen von "guter Schule" hat.

Nicht umsonst hat man in Finnland zu Beginn der großen Bildungsreform den betroffenen Lehrern die Unterrichtsverpflichtung gekürzt und die Klassen verkleinert, - bei gleicher Bezahlung versteht sich! -, damit sie das Neue lernen, erproben und selbst mitenwickeln konnten. Hier aber versteht man offenbar unter Veränderung immer noch etwas Militärisches. Neuer Befehl: Kehrt marsch! angeordnet und zack! Selbst in der Entwicklung zu Neuem zeigt sich noch das alte preußische System von Befehl und Gehorsam. Was die Schulräte und Inspektoren und andere Vorgesetzte und Administratoren - die vermutlich nicht deshalb auf ihrem Posten sitzen, weil sie selbst besonders gute Lehrer waren - in besagter Schule angerichtet haben, sollte man unbedingt in Martin Spiewaks Artikel nachlesen.

Ich möchte dazu nur soviel sagen: Jeder halbwegs verständige Organisationsentwickler weiß inzwischen: Wirkliche Entwicklung gibt es nur MIT den Subjekten eines Tätigkeitssystems. Und: Transfer von Innovationen durch Kopieren von einer Organisation in die andere funktioniert nicht.
Nicht die Reform tötet - sie wird ja dringend gebraucht, denn auch das Alte ist ja nicht mehr auszuhalten. Was tötet, das ist der Mix aus Überforderung durch ein irres Arbeitspensum (wie es für Lehrer sonst in keinem anderen Land gilt), durch dysfunktionale Systemstrukturen und durch eine absolut veraltete Vorstellung vom Lernen und von der Lehrerrolle, wie sie nun mal in der Ausbildung gelernt wurde. Daß LehrerInnen, wie die verstorbene Petra Sperfeld, trotzdem beliebte und gute Lehrerinnen waren, ist ihr Verdienst. Sie haben ihre Expertise in ihrer Arbeitspraxis selbst erworben. Wenn dann also zu all diesen schwierigen Bedingungen, die einen Lehrer in Deutschland bis zum Übermaß und Zusammenbruch fordern, noch Mißachtung und Abwertung durch die Obrigkeit kommt, wie es im Falle der Petra Sperfeld geschehen ist, dann muß man sich eher wundern, wenn nicht dauernd solche frühen Tode im Dienst vorkommen. Und sie kommen vor. Erst letzte Woche ist in meinem Bekanntenkreis ein Lehrer - auch erst Anfang 50 - an einem Schlaganfall gestorben. Kein Wunder, daß gerade jetzt, denn diese Zeit um die Halbjahrszeugnisse + Abitur herum ist die stressigste Lehrerzeit überhaupt.
Zu fordern, die Lehrer müßten eben eine "robuste Psyche", ein "dickes Fell" haben - zu testen vor dem Lehrerstudium -, ist oberzynisch. Woher soll dann ihre Sensibilität für die Kinder kommen? Und: Ist es nicht eine wunderbare Tätigkeit, anderen beim Lernen und ihrer Entwicklung zu helfen? Wieso braucht man dazu eine ruppige Konsistenz? Da stimmt doch in der Vorstellung vom Lernen und Lehren irgendwas nicht!

Unsere jetzige Schule macht kaputt. Schüler, Lehrer, auch Mütter. Und mich macht sie außerdem wütend. Noch wütender macht mich aber, daß alle Erkenntnisse und Einsichten, alle Ratschläge von echten Experten, sei es zur Lerntheorie oder zum Organisationslernen, in der Bildungspolitik in Deutschland genauso ankommen, als hätte man einen Ochs ins Horn pfetzt, wie die Schwaben sagen, was heißt: gar nicht. Einfach unbelehrbar. Nur leiden und sterben müssen daran nicht die, die es verbocken, leider.

Sonntag, 4. Februar 2007

Nachhaltig und demokratisch! Schule zukunftsfähig gestalten

Unter diesem Motto fand am 30. und 31. Januar 2007 eine gemeinsame Tagung der beiden BLK-Programme Transfer 21 (Bildung für nachhaltige Entwicklung) und Demokratie lernen & leben im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg (LI) statt. Der Einladung der Projektleiter Regina Marek und Wolfgang Steiner sowie des Projektkoordinators Charly Nobis waren rund 300 Bildungsakteure gefolgt:
"Beide Programme haben das Ziel, Schülerinnen und Schüler als Subjekte ihres eigenen Lernens zu aktivieren sowie ihre demokratische Handlungskompetenz und ihre Bildung für nachhaltige Entwicklung zu fördern. Im Sinne der Initiative 'Hamburg lernt Nachhaltigkeit' zur UN-Dekade 'Bildung für nachhaltige Entwicklung' (2005-2014) wollen wir die Transferstrate-gien beider Programme weiterentwickeln", hieß es in der Einladung zur Tagung.

Auf der Tagung ging es nicht mehr darum, zu klären, worin die Zukunftsfähigkeit von Schule besteht – denn darüber waren sich Veranstalter und Teilnehmer im Wesentlichen einig. Stattdessen bestand die Besonderheit der Tagung einerseits in der Zusammenführung zweier Säulen der internationalen Entwicklungsanstrengungen in der Bildung – der "education for sustainable development" und der "civic education" – und andererseits im Fokus auf die komplizierte Aufgabe des Transfers von Entwicklungserfahrung. Gute Modelle, kluge Konzepte, gelungene Praxisbeispiele gibt es in Hülle und Fülle. Die Herausforderung besteht darin, die Konzepte und Instrumente der beiden Schulentwicklungsprogramme, die in den vergangenen Jahren an zahlreichen Schulen erprobt und institutionalisiert wurden und jetzt zusammengenommen eine umfangreiche Schatzsammlung an "good practices" bilden, zu verbreiten und im Regelsystem – also in allen Schulen – zu implementieren. Wie aber sieht ein gelungener Transferprozess aus? Wie vervielfältigt man "gute Schule"? Oder genauer: Wie bringt man Schulen – und Lehrer – dazu, sich zu verändern?

weiter Tagungsbericht_Januar07 (pdf, 589 KB)

Samstag, 27. Januar 2007

Bewertung und Zertifikat in der Schule

Kürzlich gab es bei Robert Nitsch anläßlich der nationalen Halbjahreszeugnisse eine Diskussion über Zensurengerechtigkeit.
Schülern muß zuweilen die Bewertung ihrer Leistungen zurecht als willkürlich und ungerecht erscheinen, wie Robert, dessen Leistungen im gleichen Fach von dem einen Lehrer mit "gut", von einem anderen mit "mangelhaft" bewertet wurden. In meinem ausführlichen Kommentar habe ich das Problem der Gerechtigkeit - neben dem Faktum der Subjektivität aller Bewertung - auch als eine der Folgen der Paradoxie des Schulwesens dargestellt: Einerseits soll die Bewertung Aufschluß über den Lernstand des Schülers geben - also pädagogische Funktion haben -, andererseits ist Bewertung verknüpft mit Zugangsberechtigung zu weiteren Lern-, bzw. Ausbildungs- und damit Lebensschancen - also eine Zuteilung von sozialen Möglichkeiten.

Die virtuelle Akademie der Friedrich-Naumann-Stiftung beginnt am nächsten Freitag (2.2.07) mit ihrem 5. Thema aus der Reihe "Mythen oder Fakten? - Bildungspolitik auf dem Prüfstand". Die These, die wie immer der Ausgangspunkt der online-Diskussion sein soll lautet diesmal:

„Ziffernoten sind ein besseres Beurteilungsinstrument als Verbalbeurteilungen!“

Wie schon in den vier Diskussionsrunden davor, trifft auch diesmal die etwas bemüht provozierende Behauptung gar nicht den Stand der Debatte. Denn ob Zensuren oder Berichtszeugnisse - an dem Problem der Zertifizierung als Zugang für weitere Bildungs- und Lebenschancen ändert sich durch diese Alternativen gar nichts, und die Diskussion ist längst anderswo.
Trotzdem ist auch diesmal zu hoffen, daß durch die Community der Diskutanten - einer bunten Mischung aus Bildungsakteuren, Eltern und anderen Interessierten - die Diskussion wieder das gewohnte aktuelle Niveau erreichen wird. Nicht zuletzt auch mit dem für dieses Thema engagierten Experten (im traditionellen Sinne: einem Hochschullehrer) Prof. Hans Brügelmann, der zum Glück nicht so verschnarcht ist wie die "Thesen" der Akademie, mit denen zwar Kernprobleme der Schulmisere angesprochen waren (Klassengröße, Migrationshintergrund, Sozialkompetenz vs. Fachkompetenz, Frühe Bildung, Bewertung, Unterricht), die jedoch auf Stammtischniveau formuliert zuweilen anstatt Diskussion wirklich in Gang zu setzen, manchmal eher hinderlich waren. Nur die Entscheidung der Diskutanten, die Fragestellungen nicht so ganz ernst und wörtlich zu nehmen und stattdessen weit über sie hinaus zu gehen, ermöglichte bisher eine ertragreiche Diskussion.

Das Bewertungsproblem wird seit einiger Zeit in der Schulentwicklung auf einer ganz anderen Stufe diskutiert, als es die obige "These" nahelegt. So geht es einerseits darum, Möglichkeiten zu finden, wie sich Schüler selbst zu bewerten lernen - und damit die pädagogische Funktion der Bewertung von Lernergebnissen in die eigenen Hände nehmen. Im Institut Beatenberg ("Eigentlich wäre Lernen geil") existieren dafür eigens ausgearbeitete überzeugende Instrumente, die schon viele Jahre erprobt wurden und die sich bewährt haben. Die Max-Brauer-Schule in Hamburg hat Elemente des Systems Beatenberg übernommen und wurde kürzlich erst mit dem Deutschen Schulpreis des Bundespräsidenten ausgezeichnet. Eines der wichtigsten pädagogischen Prinzipien dieser Gesamtschule: Die Schüler "übernehmen die Verantwortung" für ihren Lernprozess, wie das heute so schön heißt, und dazu gehört, daß sie sich nach gemeinsam bestimmten Kriterien selbst bewerten.
Eine zweite wichtige - aber überhaupt nicht neue Idee - gewinnt zunehmend an Wirklichkeit in der Schulpraxis: Das Portfolio als Ersatz für Zeugnisse oder wenigstens als "Anlage" an Zeugnissen. Ein Portfolio (im pädagogischen Sinne) ist eine Sammlung von dokumentierten Leistungen, die sich der Schüler im Laufe seiner Schulzeit - oder begrenzt: der Zeit der Sekundarstufe - erarbeitet hat. Schon seit einiger Zeit sind weder die Ausbildner und Arbeit"geber" am freien Markt noch die Universitäten und Fachhochschulen an Zeugnisnoten interessiert, sondern vielmehr daran, was ein Schüler während seiner Schulzeit "gemacht" hat. Dabei sind sogar häufig Kompetenzen und Leistungen, die neben und nicht in der Schule erworben wurden, viel wichtiger als die Note in Deutsch oder in Mathematik - wie etwa die ehrenamtliche Tätigkeit als Jugendgruppenleiter im Sportverein oder die Redaktion der Schülerzeitung, über die im Zeugnis nichts steht.
Über die Vorzüge von Portfolios als Leistungsnachweis und Zertifikat gegenüber dem Zeugnis liest man z.B. bei Thomas Rihm beitragrihm_neu1 (pdf, 147 KB) und bei Thomas Häcker haecker-lernvertraege01 (pdf, 75 KB), beide dem "subjektwissenschaftlichen Ansatz" zur Schulentwicklung verpflichtet.

Der Diskussion in der Online-Akademie der FNSt ist zu wünschen, daß sie zumindest diesen Standard berücksichtigt.

Aktualisierung: Die FNSt hat den Beginn des 5. Themas Der "Mythen-Fakten"-Diskussion wegen Bauarbeiten an der Plattform um eine Woche auf Freitag, den 9.2. verschoben.

Dienstag, 23. Januar 2007

Postdemokratie – Verfall oder Neukonstruktion der Demokratie?

Der Diagnose, die der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch in seinem Buch "Post-Democracy" (2004) für die Demokratie stellt, wurde in den Massenmedien bisher noch wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Kurzgefaßt lautet sie: Die Demokratie geht ihrem Ende entgegen, sie verfällt. Parteien und Parlamente verlieren an faktischer Politikmächtigkeit sowie an Legitimation im Urteil sowohl der wirtschaftlich Mächtigen als auch der "Verbraucher"/des "Volkes"/der "kleinen Leute". Da die demokratischen Repräsentanten immer weniger in der Lage sind, die Vielfalt an zunehmend komplexen Problemen und Aufgaben zu begreifen, geschweige denn zu lösen, ist die faktische Politikentscheidung schon seit längerem auf "Experten", Lobbyisten und Kommissionen übergegangen, denen eine demokratische Legitimierung durch Wahl jedoch fehlt (vgl. z.B. die hohe Bedeutung der Bertelsmannstiftung als Politikberatung über Parteigrenzen hinweg. Bertelsmann berät jede Regierung). Angesichts dieser Entwicklung reagieren die Wähler überall in Europa mit Enttäuschung und Abwendung von "der Demokratie", zu sehen am ständigen Absinken der Wahlbeteiligung. Die Politik veränderte dabei ihr Gesicht: Anstelle der Programm-Debatte tritt mehr und mehr der Personenkult, statt Politik wird Marketing betrieben, Infotainement ersetzt seriöse Berichterstattung, Parteien sind zu Kanzlerwahlvereinen mutiert. Überall in Europa ist der "Rechtspopulismus" auf dem Vormarsch, der verspricht, die ungelösten Probleme ohne lästige Debatten und schwierige Kompromissfindung in Aushandlung zu lösen – mit dem starken Mann, der weiß, was und wie es zu tun ist (Beispiel Berlusconi). So richtig der Befund des Verfalls demokratischer Kultur, so einäugig gleichzeitig und so ratlos in Sachen Therapie ist Postdemokratie-Debatte.

Die aktuelle Ausgabe der ZEIT nimmt die Post-Democracy-Debatte auf und stellt sie in einen neuen Zusammenhang: In seinem Interview mit vier demokratisch gesinnten skeptischen Deutschen, "Wenn das Volk zweifelt. Glauben Sie noch an die Demokratie?", konfrontiert Frank Drieschner Crouchs Befund mit der neuesten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, wonach rechtsextreme Einstellungen (gemessen an der Ausländerfeindlichkeit) "in der Mitte der Gesellschaft" einen Großteil der Bevölkerung befallen hat. Dabei verweist Drieschner auch auf ein Paradox in den Ergebnissen der Studie:
"Im Prinzip sind die Deutschen gute Demokraten; die Autoren der Friedrich-Ebert-Stiftung messen für die parlamentarische Demokratie sogar Zustimmungswerte über 90 Prozent – ein Befund, der seltsam unverbunden zwischen ihren schrillen Extremismuswarnungen steht."
Worin also liegen die Ursachen der Hinwendung zum "Rechtspopulismus" und das Anwachsen ausländerfeindlicher Einstellungen? Ein Interviewpartner Drieschners formuliert: >"Nicht die Demokratie ist das Problem. Es ist die Art und Weise, wie die Demokratie praktiziert wird."Die Post-Democracy-Vertreter sehen den Verlust der Legitimität der Parlamente darin begründet, dass sie "um besserer Ergebnisse willen Entscheidungen an mangelhaft legitimierte Expertengremien delegieren. Wer dem Rentner und dem Steuerberater [Interviewpartner Drieschners] zuhört, für den liegt ein anderes Urteil nahe: Nicht die Art ihres Zustandekommens, sondern die Qualität der Entscheidungen selbst könnte es sein, sei es nun in der Ausländer- oder in der Steuerpolitik, die Zweifel an der Demokratie sät. Und würde eine bessere Einbindung von Experten daran etwas ändern, dann könnte die Politik, die dieses Resultat erzielt, sich der Zustimmung [...] sicher sein."
Das ist unbedingt plausibel: Es geht in erster Linie um die gesellschaftlichen Probleme und ihre Lösung. Ideologie ist sekundär.

Werner A. Perger stellt über seinen Beitrag "Die Stunde der Rattenfänger" Ralf Dahrendorfs Warnung von 1997:
>"Ein Jahrhundert des Autoritarismus ist keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert."
Um eine solche Zukunft zu vermeiden, empfiehlt der ZEIT-Autor "einen klugen Mix aus direkter Bürgerbeteiligung", verweist allgemein auf "erprobte Partizipationsmodelle [...], alte und neue, in aller Welt, in großen Städten und kleinen Gemeinden, von Brasilien bis Finnland, sogar da und dort in Deutschland" und bemängelt, daß sie in Deutschland so gut wie unbekannt seien. Recht hat er mit der Richtung, in die es gehen muß: Partizipation. Wichtig zu wissen wäre aber auch, dass gerade die Bertelsmannstiftung zwar einerseits die effizienteste Politikberatung betreibt – also den Politikern besonders in der Standort- und in der Ressourcenpolitik (vgl. german-foreign-policy) die berühmten "nicht demokratisch legitimierten Experten" zur Seite stellt. Andererseits aber ist die Bertelsmannstiftung gleichzeitig größter Herausgeber und Förderer des Einsatzes einer Fülle von Instrumenten auf der kommunalen Ebene für Bürgerbeteiligung und in der Bildungspolitik auf der Ebene der Einzelschule für die Partizipation von Lehrern, Eltern und Schülern in der Schulcommunity. Aus "der Wirtschaft" kommen also ganz verschiedene Signale. Man muss sie unterscheiden.

Und nicht zu vergessen die Meinungsbildungs- und Partizipationsinstrumente, die mit dem Web 2.0 entstehen. Auch davon im Artikel leider keine Spur.

Leider auch nicht der ebenso wichtige Hinweis auf die der durchaus realistischen schwarzen Prognose Dahrendorfs (als Marxist kann man zu diesem Thema auch die Alternative Sozialismus oder Barbarei aufmachen) sich entgegensetzenden Entwicklung der Governanzmodelle. (vgl. v.a. Helmut Willke.) Die Delegitimation der alten repräsentativen und der Parteien- Demokratie ist Fakt. Larmoyantes Beklagen der "Poltikmüdigkeit" der Bevölkerung und normative Einforderung von politischer Beteiligung der Bürger ist nutzlos. Aber in der Steuerungswissenschaft hat sich inzwischen auch im Deutschen der ursprünglich französische Begriff (gouvernance) Governanz eingebürgert, der die Selbststeuerung von Organisationen/ Systemen – d.h. die Möglichkeit der Selbstbestimmung der Betroffenen oder Akteure – meint, die an die Stelle staatlicher Regulierung und Entscheidungsberatung durch "Experten" treten muß, die meist nur eine einseitige Sicht auf den Gegenstand einnehmen. In die Selbststeuerung sollen die wichtigen Entscheidungen übergehen; der Staat, das Politiksystem soll nur noch den allgemeinen Rahmen dafür vorgeben, die allgemeine Richtung. Selbstverständlich spielt das Internet und vor allem Web 2.0 dabei eine große Rolle, es ist sozusagen die Vorbedingung zur Lösung der Krise der Demokratie durch die Bereitstellung der medialen Möglichkeiten, Instrumente zu globaler wie auch lokaler Governanz zu entwickeln, mit denen die Menschen heute umzugehen lernen und üben – und sei es in Online-Roleplay-Games oder in der Welt des secondlife neue Demokratiemodelle zu konstruieren und das Verhalten in einer neukonstruierten Demokratie zu trainieren. Natürlich ist secondlife noch ein virtuelles Abbild des real life. Da aber das Geld, das darin zu verdienen ist, ganz und gar nicht mehr virtuell sein muß - mithin sich offenbar virtuelles und reales Leben nicht mehr so klar unterscheiden lassen: Warum sollte sich nicht in der virtuellen Welt ein Vorbild für die reale Welt entwickeln lassen?

Mittwoch, 17. Januar 2007

Eine Schule für Alle

Einheitsschule, Gesamtschule, Gemeinschaftsschule ...
Bemühungen um einen politisch viablen Begriff, mit dem endlich geschafft werden kann, was schon seit 1949 in Deutschland ansteht - nämlich die Abschaffung der sozialen Selektion in der Bildung.

Das aktuelle Heft der Marxistischen Blätter trägt den Titel "Eine Schule für Alle" und bietet zum Schwerpunkt eine Reihe interessanter Artikel. Online zu lesen sind ein Interview mit Brigitte Müller, die sowohl das DDR-Schulsystem als auch das BRD-Schulsystem aus der eigenen Lehrerpraxis kennt, sowie der Beitrag von Ingrid Wenzler, Mit der Gesamtschule zur gemeinsamen Schule für alle.
Der ausgezeichnete Artikel von Rolf Jüngermann, Zur verheerenden Rolle des Gymnasiums im deutschen Schulwesen, ist leider nicht online zu haben. Dafür lohnt sich aber schon der Kauf des Heftes (7 Euro):

Jüngermann entfaltet die Merkmale des deutschen Gymnasiums als die einer Maschine zur Exklusion der Mehrheit von Partizipation an der politischen Macht. Er nennt es den Klassencharakter des Gymnasiums. Überzeugend weist er nach, dass das selektive Bildungswesen, an dem in Deutschland bis vor kurzem über alle politischen Lager hinweg trotz bzw. in Kenntnis der empirischen Befunde hartnäckig festgehalten wurde, nicht nur nicht geeignet ist, die sozial begründete Chancenungleichheit zu mildern, sondern diese sekundär immer wieder reproduziert. Das Gymnasium sei eine parasitäre Einrichtung, die voraussetzt, was Schule eigentlich lehren sollte, und die nur darum funktioniert, weil sie alle, die den "Stallgeruch" des Bildungsbürgertums nicht mitbringen, exkludiert und an andere Institutionen verweist. Der "Gymnasiale Habitus" besteht nach Jüngermann aus einem Set von zehn Hauptkomponenten, von denen der Logozentrismus - also der einseitige Bezug auf sprachliches Lernen - sowie der Zwang zur zweiten Fremdsprache die wichtigsten sind.
Jüngermann diskutiert dann die Funktionalität des Zwei-Säulen-Modells, wie es als Übergangsmodell zu einer Schule für Alle z.B. von der SPD in Hamburg propagiert wird. Sein Urteil: Mogelpackung. Keine Station auf dem Weg zur Gemeinschaftsschule. Aber immerhin weniger scharfe Selektion als das bestehende fünfgliedrige Schulwesen und darum vielleicht sozial verträglicher.

Nebenbei erfährt man in einem Exkurs, daß das wichtigste PISA-Ergebnis im deutschen Bericht über die PISA-Studie unterschlagen wurde: der unabweisbare Zusammenhang des hoch selektiven Schulsystems mit den schwachen Leistungen im nationalen Durchschnitt:

"Der vom deutschen PISA-Konsortium herausgegebene 'Bericht PISA 2000' (Baumert 2001, der von der deutschen Öffentlichkeit leider bis heute als deutsche Fassung des internationalen PISA-Report (OECD 2001) (miß-)verstanden wird, unterscheidet sich ausgerechnet in der für Deutschland zentralen Frage der Rolle des gegliederten Schulwesens deutlich von den Aussagen des internationalen PISA-Report (OECD 2001) (dessen deutsche Übersetzung erst viel später als der Bericht des Deutschen PISA-Konsortiums im Buchhandel erhältlich war.
Der
internationale PISA-Report stellt in einer für einen wissenschaftlichen Bericht bemerkenswert klaren Form ausdrücklich einen deutlichen Zusammenhang her zwischen der gegliederten deutschen Schulstruktur der Sekundarstufe I und der verheerenden sozialen Ungerechtigkeit des deutschen Schulwesens (OECD 2001, Abbildung und Text S. 237ff; S. 255) Es wird aufgezeigt und formuliert, daß die ChancenUNgleichheit in Deutschland weniger auf das soziale Umfeld in der Familie des einzelnen Schülers an sich als vielmehr auf die Tatsache des frühen Ausgliederns hinein in 'die kombinierte Wirkung des sozioökonomischen Hintergrunds der Gesamtheit der Schülerschaft einer Schule' zurückzuführen ist. Daß also die Ungleichheit durch das gegliederte Schulwesen zum überwiegenden Teil überhaupt erst geschaffen - mindestens aber entscheidend verstärkt wird. Diese Aussage wird im internationalen PISA-Report 2000 ausdrücklich zu einer der wichtigsten des ganzen Berichts erklärt.
Im
Deutschen 'Bericht PISA 2000' (Baumert 2001) hingegen - und in den öffentlichen Stellungnahmen der Mitglieder des Deutschen PISA-Konsortiums (...) und des PISA-Beirats der KMK (...) wurden diese Aussagen des internationalen Report PISA 2000 (OECD 2001) schlicht unterschlagen, und zwar ohne auf die Tatsache der gezielten Auslassungen in angemessener Form aufmerksam zu machen. Dass man diese aber durchaus zur Kenntnis genommen hatte, ihnen sogar ein großes Gewicht zugemessen hatte, wird indirekt dadurch belegt, dass im
Deutschen 'Bericht PISA 2000' gleich an mehreren Stellen eine breite inhaltliche Gegenargumentation in Stellung gebracht wird (Baumert 2001, u.a. S. 410f + 466f), allerdings ohne erkennbaren Hinweis auf den Bezugspunkt."

Trau schau wem!

Dienstag, 19. Dezember 2006

Die Werteerzieher

Und warum gibt es so viele entweder burnout-geschädigte oder zynische, kinderfeindliche, wenigstens resigniert aufs Ende des Tages- und des Lebensdienstes wartende Lehrer? Lehrer, die häufig ursprünglich ihre Arbeit begonnen hatten mit Enthusiasmus und Freude und mit dem Bedürfnis, es besser zu machen als die Lehrer in ihrer eigenen Schülerzeit?

Bei Herrn Rau im Lehrerzimmer erfährt man den Bericht eines gesunden Lehrers, der allen Strapazen standhält: "Wie ich mir meine Arbeitskraft erhalte" ist eine Liste von Eigenschaften, Verhaltensweisen und Rahmenbedingungen, die ein Lehrer braucht, um psychisch gesund durchs Arbeitsleben zu kommen.
Und über Herrn Rau fand ich auch den Link zu einem ZEIT-Interview über Lehrergesundheit mit dem Psychologen Uwe Schaarschmidt:

"Die größte deutsche Studie zur Lehrergesundheit zeigt, dass Pädagogen seelisch stärker belastet sind als Ärzte oder Polizisten. Helfen würden mehr Kollegialität und Selbstbestimmung."

"Lehrer (üben)– was ihre seelischen Belastungen angeht – einen der anstrengendsten Berufe aus. "

"Der Schulalltag ist in ein Korsett von Reglementierungen und Bevormundungen geschnürt, wie sie in anderen akademischen Berufen kaum vorstellbar sind. Diese Art der Fremdbestimmung macht es Lehrern schwer, auch längerfristig Ziele zu setzen und zu verfolgen – eine wesentliche Bedingung psychischer Gesundheit im Berufsleben".


Sich die Fähigkeiten, die Herr Rau hat, anzueigenen, seine privaten Lebensbedingungen so zu gestalten, wie er ("Erst mal habe ich einen Partner, der mir viel Zeit lässt und bei dem ich mich ausheulen kann: Frau Rau, die nicht so heißt."), ist ja schon mal gut zum eigenen Überleben. Aber: Für die nötige radikale Schulentwicklung wird es nicht mehr reichen, sich individuelll selbst zu helfen. Und wenn man keine "Frau Rau" hat?
Also: Wenn sich die Schulen zu Orten des hoch motivierten frohen Lernens verwandeln sollen, dann muß man wohl den Lehrern die Gelegenheit geben, ihren Arbeitsplatz - ihr Tätigkeitssystem - gemeinsam so umzugestalten, daß sie selbst wieder Freude und Sinn in ihrer Arbeit finden können.

Werteerziehung

Respekt als Grundprinzip fordert der Kommentar von Christian Füller zum Taz-Interview mit Wilhelm Heitmeyer. Heitmeyer sieht einen Zusammenhang zwischen Schulsystem und Fremdenfeindlichkeit."Demokratieentleerung" ist seine Gesellschaftsdiagnose. Auf die Frage, ob er etwas von Wertevermittlung in der Schule hält, hat Heitmeyer ein klares Nein:
"Wenn ich höre, dass wir Werte im Schulunterricht behandeln sollen, werde ich unruhig ... Das ist ein Selbstbetrug, der nur der Gewissensberuhigung dient. Wer in der Schule Werte lehren will, hat schon verloren, denn diese proklamierten Werte stimmen mit den prämierten Werten, wie Durchsetzungsvermögen, nicht überein. Die Erfahrungen der Jugendlichen sind doch völlig anders. Dagegen kommt Werteunterricht nicht an. Die Jugendlichen haben diese Heuchelei längst durchschaut."
Ganz richtig: Werte oder Normen –Einstellungen, Haltungen, die sich in einem bestimmten gesellschaftlich erwünschten Verhalten ausdrücken, lassen sich nicht durch Belehrung und kognitiven Unterricht in den Schülern "herstellen". Vor allem dann nicht, wenn die Schüler ständig die Erfahrung machen, dass diese Werte – Solidarität, Mitmenschlichkeit, Akzeptanz, Toleranz, Respekt, freie Meinungsäußerung, usw. – offensichtlich nicht für alle gelten: Davon, daß in der Gesellschaft "draußen" – außerhalb des angeblichen "Schonraums Schule" die Fetzen fliegen und Hauen und Stechen ist, mithin also die Werte und Normen offenbar auch in der Erwachsenenwelt nicht eingehalten werden – soll hier gar nicht die Rede sein. Ich beschränke mich auf mein Tätigkeitssystem: Schule. Und ich spreche von einer guten Schule. Vom Gymnasium. Nicht vom dekompensierten System, von "Rütli", "Emsdetten" oder "Erfurt". Sondern vom funktionierenden System, von einem Gymnasium mit einem guten Ruf. Sogar von einem Gymnasium, das als "schülerfreundlich" im Stadtteil gilt.

Eine ganz normale Begebenheit in eben dieser Schule:

Große Pause. Ein Kollege ist mit mir zusammen im Lehrerzimmer. Geschrei im Flur. Es rumpelt mächtig an die Tür. Der Kollege bekommt eine Zornesfalte über der Nase und knurrt, öffnet die Tür und herrscht den davor stehenden Fünftklässler an: "Kannst Du nicht manierlich klopfen? Noch mal versuchen!" und wirft die Tür vor der Nase des Schülers wieder zu. Erneut großes Geschrei und Poltern an der Tür. Jetzt ist der Lehrer wirklich erbost. So eine Unverschämtheit! Er stürmt zur Tür, reißt sie auf ... und behende huscht eben jener Fünftklässler herein, schaut sich suchend um und rennt dann unter einen Lehrertisch, wo er sich hinkauert. Der Kollege weiß gar nicht, wohin mit seiner Wut: "Was fällt Dir ein, Du hast doch hier gar nichts zu suchen. Das ist doch kein Spielplatz hier!" schreit er und versucht, den Schüler unter dem Tisch hervor zu zerren. Ich sage: "Moment. Langsam. Das ist wohl etwas anderes. Frag doch erst mal, was der Schüler hat. Da stimmt doch was nicht!" Aber der Kollege ist von seiner "Erziehungsberechtigung" so überzeugt, einer Berechtigung, die nicht fragen muß, weil sie weiß, daß Regeln übertreten wurden, und weil es nicht anders sein kann, als daß der Schüler im Unrecht ist. Ich muß ernsthaft mit ihm streiten, um den Schüler im Lehrerzimmer behalten und fragen zu können, was denn los sei. Erst jetzt kommt "man" überhaupt dazu, den Schüler wahrzunehmen: Dieser macht einen gehetzten und verängstigten Eindruck, jetzt mischt sich allerdings Erleichterung hinzu, weil er hier bleiben darf. Und jetzt darf er sprechen. Und jetzt stellt sich heraus, daß er von älteren Schülern verfolgt wurde und in seiner panischen Angst versucht hat, sich ins Lehrerzimmer zu flüchten und dort Hilfe zu holen.

Eine ganz normale Schulgeschichte also. Nichts Aufregendes also. Doch! Aufregen muß man sich! Gerade darüber, daß es eine so normale Geschichte ist!
Welche Werte hat der Schüler in dieser Geschichte wohl gelernt? Daß die Schwachen zu schützen sind, daß Solidarität und Mitgefühl wichtig sind, daß Achtung und Respekt einem jeden zustehen? Wohl kaum.

In der Schule bedeutet Respekt fast immer einseitig das Respektieren von Erwachsenen-Autoritäten. Respektvoller Umgang mit Schülern? "Die sollen erst mal lernen ... (anständig zu grüßen, pünktlich zu sein, ordentlich mit ihren Sachen umzugehen, ihre Leistung zu erbringen...)" In der Schule gilt: Respekt und Akzeptanz kann man sich nur mit Anpassung und "Leistung" verdienen. Sie stehen dem Schüler nicht von vorneherein zu, dem Lehrer als Erwachsenem jedoch generell und qua Amtsautorität sowieso. Dieser kann sie auch kaum verlieren und muß sich wirklich einiges an Schweinereien in Folge "leisten", um sich offizielle Abmahnung zu "verdienen". Den wirklichen Respekt der Schüler kann der Lehrer allerdings schnell verlieren und leicht gewinnen. Denn erstens sind Schüler sensibel und klug und lassen sich nicht einfach hinters Licht führen, und zweitens sind sie zum Glück nicht nachtragend.

Im Konfliktfall mit einem Lehrer ist auch der schon mühsam erarbeitete und verdiente Respekt, den ein Schüler sich erworben hat, wieder hin, denn es gilt: Der Schüler hat im Zweifelsfall immer Unrecht. Immer noch gelten Normen und Systemregeln in der Schule, in denen zumindest implizit die Denkfigur enthalten ist, dass ein Mensch ein Erwachsener sei. Kinder müssten erst noch Menschen werden. Dazu müssten sie – wild und unzivilisiert, wie sie nun einmal als halbe Tiere sind - zur Anpassung an die herrschenden menschlichen Regeln, Normen und Werte gezwungen werden. Triebunterdrückung, Schliff, Brechung des Eigensinns ... Welche Werte kann man damit wohl "vermitteln"? Im Systemblick der Schule, der sich als Blick des Lehrers auf den Schüler konkretisiert, hat Erziehung auch heute noch dasselbe Menschenbild wie im Kaiserreich – auch wenn nicht mehr geschlagen wird: Demütigung, Mißachtung, Verachtung gehören immer noch zum System. Sie sind zwar nicht mehr explizite Erziehungsmethoden, denn das Selbstverständnis ist ein anderes geworden. Aber darum fallen sie denjenigen, die sie praktizieren, den Lehrern, überhaupt nicht auf. Weit von sich weisen sie jeden Vorwurf der Ungerechtigkeit, der Demütigung, der Mißachtung. In Wirklichkeit sind die Lehrer in der Schule jedoch pausenlos angehalten, ungerecht zu urteilen und zu handeln, zu demütigen und zu mißachten. Sie sind dazu ausgebildet worden und sind es gewohnt, so zu handeln ohne sich selbst so zu sehen.

In manchem Lehrerdasein müssen pro Woche Hunderte von Schülern in zig Klassen zu je 25-30 Individuen zusammengefaßt im Kollektiv und im Einzelnen belehrt, ermahnt, erzogen, korrigiert, beurteilt, bestraft, kontrolliert, zensiert werden. Natürlich sollten sie auch ermuntert, amüsiert, erfreut und gelobt werden. Aber dazu ist meist keine Zeit mehr. Denn das System fordert nur die andere Seite ein. "Warum keine Hausaufgaben?" schrieb der Direktor in mein Unterrichtsbuch, das er zur Kontrolle studiert hatte. Und: "Ihr Zensurenschnitt ist zu gut, er weicht von denen der Parallelklassen ab", sagte er auf der Konferenz. Nie habe ich die Anweisung gehört, freundlicher mit den Schülern zu sein, gnädiger oder nachgiebiger. Wenn Schüler einen Lehrer als ungewöhnlich streng oder als ungewöhnlich ungerecht erleben, dann müssen sie kämpfen mit allen Mitteln, damit sie überhaupt gehört und ernst genommen werden. Denn das System reagiert nicht von selbst auf solche Abweichungen. Es dauert meist viele Wochen, in denen Schülervertreter, Elternvertreter, ganze Schulklassen mit Unterstützung der Eltern und unter Einbeziehung des Vertrauenslehrers und gar des Direktors einen solchen Lehrer dazu bringen, seine Abweichung von der geltenden Ungerechtigkeits- oder Strengenorm einzusehen und etwa Noten nach oben zu korrigieren. Nein – letzteres ist unmöglich. Auch eine förmliche Entschuldigung – womöglich öffentlich – eines Lehrers an einen ungerecht behandelten Schüler ist eher nicht zu erwarten. Es würde das System untergraben. Die Schüler müssen sich also damit zufrieden geben, daß erst in der nächsten Klassenarbeit weniger streng bewertet wird, und der ungerecht behandelte Schüler muß froh sein, wenn die Ungerechtigkeit zähneknirschend zugegeben und wortlos rückgängig gemacht wird. Und die Schüler geben sich damit zufrieden. Schüler sind überhaupt leicht zufrieden zu stellen, denn sie erwarten gar keine Wunder. Sie sind eigentlich unglaublich systemkonform. Sie sind überhaupt immer eher defensiv eingestellt und kämpfen überhaupt nur im Notfall, wo es gar zu grob daneben gegangen ist. Aber genau da lauert die Gefahr: Wenn Schüler abwinken und sagen: "Mit dem Lehrer reden? Das hat überhaupt keinen Zweck!" Und sich dann mit einer als zutiefst ungerecht empfundenen Bewertung "zufrieden" geben.

Mittwoch, 29. November 2006

Sinnmaximierung statt Profitmaximierung

In der taz vom 27.11.06 ein doppelseitiges Interview mit Götz Werner, dem Erfinder des "Bedingungslosen Grundeinkommens". Die meisten Politiker halten ihn für einen Spinner - das ist normal. Denn alle Innovators werden von der Majority zunächst für Spinner gehalten. Wir werden auf diese notwendigen Innovation also leider warten müssen, bis auch die Late Majority endlich überzeugt sein wird.
Dabei sieht der Mann vollkommen klar und ist viel weniger ein Spinner als all die Spinner in der Politik, die immer noch wider alle Evidenz behaupten, in Produktion und Dienstleistung wären noch neue Arbeitsplätze zu schaffen. Diese verhalten sich nach wie vor nach dem Motto: Leute, freßt Scheiße - Millionen Fliegen können nicht irren!

Götz Werners Befund: Erwerbsarbeitsplätze verschwinden rapide. Das ist nicht aufzuhalten, denn der Zweck ökonomischen/technologischen Fortschritts besteht ja nun gerade darin, mit immer weniger Einsatz von Arbeitskraft immer mehr zu produzieren.

"Wir haben kein Problem mit der Arbeitslosigkeit. Wir haben ein kulturelles Problem. Zum ersten Mal nach über 5.000 Jahren Menschheitsgeschichte leben wir im Überfluss. Aber wir kommen mit dieser neuen Wirklichkeit nicht klar. Wir schaffen es nicht, dass alle Menschen davon profitieren und daran teilhaben. Die Arbeitslosen haben wir nur, weil wir den Begriff der Arbeitslosigkeit verwenden. Die meisten so genannten Arbeitslosen haben ja Arbeit, sie liegen nicht den ganzen Tag auf der Couch und gucken Pro 7. Sie sind beschäftigt, in der Familie, in der sozialen Arbeit, im Sportverein. Sie tun wertvolle Dinge. Wenn sich jemand um seine Kinder kümmert, dann ist er für die Gesellschaft doch viel wertvoller, als wenn er in einer Fabrik Deckel auf die Flaschen dreht."

Völlig zurecht verlangt Werner die Entkopplung von Arbeit und Existenzsicherung. Die Umsteuerung von der Besteuerung der Einkommen zur Besteuerung des Konsums ist das Mittel dieser Entkopplung.

"Müntefering ist ein paar hundert Jahre zurückgeblieben. Er lebt noch in der Selbstversorgungsgesellschaft, als alle gegen den Mangel gewirtschaftet haben. Damals galt: Wer seinen Acker nicht bebaute und sein Feld nicht bestellte, der war selbst daran schuld, wenn er nichts zu essen hatte. Jetzt leben wir in der Fremdversorgungsgesellschaft. Ich kann gar nicht für mich allein arbeiten. Immer wenn ich arbeite, arbeite ich für jemand anderen. Ich brauche also ein Einkommen, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.
Ich sage: Wir brauchen kein Recht auf Arbeit, jedenfalls nicht auf weisungsgebundene, sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeit. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen ein Recht auf Einkommen. Auf ein bedingungsloses Grundeinkommen"
,

das uns zur Teilhabe an der Gesellschaft befähigt. Dann wird wirklich, was der Stufe der Produktivkraftentwicklung nach schon möglich ist: Daß des Lebens Sinn nicht mehr darin bestehen muß zu arbeiten, zu produzieren, um die bloße Existenz als solche abzusichern - um zu überleben -, sondern umgekehrt darin, auf der Basis gesicherter Existenz zu arbeiten, um den eigenen Lebenssinn zu entfalten:

"Ich frage die Skeptiker immer zurück: Würden Sie selbst aufhören zu arbeiten? Dann antworten sie: Ich doch nicht, ich arbeite aus Begeisterung. Dass sich die Menschen auf die faule Haut legen würden, nehmen wir nur vom anderen an. Die meisten Menschen tragen seltsamerweise zwei Menschenbilder in sich - eines von sich und eines von den Mitmenschen. In dem ersten, spirituellen Bild ist der Mensch ein mit Vernunft und Freiheit begabtes Wesen. In dem zweiten, materialistischen Bild gleicht der Mensch eher einem Tier, da erscheint er als determiniertes Reizreaktionswesen. Diese Vorstellung spiegelt sich in dem Satz: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen billigen wir jedem den Raum zu, in dem er in eigener Verantwortung die Arbeit ergreift, die er für notwendig und sinnvoll erachtet. Wir werden arbeiten, weil wir einen Sinn darin sehen - nicht, weil wir dazu gezwungen sind. Ist nicht erst das eine freie Gesellschaft, in der jeder Verzicht üben kann? In der jeder die Freiheit hat, Nein sagen zu können zu entwürdigenden Bedingungen? Befreit von ihren Existenzsorgen könnten die Menschen ihre Talente entfalten."


Dann kommt die nächste Skeptikerfrage der Late Majority: Das bedingungslose Grundeinkommen für alle - nur über die Konsumsteuer finanziert: Das rechnet sich doch nicht!
Ich vertraue meinerseits allerdings darauf, daß einer, der zu den 500 reichsten Menschen im Lande gehört, OBWOHL er nicht, wie bei solchen sonst üblich, ein großes Vermögen geerbt hat, bestimmt gut rechnen kann.

Montag, 27. November 2006

Ratloser Anti-Rechtsextremismus

Na klar: Jedes Kind hat gelernt, daß man Probleme und ihre Auswirkungen nicht verbieten kann. Wir lernen es, weil wir in unserer Lebenspraxis wiederholt erfahren, daß unser Aussprechen von Verboten keine Macht über die Realität hat. Der Glaube an die Wirksamkeit von Verboten, die mit politischer Macht ausgesprochen werden, hält sich jedoch zäh. Das Problem der Gewalttätigkeit unter Jugendlichen bis hin zu Amoklauf und Selbstmordattentat möchte man verbieten durch Verbot des vermeintlich schuldigen computer game. Ebenso verfährt die Politik gerne mit dem Problem der zunehmenden Attraktivität des Rechtsextremismus. Symbolpolitik zur Vergangenheits"bewältigung" und aktionistisches Getöse mit Verbotsrufen zur Gegenwarts"bewältigung" sind die beliebtesten Abwehrzauber, an die - zumindest von ihren Erfindern und Akteuren - hartnäckig geglaubt wird, auch wenn sie noch nie geholfen haben.

Inzwischen hat sich eine Teilöffentlichkeit allerdings durchgeschlagen zu der Erkenntnis, daß die politisch-juristischen Zaubermittel nichts taugen. "Ein Verbot hilft nicht", weiß di Lorenzo in der ZEIT vom 23. November. Was aber stattdessen? Das weiß er nicht. "Was aber unzweifelhaft den Extremisten hilft, ist die Tatsache, dass es dem parlamentarischen System in Deutschland zurzeit tatsächlich schwer fällt, Anziehungskraft zu entfalten."
Und dann wird es geheimnisvoll: "Das Bedürfnis nach Führung ist etwas grundlegend anderes als der Ruf nach einem Führer", bietet di Lorenzo als Erklärung für die Wahlabstinenz der Mehrheit der Sachsen-Anhaltiner. Und da endet der Artikel denn auch.

In derselben Ausgabe der ZEIT von Thomas Assheuer "Der Übersehene". Ein Artikel mit derselben Struktur wie der di Lorenzos zum Rechtsextremismus: Irgendwie weiß man, daß nicht das "Killerspiel" allein die Ursache für das Selbstmordattentat in Emsdetten gewesen sein kann. Und irgendwie hat es etwas mit "fehlender Anerkennung" zu tun, aber die Erkenntnis bleibt vage und wird nicht weiter verfolgt.

Es scheint, als sei hilfloses Stochern im Nebel und Ratlosigkeit gegenüber der Zunahme von Gewalt und der anwachsenden Attraktivität rechtsextremistischer Ideologie der Preis dafür, wenn Symptome nicht als Reaktionen auf eine Krankheit verstanden, sondern mit der Krankheit selbst verwechselt werden. Anders: Sowohl die zunehmenden Psychiatrisierungen, Selbstmorde und Gewaltexzesse von Schülern als auch der Zulauf zu antidemokratischen ideologischen "Lösungsangeboten" sind Folgen und Symptome derselben "Krankheit" unserer Gesellschaft:
Sie besteht darin, daß weder die Politik-, noch die Erziehungssysteme fähig sind, die Notwendigkeit einer fundamentalen Veränderung aller gesellschaftlichen Systeme infolge der weltweiten epochemachenden Umwälzung durch die Informations- und Kommunikationstechnologien zu begreifen. Und so werden die Menschen von Politik, Medien und Schule weiterhin beschwichtigt, es wird ihnen immer weiter eingeredet, was sie selbst aufgrund ihrer eigenen konkreten Erfahrungen mit der Realität zurecht schon nicht mehr glauben:
Daß es unter Beibehaltung der gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen möglich wäre, die Zukunft zu meistern. Daß es möglich wäre, alles beim Alten zu lassen und sich trotzdem wesentlich zu verändern. Daß es möglich wäre, neue Arbeitsplätze zu schaffen, obwohl es mit Händen zu greifen ist, daß die Zeit der Produktionserwerbsarbeit unwiderruflich vorbei ist. Die Menschen haben dann entweder die Möglichkeit, an ihrer eigenen Realitätswahrnehmung zu zweifeln. Dann können sie noch eine Weile zur Wahl gehen und mal auf diese, mal auf jene Partei hoffen. Oder sie gehen gleich in die Psychiatrie, weil sie am Widerspruch mit sich und der Welt verzweifeln. Oder sie erschießen sich und andere. Oder sie treten einer Sekte bei und finden die Erklärung der Widersprüche und den Sinn ihres Lebens in religiöser (Aber-)Glaubenspraxis. Oder:

Sie klammern sich an die einzige politische Ideologie, die IMMERHIN die Problemlagen als radikale Probleme benennt - wie verquast und falsch auch immer - ,die mit den bisherigen Mitteln nicht behoben werden können, und die dazu radikale Lösungen anbietet - wie schlicht, "populistisch", antidemokratisch und falsch auch immer. Die Menschen werden radikal, weil sie radikale Folgen eines radikalen Umwälzungsprozesses zu spüren bekommen. Statt radikal könnte man auch extrem sagen. Also: Solange die politischen und Erziehungssysteme nicht selbst radikal und extrem werden, und zwar radikal in der Analyse der Probleme, radikal offen in der Kommunikation der Probleme und in Richtung extremer Partizipation aller Menschen an den Entscheidungen über ihre Angelegenheiten - solange werden die Menschen diese notwendige Radikalität eben da suchen, wo sie angeboten wird: Bei der NPD, in Neonazi-Kameradschaften, in extremen gewalttätigen Verhaltensweisen oder in extrem obskuren religiösen Ideologien.

Nicht diese sind "das Problem". Die gesellschaftlichen Probleme sind das Problem.

Dienstag, 21. November 2006

Sinnleere

Jetzt wird wieder einmal mit der Verbotsdiskussion von "Killerspielen", v.a. Counterstrike, Politik gemacht. Die Spiele sind es, die die Jugendlichen zu Amokläufern machen, wird gesagt. Isoliert inmitten des Berichts über die Internetaktivitäten des Schülers findet man im Artikel der Netzeitung über den Amokläufer von Emsdetten die Aussage des Oberstaatsanwalts über das Motiv des Schülers: Er habe unter seiner "Sinnleere" gelitten. Kein Kommentar dazu im Artikel, von einem Kommentar seitens der Politik ganz zu schweigen.
Dabei liegt hier - im Motiv und nicht im Medium - der Anknüpfungspunkt zum Handeln - auch für die Politik.

Erst jetzt entdeckt: Bei mein-parteibuch.de gibt es den vollständigen Abschiedsbrief des Selbstmordattentäters.

Ergänzung 28. 11. 06
Beim Spielverderber findet sich nicht nur eine verständige Interpretation, sondern auch ein interessanter Dialog in den Kommentaren:
>Wie einfach es ist!
Natürlich, die Gesellschaft, die Medien ... alle, alle anderen haben Schuld.
Nur die Wirrköpfe, die sind die Guten, sie haben unser Verständnis, weil sie nicht klar kommen mit unser komplexen, komplizierten Wirklichkeit. Wir würden ihnen so gerne eine perfekte Welt geben und tun alles, um einfache Antworten, mit glasklaren Schuldzuweisungen hinzubekommen, damit erträglich scheint, was wir nicht ertragen können: Uns selbst!<
, meint eine Kommentatorin
Darauf Spielverderber:
>Sprechen Sie, Checkbox, von sich? - Ich jedenfalls kann mich seit einem halben Jahrhundert sehr gut ertragen. Hingegen verabscheue ich vieles von dem, was auch Bastian B. verabscheut hat; z.B. KuschelpädagogInnen & KuschelpsychologInnen, die nicht wahrhaben wollen, was in unserer Welt vor sich geht, und die Botschaften der Jugendlichen seit 30 Jahren ignorieren. Die nämlich brauchen keine windelweichen Erwachsenen, von denen sie mit albernem Pop & Katzengeschichten abgespeist werden, sondern integre Persönlichkeiten, an denen sie ihre Kräfte (auch die geistigen) messen können.
Vergleichen Sie mal all das, was Bastian B. im Netz hinterlassen hat, mit dem Fänger im Roggen, neueren Songs wie Youth Of The Nation von P.O.D. oder auch alten deutschen Schulgeschichten wie dem Hanno-Kapitel der Buddenbrooks, Unterm Rad von Hesse, dem Schüler Gerber von Friedrich Torberg, Jugend ohne Gott von Horvath. Wenn Sie das getan haben, können wir uns gern wieder sprechen.<

Montag, 20. November 2006

Medien, Monster und die Beherrschung der Zukunft

Beim Fuckup-Weblog fand ich heute den höchst interessanten Hinweis auf Susanne Keunekes Vorlesungssfolien "Angstmedien - Medienängste". Wie Michael Giesecke periodisiert auch sie überzeugend die Geschichte der Menschheit als Mediengeschichte. Der Fokus ihrer Untersuchung liegt dabei auf dem Auffinden der Ursachen für die zu Beginn jeder Epoche - eingeleitet durch eine neue Medientechnologie - stattfindende Verteufelung des neuen Mediums. Von der Erfindung der Schrift in der Antike, über den Buchdruck, bis hin zur Erfindung von Kino und Comic findet sie dabei immer wieder dasselbe Muster von Ablehnung und Kampf gegen das neue Medium bis zu seiner gesellschaftlichen Implementierung und Institutionalisierung, mit der das neue Medium adaptiert und akzeptiert ist.
Überzeugend zeigt sie an allen jeweils neuen Medien die Übereinstimmung in den offiziellen Begründungen der Abwehr:
  • Behauptung einer körperlichen Mißbildung durch das neue Medium
  • Behauptung der Entstehung von Aggressivität und Gewalt durch das neue Medium
  • Behauptung der Asozialisation, also der mißlingenden sozialen Anpassung der Nutzer des neuen Mediums
  • Behauptung, das neue Medium mache süchtig und führe zum Verlust der Kontrolle über das eigene Leben
  • Behauptung, das neue Medium würde vom "echten" Leben abhalten
Dazu präsentiert sie historische Zitate, in denen auch deutlich wird, daß das jeweils etablierte, ehemals neue Medium seine nachträglichen kulturellen Weihen und eine Verklärung erhält, indem es vom neuesten "gefährlichen" Medium als gutes Medium abgegrenzt wird, dessen Werte durch das neueste Medium verloren gingen. War das Buch noch bis ins 19. Jh. hinein, ja sogar bis zu Beginn des 20. Jh. zumindest auf dem Land etwas, was vom "eigentlichen" Leben abhielt, die Augen verdarb und Weib und Kind für die Übernahme der vorgesehenen sozialen Rolle "verdarb", so finden wir heute im digitalen Zeitalter nicht nur alle diese Ressentiments gegen Computer und Internet wieder, sondern eben auch die "Verklärung" des (Buch-)lesens.

Im online-Seminar der Friedrich-Naumann-Stiftung zum Thema Hirnforschung, was sagt sie uns für das Lernen? tobt zur Zeit der Bär über die Frage, wann wir unsere Kinder überhaupt vor den Computer setzen dürfen, damit sie nicht biologischen, seelischen und sozialen Schaden nehmen. Hirnforscher, Pädagogen, Mütter und Väter sorgen sich um das Wohl ihrer Kinder angesichts des Monsters Computer. Wissenschaftliche Hauptreferenz ist der Neurobiologe Manfred Spitzer, der erst kürzlich in Psychologie Heute mahnte: "Kauft den Kindern keinen Computer!"

Susanne Keuneke findet als gesellschaftliche Ursache für den Kampf gegen das jeweils neue Medium die Angst der jeweiligen Obrigkeit vor Macht- und Privilegienverlust. Da ist sicher etwas dran.
Welche Privilegien aber hat das Lehrer- oder Neurologen-Individuum durch die Computer literacy der Kinder und Jugendlichen zu verlieren und muß darum "das Buch" - vergessen ist der Kampf gegen die "Schundliteratur" - als Medium gegen den Computer verteidigen?
Was ich hinter der Diskussion mit Pädagogen-Kollegen, nicht zuletzt mit "Medienpädagogen" um die 50 und älter erfahre, ist, daß sie, die in der Gutenberg-Galaxis (McLuhan) sozialisiert wurden, ihre eigenen Ängste vor dem Neuen Medium auf die nächste Generation projizieren, wie ehedem wohl der Lehrer in der Neuzeit seine eigene Angst vor dem erweiterten Horizont, der sich ihm mit dem Buch eröffnete und unbeherrschbar erschien, auf die damaligen Schüler projizierte und darum deren Lektüre unter seine Kontrolle zu bringen trachtete.

Es hilft nichts: Wir "Alten" müssen erkennen, daß wir bestenfalls nur "Digital Immigrants" sind und die Eroberung des neuen Leitmediums durch die "Digital Natives" (Marc Prensky), die Generation der unter 20-Jährigen, nicht verhindern, ja noch nicht einmal kontrollieren können. Wir dürfen es auch nicht, wollen wir die Kinder nicht an der Ausbildung ihrer Zukunftsfähigkeit behindern. Denn deren Ausbildung der Fähigkeit zur Beherrschung des neuen Mediums ist umgekehrt proportional unserer neurotischen Kontrollversuche.
Aber ebenso, wie man seinem Kind nicht ein Bilderbuch vor die Füße wirft - erstes Medium zur Erlernung von Zeichen, die nicht die Realität sind, die sie bezeichnen, sondern auf diese verweisen - sondern es mit ihm zusammen anschaut und "bespricht": Was außer der eigenen Angst vor dem Neuen Medium hindert uns daran, zusammen mit unseren Kindern Computer und Internet zu erkunden und beherrschen zu lernen?
Bild: Ivan Montero / fotolia

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